Dachboden
„Mann, ist das cool! Wie im Film!" Kirsten ist sichtlich beeindruckt von dem riesigen, dämmerigen Dachboden der Villa.
„Staubig", kommentiert Paul und zieht einige Masken aus der Hosentasche. Kirsten nimmt ihre entgegen und probiert sie an. „Wofür sind die?"
„Die Dinger tragen unsere Arbeiter in den Abteilungen, in denen es besonders staubt", erklärt Paul. „Bei uns fallen zwar keine gefährlichen Stäube an, da wir mit organischen Stoffen arbeiten. Trotzdem ist es nicht angenehm, beispielsweise in der Spinnerei zu arbeiten, wo die Luft voller Abrieb vom Spinnmaterial ist."
„Gute Idee von dir", ich setze die Maske ebenfalls auf. „Die nehme ich mit, für die nächste Reinigungsaktion im Hort."
„Wird das da so staubig?"
„Durchaus. Wir klettern ja nur einmal im Jahr auf die Leiter, um die Schränke oben abzuwischen oder räumen alle Möbel raus, damit wir auch dort wischen können, wo man eigentlich nicht drankommt."
„Oookay, wenn ihr das so gründlich macht ... Ich glaube, bei uns im Büro sind die Schränke schon seit Jahren nicht mehr oben gewischt worden. Wann kannst du kommen?"
„Wenn du mich zur Tante gemacht hast!"
Paul sieht erschrocken auf mich herunter. „Muss ich das?"
„Ja. Es wird Zeit, dass du Ilkas Betrügereien endlich vergisst. Lisette ist nicht so. Die schiebt dir nicht das Kind von 'nem anderen unter."
Paul blickt zu seiner Freundin hinüber, die gerade mit meinen Kindern eine große, völlig verstaubte Truhe zu öffnen versucht. „Du hast recht. Lisette ist ganz anders als Ilka."
Wir gehen zu den anderen hinüber. „Klappt's nicht?"
Lisette kniet auf dem schmutzigen Boden und späht die Ritze zwischen Deckel und Truhe entlang. „Da ist irgendwas, was den Deckel blockiert."
„Warte mal", Paul zückt sein Taschenmesser, schiebt es in den Schlitz und bewegt es vorwärts. „Aha! Hier ist etwas. Lisette, nimm deinen Kopf weg, ich seh doch nichts. Du auch, Kirsten."
Die zwei Mitgucker weichen etwas zurück und Paul nimmt die „Blockade" in Augenschein. „Da scheint nur etwas zu kleben. Mal sehen ..." Er vollführt Sägebewegungen mit der Klinge.
„Pass auf, das Messer bricht", warne ich ihn. Aber schon zieht Paul das Messer zurück und klappt den Deckel auf.
„Oooooh!" Kirsten staunt andächtig die vergilbten Spitzen an. „Was ist das?"
Ich nehme das Kleid an den Schultern und hebe es hoch. „Das war sicher Katharinas Hochzeitskleid."
„Das will ich auch anziehen, wenn ich heirate", beschließt Kirsten.
„Wenn es dir passt, warum nicht?" Paul begutachtet das Kleidungsstück. „Schade, für Lisette ist es zu klein."
„Willst du denn heiraten?", fragt Kirsten Lisette mit großen Augen. Die wird erst rot, dann lacht sie. „Vielleicht."
„Und wen?" Kirstens Frage beantwortet Rasmus, der seiner Schwester das Knie in den Po rammt. „Doofi, natürlich Paul! Wen denn sonst?"
„Stimmt auch wieder", Kirsten nimmt weder Tritt noch Beleidigung krumm; die Kiste ist wichtiger. Sie späht hinein, niest trotz Maske und schlägt sich dabei den Kopf an. Auch das kümmert sie nicht, sie holt den nächsten Gegenstand heraus. „Eine Uniform! Ist da ein Hakenkreuz dran?"
„Sehr wahrscheinlich. Ziemlich leichtsinnig von Katharina, das hier aufzubewahren. Andererseits kann man einen staubigen Dachboden nicht als Ehrenplatz bezeichnen und als Andenken an Familienmitglieder sind Objekte aus der Nazizeit glaub ich erlaubt."
„Und das ist ganz sicher ein Andenken", Lisette weist auf ein mit braunen Flecken umrandetes Loch in Brusthöhe. „Da drin ist jemand gestorben."
„Igitt", erschrocken lässt Kirsten die Uniform fallen. Rasmus hebt sie kopfschüttelnd auf. „Spinnen trittste tot, aber da graults dich. Ist doch ewig her!"
