Warum?


„Warum?", wird er gefragt.

Warum er das getan hatte, weiß er nicht mehr. Er weiß auch nicht mehr, warum er überhaupt in die Stadt gefahren war. Er weiß so ziemlich gar nichts mehr. Er antwortet nicht. Er schweigt. Drei Augenpaare sehen ihn an. Er weiß nicht, warum. Er hat doch gar nichts getan. Und genau das ist das Problem.


Eine Dreiviertelstunde Bahnfahrt in die Stadt. Und wozu das Ganze? Er wusste es nicht. Warum setzte er sich an einem außergewöhnlich heißen Sommertag in eine überfüllte und stickige Bahn? Er wusste es nicht. Er war einer der wenigen Glücklichen, die sich einen Sitzplatz ergattert hatten. Alles, was er jedoch sehen konnte, waren Sonnenstrahlen, die ihn blendeten, und Schmuck, der in den Sonnenstrahlen funkelte. Der Schmuck gehörte zu einer Frau mittleren Alters, die sehr darum bemüht war, nicht bei jeder Kurve auf ihn und seinen Sitznachbarn zu fallen.

Menschen stiegen aus, Menschen stiegen ein. Keiner von ihnen hatte ein Gesicht. Nicht für ihn. Er konnte nur T-Shirts und Hemden, die vom Schweiß an den Rücken der Menschen kleben, sehen. Die Frau mit dem Schmuck hatte sich mittlerweile auf den Sitzplatz neben ihm gesetzt. Vor ihm stand nun ein Mann. Dem Arm, der sehr nahe vor seinem Gesicht schlenkerte, liefen langsam die Schweißtropfen hinunter.

Es waren die Details, auf die er achtete, nicht das Offensichtliche. Er sah diese Schweißtropfen. Er sah die Augenfarbe des Hundes, der nun auf dem Schoß der Frau neben ihm saß. Er sah, dass auf dem Werbeplakat, das an der Fensterscheibe klebte, ein Rechtschreibfehler war, und wenn mehr Platz in der Bahn gewesen wäre, hätte er einen Stift hervorgeholt und ihn verbessert. Er sah, dass auf dem Schnuller des kleinen Mädchens, das auf den Schultern ihres Vaters saß, ein Name, vermutlich ihr Name stand. Er sah und hörte aber nicht, dass zwei Männer sich erregt unterhielten. Es war schon keine Unterhaltung mehr, eher eine Diskussion oder ein Streit. Das bekam er nicht mit. Und als er es schließlich tat, war es zu spät.

Die Bahn hielt am nächsten Haltepunkt. Einer der Männer zog an der Kette der Frau, sie riss, die Frau schrie. Schrie sie um Hilfe? Schrie sie einfach nur so, aus Schock? Erwartete sie wirklich, dass ihr jemand helfe? Alle sahen hin und doch sahen alle weg. Es waren ein paar Sekunden, schon waren die Männer weg, durch die Menschenmenge gedrängt, und doch fühlte es sich an wie fünf Minuten.


„Warum? Warum haben Sie ihr nicht geholfen?", fragt einer der Männer, zu denen die drei Augenpaare gehören. Auch er hat eine Menge Schweißtropfen auf der Stirn. Genau wie der Mann in der Bahn. Der Mann in der Bahn. Er hatte auch nicht geholfen.

„Die Anderen haben auch nicht geholfen!", ruft er aus. „Wo sind die? Wieso werden die nicht gefragt?"

„Glauben Sie mir, mein Herr. Die wurden auch gefragt. Und was, meinen Sie, haben sie geantwortet?"

Er schüttelt ratlos den Kopf.

„Das Gleiche wie Sie. ¸Die Anderen haben auch nicht geholfen'"





Zum Abschluss des Schuljahrs haben wir im Deutschunterricht die Aufgabe bekommen, eine eigene Kurzgeschichte zu schreiben (Ich habe mich sooooo gefreut, andere weniger). Wir haben keine Vorgaben gehabt, wir sollten uns nur an den Merkmalen einer Kurzgeschichte halten. Habe ich, soweit ich weiß, gemacht. 

Wir sollten auch eine Autorenintention schreiben, die habe ich hier aber weggelassen. Wenn ihr wirklich wissen wollt, was ich mir dabei gedacht habe, sage ich es euch aber. 

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