Briefe
Paul wühlt sich weiter durch die Mappe. Es finden sich weitere Dokumente; sie belegen, wie sehr Katharina und Paul Avenarius darum hatten kämpfen müssen, Gaitex zu behalten, obwohl Gotthelf Gainer Parteimitglied gewesen war. Während Katharina jedoch keine belastenden Tatsachen über ihren Vater herausgegeben hatte – oder es keine gegeben hatte außer eben dem Vorwurf der Mitgliedschaft – war sie nur zu bereit gewesen, mit den Behörden zusammenzuarbeiten, wenn es um ihre beiden Onkel ging. Wozu das geführt hatte, belegt ein zorniger Brief aus dem Jahr 1951:
„Katharina, du hinterhältiges Miststück!
Hast du jetzt endlich erreicht, was du wolltest? Deine Brüder alle ins Grab getrieben, deinen Vater ebenfalls – ja, ich weiß genau, woran er gestorben ist! Ich habe immer noch Freunde in Deutschland und die halten mich über deine Machenschaften auf dem Laufenden.
Kannst du eigentlich ruhig schlafen, nachdem du deine ganze Familie verraten hast? Gotthelf haben deine Intrigen den Todesstoß versetzt, Gottfried schmachtet im Gefängnis für Jahrzehnte und mir hätte das gleiche Schicksal gedroht, wäre ich nicht rechtzeitig gewarnt worden.
Glaub aber nicht, dass du damit durchkommst, du Volksverräterin! Noch gibt es treue, aufrichtige Deutsche! Wir werden uns neu formieren, unser Recht einfordern und dann wirst auch du alles verlieren, was du dir unrechtmäßig angeeignet hast!
Und versuche ja nicht, herauszufinden, wo ich jetzt bin. Dieser Brief wird von mehreren Agenten weitergeleitet werden. Und der letzte hat keine Ahnung, von wo dieser Brief ursprünglich gekommen ist. Wir sind unangreifbar, wir sind überall und der Schlag wird aus einer völlig unerwarteten Richtung kommen! Du wirst dich deines Raubgutes nicht lange erfreuen können!
Gottlob Gainer"
„Oha!" Lisette verzieht den Mund, was Paul interessiert verfolgt. Sie hat aber auch einen ausgesucht schönen und ausdrucksvollen Mund und ohne die drei Schichten Lippenstift, die sie im Büro auflegt, ist der Effekt noch viel stärker. „Da spuckt aber einer Gift und Galle! Hat er jemals irgendeinen Erfolg errungen?"
Paul schüttelt lachend den Kopf. „Nein, was die Gaitex anbetrifft, absolut nicht." Er wird wieder ernst. „Katharina persönlich allerdings hat er schaden können. Ich habe erst vor zwei Jahren herausbekommen, dass er wohl seit der Kommunion von Vater und Onkel Winald Kontakt mit den beiden hatte und ihnen zwar nicht seine Nazi-Ideologie näherbringen konnte, aber in ihnen Hass auf Katharina entfacht hat. Er hat ihnen auch versprochen, wenn sie ihm in seinem Kampf beistehen, Katharina die Firma zu entreißen, die Anteile gleichmäßig aufzuteilen. Er hat sie immer wieder daran erinnert, dass Katharina ja seit ihrer Heirat keine Gainer mehr ist und nur den echten Gainers auch die Gaitex zusteht."
„Darum haben sie den Namen wieder angenommen?" Während ich mir noch überlege, was wir da meinen beiden Neunjährigen antun, hat Rasmus die Lage schon erfasst. Vielleicht ist es doch besser so, wenn die zwei von Anfang an erfahren, was damals vorgegangen ist. Einiges werden sie ohnehin erst später verstehen; Kirsten hat mich zum Beispiel während Pauls Durchsicht gefragt, ob Wernher in ein Sanatorium gegangen ist oder in eine "psychische Klinik". Was sein Abschiedsbrief wirklich bedeutet, ist ihr nicht aufgegangen und ich werde sie nicht aufklären. Sie wird es verstehen, wenn sie reif genug ist, mit diesem Wissen umzugehen.