Lisette nimmt die Uniform entgegen, stellt fest, dass ein Bügel in ihr steckt und hängt sie kurzerhand an einen rostigen Nagel, der aus einem der schrägen Balken ragt. „Was machen wir damit?"
„Ich denke, wir fragen bei einem Museum an", meint Paul. „Vor allem, wenn wir noch mehr finden, was sozusagen als Zeitzeugnis dienen kann."
„Wieso bekommt die Zeit ein Zeugnis, die läuft doch immer gleich?", wundert sich Kirsten. Ich muss lachen. „Ein Zeitzeugnis ist ein Gegenstand, der uns heute bezeugt, wie das Leben früher war."
„Ach so, sag das doch gleich."
„Hätt'ste dir doch denken können, als Paul von Museum geredet hat", mokiert sich Rasmus.
„Pöh!" Kirsten geht nicht weiter darauf ein und begutachtet den restlichen Inhalt der Kiste. „Ob sie da auch ne Flak da drin hat oder sowas?"
„Eine Flak würde da kaum reinpassen", Paul amüsiert sich köstlich. „Aber gut möglich, dass du Abzeichen und Dolche findest. Wenn ja, wird sich das nächste Museum mit einer Geschichtsabteilung über liebe Gaben freuen können. Das fehlte noch, dass man uns als Neonazis bezeichnet."
„Meinst du denn, Katharina ist wirklich eine Nazine oder wie das heißt?", fragt Kirsten. „Los, Rasmus, hilf mir mal. Die kleine Kiste hier ist ganz schön schwer."
„Ich glaube es eigentlich nicht. Also jetzt jedenfalls nicht. Damals – nun, sie war ein Kind und wurde im Jungmädelbund zur Verehrung Hitlers und seiner Doktrin erzogen. Kinder sind leicht beeinflussbar und glauben, was ihnen die Erwachsenen erzählen. Ihr beide habt von Katja gelernt, erstmal zu hinterfragen und zu prüfen, das war damals anders. Wenn sie also ein begeistertes Jungmädel war, kann ich ihr das nicht einmal übelnehmen. Sie wusste es eben nicht besser."
„Papa hat einmal erwähnt, dass Katharina es kaum hat abwarten können, bis sie alt genug war für den Jungmädelbund", ergänze ich.
„War das sowas wie die Hitlerjugend?"
„Es war ein Teil davon." Lisette beugt sich über die große Truhe und packt mit an. „Puh, ist die schwer. So, jetzt haben wirs!" Die drei stellen die kleine Holzkiste auf dem Boden ab. „Was stimmt denn sonst noch von Reinholds Vorwürfen?"
„Reinhold?", wundert sich Kirsten.
„Dein Opa", übersetzt Lisette. Gleichzeitig sagt Paul: „Was ich sicher weiß, es wurden bei Gaitex Zwangsarbeiterinnen beschäftigt, in der Weberei und der Spinnerei vor allem. Die meisten von ihnen kamen aus Polen, einige waren Jüdinnen. Sie lebten in einem Lager unweit der Produktionsstätten, die damals neben dieser Villa lagen", er winkt zum Fenster, „und wurden täglich von zehn Männern des Totenkopfverbandes gebracht. Zwei von ihnen blieben zur Bewachung da, die anderen kamen abends zum Abholen wieder.
Die Frauen hatten von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends zu arbeiten, mit einer halben Stunde Pause zu Mittag. Zu Essen bekamen sie kaum etwas, von ihrem Lohn wurde das Essen und die Unterkunft im Lager abgezogen zu Preisen, als wären sie in einem Luxushotel abgestiegen. Weder die Polen noch die Juden durften mit Deutschen in Berührung kommen oder sich woanders als im Lager oder am Arbeitsplatz aufhalten; sie hatten also auch keine Möglichkeit, sich von dem bisschen Lohn, der übrigblieb, etwas zu essen zu kaufen. Viele sind verhungert – von den Frauen, die bei der Gaitex gearbeitet haben, seltsamerweise keine einzige."
„Und was hatte Katharina damit zu tun?", will Kirsten wissen. Paul zuckt die Schultern. „Meines Wissens vor allem, dass sie Mittags das Essen brachte, mit Hilfe der beiden Polinnen, welche ihrer Mutter im Haushalt halfen und oft den Nachmittag dort verbrachte, um für die SS-Männer auf die Arbeiterinnen zu achten, wenn diese ihren Platz kurz verließen. Vater erwähnte einmal, seine Großmutter habe ihm erzählt, dass Katharina die SS-Soldaten sehr bewundert habe und ihnen alles nachmachen wollte. Und die hätten sich das wohl auch gefallen lassen.
