Zerbrechliches

„Wir haben die Vase gefunden!", schmettert Kirsten aus irgendeinem der oberen Räume. Hören können wir sie vornehmlich deshalb, weil alle Zimmertüren auf die Galerien der Halle hinausgehen, von denen aus die Treppen bis zum Erdgeschoss führen.

„Wartet oben, ich komme gleich!", rufe ich zurück und umwickle Beethovens Lockenpracht sorgfältig mit Katharinas Küchenhandtüchern. „Sobald ich den Ludwig eingepackt hab, hol ich sie!"

„Ich gehe!", tönt es aus dem Musikzimmer herüber. „Du kannst dann auch den Felix, den Robert, Johannes und das Wolferl einwickeln, die Herren sind alle etwas empfindlich gegenüber Nasenstübern."

„Was sind das alles für Männer?", Kirstens helle Stimme klingt verdächtig näher und deutlicher als zuvor, sie scheint jetzt auf dem obersten Treppenabsatz zu stehen. Hoffentlich ohne die Vase, die hole ich lieber selbst herunter. Ihre Frage indes wundert mich nicht, mit klassischer Musik hat Kirsten als Schlagzeugerin nichts am Hut.

Ihr Bruder kennt sich besser aus. „Mendelssohn, Schumann, Brahms und Mozart, du Banausin!"

„Gibt's da keine Frau drunter? Und warum sind die so empfindlich?" Kirsten, die Minifeministin, hat sofort den "Makel" erkannt.

„Die sind aus Gips", informiert Lisette in Richtung nach oben und legt mir Felix und Robert hin. „Und Damen hat's auch dabei, die hab ich aber nicht erkannt."

„Steht unterm Sockel", kläre ich sie auf. Lisette stiefelt zurück ins Musikzimmer. „Eine Anette, eine Fanny und eine Ilse!", ruft sie nach erfolgter Inspektion herüber. Ich grinse vor mich hin. Wie ich Lisette kenne, will sie Rasmus auf die Probe stellen; ich bezweifle nämlich, dass auf den Büsten nur die Vornamen vermerkt sind.

„Droste-Hülshoff, Hensel und Fromm-Michaels!", kommt es prompt von nicht-mehr-ganz-so-weit-oben. Ich staune immer wieder über das Wissen meines Sohnes über klassische Musik.

„Stimmt!", bestätigt Lisette. „Aber ich kenne die Anette als Dichterin. Was hat die mit den Komponisten zu tun?"

„Die hat auch komponiert." Rasmus' Stimme kommt immer näher. Ich werde allmählich nervös. „Ich habe gesagt, ihr sollt warten!"

„Zu spät!" Auf dem Treppenabsatz werden die beiden nun sichtbar. Kirsten trägt eine gut einen halben Meter hohe kobaltblaue Vase mit Goldrand und Blumenzier, Rasmus eine enorme Bonbonniere im gleichen Stil. Beide Kinder bewegen sich sehr langsam, heben kaum die Füße und nehmen auch die Treppenstufen mit äußerster Vorsicht.

„Du liebe Zeit!" Beinahe hätte Anette die spitze Nase und den geflochtenen Dutt oder Fanny den Hutrand verloren; erst im letzten Moment bekommt Lisette die Büsten wieder in den Griff. „Jetzt verstehe ich, warum ihr warten solltet! Andererseits – ihr macht das toll, ihr beiden!" Sie legt die musikalischen Damen auf meinen Handtuchstapeln ab und geht den beiden entgegen. „Das sind ja ausgesucht schöne Stücke! Sowas hätte ich auch gerne!"

„Aha, die Aasgeier streiten sich schon um die Beute!"

Kirsten fährt zusammen, als sie die barsche Bemerkung hört und lässt beinahe die Vase fallen; auch der Deckel der Bonbonniere klappert bedenklich. Aber beide Kinder halten eisern fest und klettern die letzten Stufen hinunter. „Guten Tag, Opa", kommt es dann im Chor.

Mein Vater nickt nur gnädig, steigt über die herumliegenden Handtücher, Tischdeckenstapel und Kartons hinüber und sieht sich missfällig um. „Ein schönes Chaos habt ihr da angerichtet!"

„Wir packen grad alles zusammen", erklärt Lisette. „Das sieht dann halt so aus."

„Ach, das Fräulein Sekretärin ist auch da!", stellt meine Mutter schnippisch fest.