Jetzt erkundigt sich Kirsten: „Woran ist ihr Vater denn gestorben?"
„Er war schon lange herzkrank", gibt Paul bekannt. „Darum war er zwar in der Partei, hat aber nicht allzu aktiv bei der Verfolgung und Unterdrückung der „minderwertigen Rassen" mitgemacht. Der Tod seiner Söhne hat dann sein Übriges getan. Katharina hat keine Schuld daran."
„Sind die anderen Briefe auch so schlimm?" Paul hat einige Briefe aus der Mappe gezogen und zum Vorlesen aufgestapelt. Lisette, die perfekte Assistentin, hat jeden Brief mit bunten Haftnotizen versehen, damit wir sie nachher wieder in die richtigen Fächer stecken können. Wie ich stets Taschentücher, Wasser, Notverbandszeug und kleine Tüten für Funde im Wald dabei habe, führt sie immer Büroklammern, Klebezettel und Kulis mit sich.
„Nein, die sind alle sehr lieb. Und sie beantworten eure Fragen. Hört mal zu:
Meine allerliebste Katharina!
Endlich, endlich ist der Alpdruck weg! Hitler und seine Leute sind raus, die Besatzungsmächte seid ihr jetzt auch los und wie ich höre, geht es in Deutschland nun aufwärts. Und jetzt traue ich mich auch, dir wieder zu schreiben. Verzeih, dass ich so lange nichts von mir hören ließ, aber ehrlich gesagt hatte ich Angst, weil ich nicht wusste, was die Besatzungen mit euch machen und ob die evtl. eure Post kontrollieren. Ich habe auch befürchtet, dass da jetzt ein Ami im Büro deines Vaters hockt und meinen Brief in den falschen Hals bekommt.
Jetzt kannst du ja erfahren, dass wir in Maine gelandet sind, das ist ein Staat ganz im Norden der USA. Kalt ist es hier, aber wunder-wunderschön. Ich liebe die See!
Uns geht es gut. Papa hat hier wieder einen Laden eröffnet und der ist inzwischen ganz schön groß geworden. Es ist ein Selbstbedienungsladen und er bietet sehr viele unterschiedliche Sachen an. Bei uns kannst du Windeln, Whisky, Watte, Wundcreme, Waffeln, Wurst, Wirsing und Wolle kaufen! Sowas nennen die Leute hier einen „Super Market", weil es fast alles gibt, was man sonst in einzelnen Läden oder Märkten kaufen muss.
Frank arbeitet da mit und ist für den Einkauf und für neue Produkte zuständig. Und so hat er unter dem Vorwand, demnächst auch Stoffe anbieten zu wollen, Erkundigungen über die Gaitex eingezogen. Wie schön, dass du jetzt die Firma leitest (Ich mache mir da keine Illusionen, dass dein Mann das für dich macht und du brav eure schöne Villa putzt) und verheiratet bist (glücklich, hoffe ich, sonst komme ich mal rüber und ziehe deinem Mann Pollis größtes Nudelholz über die Rübe!) und dass du sogar schon Mama bist! Zwillinge sollst du sogar haben. Die liegen bei euch wohl in der Familie, hihi.
Wie gesagt, uns geht es gut. Frank vor allem, die Arbeit macht ihm Spaß, wir haben hier viele gute Freunde und nette Nachbarn und Frank hat einen ganz lieben Freund. Einige von unseren Freunden wissen, dass die beiden sich lieben und sie akzeptieren das. Sie finden das zwar komisch, meinen aber, wenn Frank und Steven (so heißt der Freund) das so wollen, ist das ihre Sache. Und weil die beiden sehr männlich aussehen, du weißt schon, groß, sportlich und markante Gesichtszüge, vermuten die anderen Leute auch nicht, dass die beiden „gay" sind, so nennt man das hier. Weil die meisten glauben, dass Männer, die Männer lieben, sich schminken und Frauenkleider tragen und zarte Gesichter haben und nicht so eine Adlernase wie mein allerliebster Bruder!