Nachdem Deutschland besiegt worden war, dauerte es ja eine Weile, bis alles geordnet war. Katharina regte damals an, die Zwangsarbeiterinnen weiter zu beschäftigen, bis man sie nach Hause schicken konnte – das dauerte bei einigen Jahre. Damals leitete ihr Vater die Firma, war damals aber schon sehr krank und überließ der noch so jungen Katharina vieles.
Mit siebzehn Jahren heiratete Katharina dann den zwanzig Jahre älteren Paul Avenarius, der bis dahin als Anwalt die Gaitex vertreten hatte. Mit seiner Hilfe gelang es ihr, die Firma vor der Enteignung zu bewahren, indem sie geltend machten, dass der Besitz völlig in Avenarius' Hände übergehen sollte, der keinen Wehrdienst geleistet hatte, nicht im Krieg gekämpft hatte, kein Parteimitglied gewesen war, aufgrund seines Alters natürlich auch nicht in der Hitlerjugend gewesen war und so politisch völlig sauber war. Die Leitung der Firma hat allerdings von vorneherein in Katharinas Händen gelegen, unser Großvater hat sie immer nur juristisch unterstützt.
Kurz nach Katharinas Hochzeit nahm sich ihr Zwillingsbruder das Leben und ein Jahr später starb ihr Vater. Ihre beiden Onkel hatten keine Kinder, einer von ihnen war in Haft, der andere nach Italien geflohen. Katharina konnte jetzt völlig frei über Gaitex verfügen; ihr Mann und ihre Mutter ließen sie gewähren. Einige Jahre hatte der angeschlagene Betrieb schwer zu kämpfen, aber um 1955 stand die Gaitex besser da als vor dem Krieg. Klappt's?" Letzteres ist an die drei eifrigen Kistenöffner gerichtet. Gerade in diesem Moment gibt der Deckel nach und drei Köpfe beugen sich über die Holzkiste. „Autsch!" Alle drei fahren zurück und reiben sich die Stirn. Das gibt mir die Gelegenheit, einen Blick auf das Objekt zu werfen.
Die Kiste ist mit einer alten Decke und uralten, vergilbten Zeitungen gepolstert und enthält einen verbeulten Suppentopf mitsamt Deckel. „Ich werd verrückt! Eine Kochkiste!"
„Eine was?" Kirsten sieht erneut hin. „Soll man das Papier anzünden?"
„Quatsch. In der Nachkriegszeit hatte man oft nur kurze Zeit Strom. Die Menschen haben das Essen auf dem Herd erhitzt, dann in so eine Kiste gepackt, damit die Wärme nicht verlorengeht und das Essen so langsam fertiggegart."
„Ich hätte nie gedacht, dass ich so eine mal in Natura zu sehen bekomme", Lisette legt den Kopf schief. „Aber warum ist die so schwer?" Sie hebt den Deckel an. „Paul, ruf gleich morgen im Museum an!"
Ich kann sie verstehen. Der Topf ist angefüllt mit Abzeichen, Orden und Dolchen, natürlich alles mit Hakenkreuz versehen. „Ein wahrer Nazischatz", stelle ich fest.
Rasmus greift sich einige Objekte und studiert sie gründlich. „Auf der Rückseite sind die meisten graviert", verkündet er. „Und alle mit Gainer. Verschiedene Vornamen, das sind wohl die Onkel und Brüder von Katharina gewesen."
„Also Familienschätze", merkt Paul an. „Trotzdem gehört das in ein Museum für Zeitgeschichte und nicht auf den Dachboden."
„Die Kochkiste aber doch nicht?", fragt Kirsten. „Die will ich mal ausprobieren!"
„Einmal, meinetwegen, aber dann kann sie auch weg", entscheide ich. „Nicht, weil ich sie nicht haben will, sondern weil es wohl nicht viele so gut erhaltene Kisten aus dieser Zeit gibt. Wir sollten zumindest anfragen, ob ein Kurator sie glücklich in Empfang nehmen würde."
„Ein wer?"
„Ein Kurator kümmert sich um die Sammlungen eines Museums. Der entscheidet also auch, ob das Museum ein bestimmtes Objekt erwirbt oder ob es nicht zur Sammlung passt."
„Aha. Meinst du, er will das hier auch?" Rasmus zerrt an einem Karton, der wesentlich neuer aussieht als die Kochkiste und die Kleidung.