„Guten Tag, Oma", kommt es pflichtbewusst von der Treppe, zur Abwechslung ist es nun ein Canon statt eines Chors. Und diesmal gibt es sogar eine verbale Antwort. „Grüß Gott, Kinderchen! Geht's euch gut? Aber sicher doch, in eurem Alter hat man ja noch keine Sorgen, da spielt man nur."

„Lass das Grüß Gott", knurrt mein Vater. „Nur Proleten sprechen Dialekt!" Mit dem Spruch hat er mir und Paul auch schon jeden bayerischen Anklang ausgetrieben. Ich gewöhne es mir im Waldhort allerdings wieder an und von meinen Kindern höre ich das steife „Guten Tag" auch nur, wenn sie anderen Familienmitgliedern außer Paul begegnen.

„Oh, das wusste ich gar nicht", bemerkt Lisette zuckersüß. „Die Herren aus Hamburg hab ich heute auch so begrüßt und die waren ganz begeistert davon."

„Nun ja, das Niveau einer Sekretärin ...", meine Mutter verschluckt netterweise den Rest. Den wird mein Vater wahrscheinlich heute Abend zu hören bekommen, wenn sie den Tag noch einmal durchhecheln und sich gegenseitig erzählen, wer sich heute mal wieder völlig unmöglich benommen hat.

„Die Vase da darfst du deiner Mutter gönnen", teilt mir mein Vater mit. „Du weißt doch, dass sie schöne Dinge liebt."

Das ist mir bewusst. Katharina umgibt sich aber auch gerne mit ästhetischen Dingen und im Gegensatz zu meiner Mutter mag sie auch weniger teure Objekte.  Einer der Punkte auf der Liste ist eine winzige Amethystdruse, die mich damals kaum zwei Euro gekostet hat – mein ganzes wöchentliches Taschengeld zu dieser Zeit- , aber mein erstes Geschenk für sie war. „Die Vase da bringe ich Katharina ins Heim. Sie hat extra darum gebeten."

„Ach ja? Wann bitte hattest du denn Kontakt mit meiner Mutter?" Mein Vater scheint zu glauben, dass ich Katharina nur in seiner Gegenwart zu begegnen habe. Das war vor zehn Jahren mal so, trifft aber schon lange nicht mehr zu.

„Gestern." Ich stopfe die Vase mit den Damastservietten aus, deren Randspitzen Katharinas Mutter noch gehäkelt hat.

„Du hattest also nichts Besseres zu tun, als deine Großmutter sofort nach ihrem Umzug zu belästigen?"

„Sie hat mich selbst darum gebeten."

„So! Ich hoffe, du hattest genug Anstand, um ohne deine Kinder dort zu erscheinen."

„Nein, und Katharina hat sich gefreut, die beiden zu sehen."

„Meine Mutter ist, was immer man gegen sie sagen mag, jedenfalls eine echte Dame. Sie würde sich nie anmerken lassen, wenn ihr etwas unangenehm ist", belehrt mich mein Vater. „Aber du solltest daran denken, dass man zu ihrer Zeit uneheliche Kinder und unverheiratete Mütter nicht öffentlich machte. Selbst wenn sie dich sehen wollte, war es ihr sicher nicht recht, dass die Kinder sie an deine Schande gemahnen."

„Katharina hat nie verlauten lassen, dass sie die beiden als Schande ansieht", wende ich ein. Mein Vater stimmt mir da zu. „Natürlich nicht. So unfein ist sie nicht, es dir direkt ins Gesicht zu sagen. Aber sie wird sich ihren Teil denken." Er stiefelt auf einen bereits verklebten Karton zu und reißt ihn auf, wobei der Deckel kaputtgeht. „Was habt ihr denn da schon alles eingesackt?"

„Zulassen!" Lisette klopft ihm mit der Klebebandrolle auf die Finger und greift zur Schere. Ich bin nur froh, dass sie die Rolle und nicht die große Schere zuerst zur Hand hatte. „Jetzt darf ich das wieder flicken!"

„Ich darf doch wohl kontrollieren, was du dir aus unserem Familienerbe unter den Nagel reißt!"