Ach, Katharina, ich dachte immer, wir würden nach Deutschland zurückkommen, wenn alles vorbei ist. Aber jetzt fühlen wir uns hier so wohl und haben uns so gut eingelebt, dass wir doch lieber hierbleiben. Aber das hindert uns ja nicht daran, uns zu schreiben und uns gegenseitig zu besuchen, nicht wahr?
Deine treue Juju
PS: Ich habe dir Bilder beigelegt. Auf dem einen siehst du unseren Laden – ja, „unseren", ich arbeite da auch mit und führe die Bücher. Das andere zeigt uns alle bei einem Picknick. Papa und Frank kennst du ja noch und ja, die Bohnenstange mit dem Wuschelkopf bin ich! Ganz schön gewachsen, gell? Der Typ neben mir, der aussieht wie Hans Albers, ist Steven, der am Grill (Barbecue heißt das hier) ist Papas Assistent Vince (sieht er nicht lieb aus? Ich bin in ihn verknallt und ich glaube, er mag mich auch!) und die kleine Rothaarige (achso, das sieht man ja auf dem Bild gar nicht! Ich muss mir unbedingt eine Farbkamera kaufen!) ist seine Schwester Penelope. Sie mag ihren Namen sowenig wie ich meinen und wir rufen uns Penny und July. Aber ich vermisse es soooo sehr, Juju gerufen zu werden!"
Inzwischen sind wir alle nur noch am Lachen. „Mensch, diese Juliane ist schon so ne Marke", ich wische mir die Lachtränen aus den Augen. „Die hätten die im KZ nicht gebrochen, im Leben nicht! Aber gut, dass ihr und ihrem Bruder das erspart geblieben ist."
Rasmus grient. „Die ist wie die Katrin. Ich frage mich immer, wie Pitter den Trommelkurs hinbekommt, die und Kirsten ratschen doch die ganze Zeit und das beide gleichzeitig."
„Verbale Diarrhoe", fragt Paul an mich gewandt und ich bekomme den nächsten Lachanfall. „Ja – so – kann man – das nennen!"
„Mach weiter", drängt Lisette mit einem Blick auf die Uhr. Paul gehorcht.
„Liebe Frau Gainer-Avenarius, liebe Katharina!
Ich weiß gar nicht, ob ich du oder Sie schreiben soll. Ich sehe immer noch das Jungmädel vor mir, welches täglich zu uns in die Spinnerei kam, mit Uniform und Tornister, sich alles neugierig beguckte, den Wachen viele Fragen stellte und ihnen sowie uns das Essen brachte. Du hast damals durchgesetzt, dass die Wachen einen eigenen Essraum bekommen, so konnten sie nicht sehen, dass du und deine Mutter uns viel besser versorgt hattet als es die Vorschriften vorsahen. Unvergesslich ist mir auch, wie du uns oft zur Toilette begleitet hast, damit wir nicht abhauen, wie du so ernsthaft den Wachen erklärt hast. Und kaum waren wir außer Sichtweite, hast du ein Stück Speck, ein Brot oder warme Kleidung aus deinem Tornister geholt und uns aufgefordert, es zu verstecken oder die Kleidung unter unsere Lumpen zu ziehen. Haben wir damals gezittert, man könnte dich erwischen! Aber es ist alles gut gegangen!
Als man uns damals nach Deutschland gebracht hat, meinen Radomir und mich, hatten wir nicht im Traum daran gedacht, dass ich schwanger sein könnte. Ich war so verzweifelt, als ich das entdeckte und bis zur ersten Wehe hatte ich nur unklare Vorstellungen, dass ich das Baby irgendwie verstecken müsste. Aber du hast gleich gesehen, dass es mir nicht gut ging und hast sofort erklärt, du seist gekommen, um eine Putzhilfe in die Villa zu holen. Dann habt ihr beide, deine liebe Mama und du, mir beigestanden, mich versorgt und das Baby bei euch versteckt. Drei Tage lang durfte ich mich als „Putzhilfe" bei euch ausruhen und dann habt ihr meinen Vitomir in Sicherheit gebracht. Bis heute weiß ich nicht, wie ich Ihnen beiden das vergelten soll!