Paul greift über ihn hinweg und hebt den Karton hoch. „Das sehen wir gleich."
„Erst erzähl weiter", drängt Kirsten. „Was war mit dem Geld für die Arbeiter?"
Paul hebt die Schultern. „Darüber weiß ich vor allem, dass ab 1948 etliche Betriebe vor Gericht angeklagt wurden, die Zwangsarbeiter missbraucht zu haben und Entschädigungen zahlen sollten. Großvater Paul setzte 1949 durch, dass der Fall der Gaitex um zehn Jahre vertagt wurde, weil die Firma zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage gewesen wäre, eine hohe Entschädigungszahlung zu verkraften. Da es sich bei Gaitex nicht um Tausende, sondern um etwa 50 Leute handelte, ließ man sich darauf ein, verlangte aber Einsicht in die Unterlagen über die Zwangsarbeiterinnen. Katharina übermittelte diese, aber während der Durchsicht stellte sich heraus, dass wichtige Angaben fehlten. Da das Ganze sehr lange dauerte, kam man erst um 1957 darauf. Ein Jahr lang feilschten Katharina und das Gericht um die fehlenden Papiere, dann rückte Katharina damit heraus. Und nun das Erstaunliche: An die Gaitex wurden keine weiteren Forderungen gestellt. Die Firma wurde vom Verdacht der Ausnutzung von Zwangsarbeitern freigesprochen."
„Aber wie – warum – was ist da geschehen?" Ich verstehe das gar nicht mehr.
Paul seufzt. „Ich habe keine Ahnung." Abwesend klappt er die Deckelklappen des Kartons auseinander. Sein vage umherschwirrender Blick hakt sich plötzlich am Inhalt fest. Und sein Tonfall klingt sehr viel energischer, als er sich erhebt, den Karton fest in den Händen. „Es könnte sein, dass wir hier die Antwort finden."
Verwundert folgen wir alle meinem Bruder die Treppen hinunter. Paul will uns nicht sagen, was er gefunden hat, nur dass wir uns das besser unten im Salon ansehen sollen.
Im Salon stellt Paul den Karton mit dem offenen Deckel nach unten auf dem Tisch und hebt ihn vorsichtig hoch. Diese Vorgehensweise erklärt sich uns sogleich; die in der Schachtel enthaltene Dokumentenmappe füllt ihr Behältnis so vollständig aus, dass sie sich nur widerwillig und auf Drängen der Schwerkraft daraus löst. Aber schließlich ist sie frei und wir sehen uns das Teil genauer an.
„Was ist das?", fragt Kirsten und Lisette erwidert automatisch: „Eine Dokumentenmappe."
„Na, fein. Und was ist eine Dokumentenmappe?"
„Na, wie du hier siehst, eine Mappe ohne festen Rücken, aber mit vielen einzelnen Fächern, um Dokumente getrennt voneinander in einer Mappe zusammen aufzubewahren."
„Es sieht ein bisschen aus wie eine Ziehharmonika", meinte Rasmus. Lisette lacht. „Das ist auch das Prinzip. Eine leere Mappe ist meistens ganz dünn. Beim Füllen kann sie sich auseinanderziehen wie eine Ziehharmonika, so nimmt sie immer genauso viel Platz ein wie nötig und nicht mehr. Im Gegensatz zu einem fetten, stabilen Leitzordner."
Man merkt, dass das zu Lisettes Beruf gehört. Zu meinem zwar auch, aber zu einem wesentlich geringerem Teil.
„Ja, und diese ist voll ausgezogen", bemerkt Paul. „Und wenn ihr euch die Reiter anseht – die sind alle mit Jahreszahlen versehen. Ich glaube, Katharina hat hier wichtige Ereignisse ihres Lebens einsortiert."
Kirsten greift nach der Mappe. „Dann kippen wir gleich alles aus und gucken es an!"
„Wehe!" Ich kann gerade noch ihre vorwitzigen Fingerchen festhalten. „Am besten gehen wir Jahr für Jahr vor."
„Und wer darf das rausnehmen?", erkundigt sich Rasmus, den es offenbar auch bereits in den Fingern juckt.
„Das machen wir reihrum", schlägt Lisette vor.
„Au ja. Mama, du fängst an!" Wie immer. Wann immer wir etwas Neues ausprobieren, soll ich anfangen, um den beiden zu zeigen, wie's geht – oder als erste Fehler zu machen.
„Einverstanden." Ich warte, bis sich alle gesetzt haben, dann ziehe ich die Mappe zu mir und greife ins oberste Fach.
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