„Sie dürfen hier gar nichts! Die Villa samt Inventar gehört Ihnen nicht!" Lisette läßt sich von meinem Vater schon länger nichts mehr bieten. Anfangs war sie Pauls und meiner Wenigkeit wegen noch freundlich zu ihm, bis wir beide ihr erklärt haben, dass sie sich nichts gefallen lassen muss nur auf Rücksicht auf uns.

Meine Mutter kommt aus dem Musikzimmer, welches sie inzwischen inspiziert hat. „Schatz, da steht ja ein wunderschöner alter Flügel drin!"

„Ja, ich weiß. Darauf haben Winald und ich spielen gelernt", knurrt mein Vater.

„Ach, der ist dann sicher schon völlig verstimmt. Aber ich kann ohnehin nicht spielen und du tust es ja auch nicht mehr. Aber er sieht wunderbar aus und wenn man ihn neu lackiert, vielleicht schwarz mit Goldrändern, dann ist er ein herrliches Dekorationsstück. Und man kann so vieles auf ihm abstellen, ohne dass er überladen wirkt."

„Ja, wenn du ihn haben willst ..."

„Bleibt er trotzdem hier", unterbreche ich ihn. Mein Vater blickt mich verblüfft an. „Habe ich etwas anderes verlauten lassen? Natürlich bleibt er hier, in unsere alte Wohnung passt er ja schlecht hinein. Möchtest du den Raum als Musikzimmer weiter bestehen lassen?" Letzteres ist an meine Mutter gerichtet.

„Nein, ich denke, er eignet sich bestens für den Nachmittagstee. Die Bodenfenster erlauben eine großartige Aussicht auf den Garten."

Kirsten zupft mich am Ärmel. „Du hast mir gar nicht gesagt, dass Opa und Oma auch hier einziehen", flüstert sie.

„Das tun sie auch nicht, keine Sorge", raune ich zurück.

Mein Vater ist mit den Gedanken schon wieder woanders. „Sag mal, der Cappuccino draußen, ist das etwa deiner?", erkundigt er sich bei Lisette. Ich schließe daraus, dass die beiden, wenn überhaupt, meine Eltern bisher nur mit Pauls BMW besucht haben. Schade eigentlich, ich hätte zu gerne mal gesehen, wie sich Paul zusammenklappt, um in den für Japaner konstruierten Kleinstwagen zu passen.

„Ja, warum?" Bei jedem anderen hätte Lisette jetzt stolz erzählt, wie sie das Autowrack im Netz ersteigert, monatelang nach Ersatzteilen gesucht und den Wagen bei einer guten Werkstatt herrichten lassen hat. Dass sie meinen Eltern gegenüber wortkarg bleibt, wundert mich allerdings überhaupt nicht.

„Der Wagen wird doch schon lange nicht mehr hergestellt. Das ist ein reines Liebhaberauto." Mein Vater lässt es wie einen Vorwurf klingen. Vermutlich findet er es  nicht gerecht, dass er sich so eine Liebhaberei nicht leisten kann, Lisette aber schon.  Was nicht verwundern sollte; Lisette trägt zwar gute, aber nicht überteuerte Kleidung, fährt nicht fünfmal im Jahr in den Urlaub, raucht nicht und besucht weder Casinos noch Pferderennbahnen.

„Stimmt", bestätigt Lisette gelassen.

„Ich frage mich ja, was dieser Wagen Paul wohl gekostet haben mag", sinniert meine Mutter süffisant.

Wenn sie will, kann Lisette sehr arrogant wirken. „Eine Beule, diverse blaue Flecken auf den Knien und mehrmals eingeschlafene Beine", bescheidet sie meine Eltern kalt. „Seitdem fährt er nicht mehr mit."

„Liebes, ich sprach von Geld", wenn meine Mutter „Liebes" sagt, hört es sich immer nach dem Gegenteil an. „So ganz billig wird der Wagen ja wohl nicht gewesen sein."

„Ich spreche ungern über Geld", sagt Lisette von oben herab. „Aber wenn es Sie so sehr interessiert, ja, es hat einiges gekostet. Bei meinem Gehalt kann ich mir eine derartige Liebhaberei jedoch leisten."

Ich verkneife mir ein Grinsen. Ich weiß nämlich, dass Lisette mehr verdient als mein Vater. Und das nicht wegen Paul; schon das Gehalt, welches sie bei ihrer früheren Arbeitsstelle bezogen hat, lag um einiges höher.