Und in der Besatzungszeit haben Sie dann alles getan, um meinen Radomir ausfindig zu machen. Oh, er war so überrascht und erfreut, als ich ihm unser Söhnchen mitbringen konnte! Mit dem Lohn für die zwei Jahre, die ich noch bei Ihnen gearbeitet habe, konnten wir uns in Polen einen kleinen Hof leisten und dort leben wir jetzt glücklich, auch wenn wir noch an der Abzahlung knabbern und dringend ein neues Dach brauchen. Unser nicht mehr ganz so kleiner Vitomir arbeitet schon fleißig mit und bald wird er ein Geschwisterchen haben.
Und da kommt einfach so eine so große Menge Geld bei uns an! Sie haben meine Arbeit bei Ihnen als Zwangsarbeiterin aufgerechnet und mir den „ausstehenden Lohn", wie Sie das nennen, ausbezahlt! Katharina, ich hätte das niemals erwartet! Ich habe gehört, dass in Deutschland Forderungen laut geworden sind, die Zwangsarbeiter zu entschädigen, aber auch, dass sich die Firmen weigern. Und Sie, die Sie eine verhältnismäßig kleine Stofffabrik leiten, machen das freiwillig? Und bezahlen mir nachträglich einen Lohn, der weit über dem liegt, was Deutsche bekommen! Und noch mehr, weil Sie davon ausgehen, dass mein Radomir nichts bekommen wird, kommen Sie auch für seinen Lohn auf, obwohl er gar nicht bei Ihnen gearbeitet hat! Sie sind ein wahrlich guter Mensch!
Katharina, ich habe überlegt, ob ich das überhaupt annehmen darf. Aber dann habe ich mich entschieden, es zu tun. Es ist nämlich so, hier ist noch sehr viel aufzubauen und es gibt so viele Freunde und Verwandte, die alles außer ihrem Leben verloren haben. Mit Ihrem Geld können wir nun das umliegende Land kaufen, den Hof ausbauen und den Freunden Arbeit geben oder ihnen kleine Höfe verpachten. Der Umrechnungskurs zwischen der Deutschen Mark und unseren Slotys ist so günstig, dass wir mit Ihrem Geld das halbe Dorf wieder aufbauen können und das werden wir auch tun!
Seitdem ich wieder in Polen bin, lasse ich alle Leute wissen, dass längst nicht alle Deutschen schlecht und böse sind und ich so einige der besten kennengelernt habe. Und das werde ich jetzt noch lauter in die Welt hinausschreien und unsere Freunde werden sich anschließen. Wundern Sie sich also nicht, wenn ihnen bald die Ohren klingeln, Katharina.
Ihre dankbare Viktoriya Nowak
PS: Radomir sagt, ich soll Sie fragen, ob Sie in einigen Jahren an guter Schafwolle interessiert wären. Die Tiere gedeihen hier gut und wenn Sie Ihre Firma und wir unseren Hof weiter so fleißig ausbauen, könnten wir ja auch miteinander Geschäfte machen."
„Geschäftstüchtig", stellt Paul fest und Lisette erkundigt sich: „Sag mal, Nowak – die beliefern uns doch heute noch?"
Paul nickt lächelnd. „Stimmt. Und ich weiß, dass sie uns vor langer Zeit mal aus der Patsche geholfen haben, als die großen Firmen alle Wolle aufgekauft haben, um uns in Bedrängnis zu bringen. Die Nowaks haben trotzdem uns beliefert!"
„Wann war das denn?", fragt Kirsten.
„In den Neunzigern."
„Da warn Mama und du ja noch Babys!"
„Ich habs ja auch aus den Archiven."
„Was sind Archive?", erkundigt sich Rasmus. Kirsten stößt ihn in die Seite. „Das sind die Räume mit den vielen langen Regalen, wo man so toll Verstecken spielen kann!"
„Ach so, ja." Rasmus denkt einen Moment lang nach. „In der Schule hängt doch dieser Spruch: Denn das Gute, was du tust im Leben, kehrt irgendwann zu dir zurück, oder so. Ich hab immer gedacht, was ein Schmarrn, wenn ich nem Bettler nen Euro gebe, krieg ich den doch nicht wieder. Aber ich glaube, jetzt versteh ich das!"
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