„Ja, wenn man sich den Chef als Liebhaber angelt, sind weitere Liebhabereien wohl locker drin", höhnt mein Vater. Beinahe hätte ich applaudiert; das war der beste Wortwitz, den ich je von ihm gehört habe. Das wiegt aber die Bösartigkeit seiner Aussage nicht auf.

„Keine Ahnung", Lisette zuckt die Achseln. „Da werden Sie sich wohl besser auskennen als ich."

Oha! Scheint's hat ihr Paul nicht verschwiegen, dass meine Mutter vor ihrer Heirat die Schreibkraft meines Vater gewesen ist und wir beide die Heirat verursacht haben. Und sicher auch nicht, dass der Hang meines Vaters zu Schreibkräften nach der Hochzeit nicht nachgelassen hat.

Mein Vater wird tatsächlich rot. Aber nicht vor Scham. „Sowas muss ich mir von einer bloßen Sekretärin nicht bieten ..."

„Geschäftsassistentin", unterbricht Lisette scharf.

„Hä?" Mein Vater stiert sie nur an, völlig aus dem Konzept gebracht von ihrem Einwand.

„Ich bin Geschäftsassistentin. Sekretärinnen habe ich selbst." Das ist eine erneute Spitze gegen meinen Vater, der als Buchhalter nur eine einfache Schreibkraft zur Verfügung hat.

Meine Mutter zieht die sorgsam aufgemalten Brauen hoch. „Die Assistenz, die du Paul leistest, kann ich mir lebhaft vorstellen! Da wirst du noch ganz andere Körperteile einsetzen als deine Hände. Ich schätze, dass du Paul in der Mittagspause einen ganz besonderen Service zukommen lässt."

„Sie sollten nicht immer so schlecht von ihrem Sohn denken", kommt es prompt zurück. „Und wenn doch, dann zumindest nicht so von ihm reden." Und bevor sich meine Mutter fassen kann: „Paul verlangt viel von seinen Leuten, aber er respektiert ihre Freizeit. Er würde niemals jemanden in der Mittagspause arbeiten lassen."

Meiner Mutter hat es nun völlig die Sprache verschlagen. Genauer ausführen, was sie unter „besonderem Service" versteht, kann sie jetzt nicht mehr, ohne sich selbst bloßzustellen. Dafür legt mein Vater wieder los: „Was hast du mit den Dingen vor, die du aus der Villa mitnimmst, Katja?"

„Das habe ich schon gesagt. Ich suche zusammen, was Katharina im Heim haben möchte."

„Und für dich nimmst du nichts mit? Soll ich das glauben? Ich weiß doch, wie scharf du immer auf die Römer in der Vitrine warst."

Katharinas Sammlung von verschiedenen, handgeschliffenen Bleikristallgläsern in Regenbogenfarben habe ich als Kind schon aus der Ferne bewundert. „Die bleiben auch hier. Ich freue mich schon drauf, sie benutzen zu können."

„Ich werde sie bestimmt nicht herausholen, wenn ihr uns besuchen kommt", protestiert meine Mutter. "Die Kinder lassen sie doch bestimmt fallen."

„Nein, das Herausnehmen übernehme ich schon selbst", gebe ich zurück und hoffe, wenigstens halb so herablassend zu wirken wie Lisette vorhin. „Und nicht unbedingt dann, wenn ihr zufällig mal vorbeikommt." So, das sollten meine Eltern jetzt verstanden haben.

„Du bildest dir doch nicht ein, dass du hier mit einziehen darfst", warnt mich mein Vater. „Ich kann Kinderlärm nicht vertragen. Ein Nachmittag hin und wieder ist ja in Ordnung, aber dauernd – nein, danke. Ich bin froh, dass du und Paul schon lange erwachsen seid."

„Dann ist es ja gut, dass ihr nicht hier wohnt." Mein Vater hat es anscheinend immer noch nicht begriffen.

„NOCH nicht", korrigiert er. Manchmal ist mein Vater reichlich begriffsstutzig. Das ist mir nichts Neues. Was er nicht hören will, überhört er nonchalant.

„NIE!" Das eine Wort knallt durch den Raum wie eine Peitsche. Das von der noch immer offenen Tür hereinfallende Licht hat sich schlagartig verdunkelt und der leichte Luftzug ist versiegt. Was alles kein Wunder ist, denn der Türrahmen wird jetzt von der mächtigen Gestalt meines Zwillingsbruders ausgefüllt.

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