1944
„Ich bin dran", Kirsten fummelt an dem entsprechenden Fach herum und befördert ein mit der Maschine erstelltes Schreiben, eine vergilbte Anzeige und ein mit kindlichen, runden Buchstaben beschriebenes Blatt aus einem Schulheft zutage. Als sie ihre Beute inspiziert, wird ihr eben noch fröhliches Gesicht ganz ernst. „Das wird jetzt sehr traurig. Hast du noch Taschentücher, Lisette?"
„Genügend", Lisette wühlt bereits in ihrer Handtasche. Kirsten setzt sich derweil zurecht und liest uns das Anschreiben vor:
„Sehr geehrter Herr Gainer!
Mit tiefem Bedauern habe ich vom Heldentod ihres Sohnes Lorenz, der Schüler meiner Anstalt war, Kenntnis bekommen.
Nehmen Sie bitte zu ihrem schmerzlichen Verlust, der Sie durch den Heimgang ihres Sohnes traf, mein und der ganzen Schule herzlichstes Beileid entgegen.
Wir werden ihm ein ehrendes Gedenken bewahren!
Möge die Gewissheit, dass ihr Sohn sein junges Leben für die Dienste am Vaterland hingegeben hat, Ihnen ein Trost sein in dem schweren Leid, das Sie und Ihre werten Angehörigen betroffen hat.
Ich grüße Sie in herzlicher Anteilnahme und aufrichtigem Mitgefühl.
Heil Hitler!
Oberstudienrat – Kringel, Schnörkel, Kringel"
„Interessanter Name", bemerkt Paul anzüglich. Lisette wirft ihm einen vorwitzigen Blick zu. „Deiner ist natürlich schöner – Riesenschnörkel, Wellenlinie!"
„Zeig mal!" Kirsten schiebt ihm meinen Block samt Kuli hinüber und Paul setzt seine schwungvolle Unterschrift auf ein freies Blatt. Kirsten schaut und kichert. „Stimmt!"
Rasmus hingegen beschäftigt sich noch mit dem Inhalt des Briefes. „War das Katharinas Bruder?"
Paul nickt und Rasmus fragt weiter: „Wieso schreibt da dieser Stundenrat von der Schule, wo der mal war? Macht der das bei allen, die mal auf der Schule waren?"
„Es geht hier nicht um einen ehemaligen Schüler", sagt Paul leise. „Lorenz war siebzehn. Er ist kurz vor der Abschlussklasse eingezogen worden."
Rasmus ist schockiert. „Der war ja noch nicht mal volljährig!"
„Das war denen egal", erwidert Paul. „Damals hat man sogar die Schulzeit verkürzt, damit man ein Jahr früher an die Rekruten herankam. Und als sich abzeichnete, dass die Alliierten den deutschen und japanischen Truppen überlegen waren, holte man sich die Soldaten direkt aus den oberen Schulklassen."
„Aber das waren ja dann Kindersoldaten!"
„So haben die das damals nicht gesehen."
„Die Eltern auch nicht", unterbricht Kirsten. „Hört euch mal die Todesanzeige an:
Für die innige Anteilnahme in unserem großen Schmerze anlässlich des Heldentodes unseres heißgeliebten Sohnes Lorenz sagen wir hiermit unseren herzlichsten Dank. Möge das schwere Opfer, das unserer tapferer, edler Junge mit dem Einsatz seines Lebens erbracht hat, nicht umsonst gewesen sein, sondern ein stolzer Sieg des Vaterlandes daraus erblühen.
In unsagbarem Herzeleid,
Gotthelf und Gertraude Gainer,
mit seinen Brüdern Vinzenz und Wernher und seiner Schwester Katharina"
„Ach wie nett, dass Katharina hier auch erwähnt wird", spöttelt Lisette. Rasmus hingegen fragt empört: „Was haben die denn davon, wenn Deutschland den Krieg gewinnt?"
„Die Gewissheit, dass Lorenz nicht umsonst gestorben ist", erkläre ich. „Mir wäre das allerdings egal. Davon, dass er ein ‚Held' gewesen ist, wird er auch nicht mehr lebendig." Zudem wird Lorenz keinen Heldentod erlitten haben, sondern elend krepiert sein auf dem Schlachtfeld, denke ich. Das Loch in der Uniform ist nicht dort, wo das Herz ist, es war mit Sicherheit kein schneller, schmerzloser Tod, den mein junger Großonkel erlitten hat.
„Für mich klingen sowohl der Brief als auch die Anzeige irgendwie falsch", resümiert Lisette. „Beide hören sich nach einem sorgfältig aufgesetzten Text an, der x-mal kopiert worden ist."
„Das wird es auch gewesen sein", meint Paul. „Gerade das Anschreiben hätte auch in Massen gedruckt werden können, mit Lücken für den Namens des Sohnes, die Anrede und den Adressstempel der Schule. Wundert mich direkt, dass die das nicht so gemacht haben, aber das wäre wohl selbst für dieses Regime zu hart gewesen."
Kirsten nickt. „Ich glaube, hier ist die einzige, die echt getrauert hat. Sie nimmt das einzelne Blatt zur Hand:
„Liebster Lorenz,
ich weiß, du bist nicht mehr da und kannst das hier nicht lesen. Aber wenn wirklich nur dein Körper tot ist und deine Seele weiter lebt, dann kann dein Geist das ja doch lesen.
Mama hat gesagt, ich darf dir einen Brief schreiben und den dir ins Grab legen. Aber da drin ist es ja dunkel, da kannst du ja nichts erkennen und warum sollte deine Seele auch im Grab rumlungern? Du hast es doch immer gehasst, eingesperrt zu werden. Ich glaube, dass du eher hier herumspukst. Vielleicht bist du ja gerade unsichtbar hinter mir und spickst?
Lorenz, sie bringen morgen deinen Körper her und dann legen sie dich in die Erde. Aber deine Seele kann ja fliegen, die ist sicher schon längst hier bei mir.
Ich vermisse dich so sehr, Lorenz. Dieser doofe Krieg nimmt einem echt alles weg. Weißt du noch, wie wir uns versprochen haben, alle zusammen zu heiraten? Du und Vinzenz, ihr habt uns geschworen, dass ihr wartet, bis Wernher und ich auch groß sind und dann machen wir eine Viererhochzeit. Jetzt wird es eine Dreierhochzeit werden müssen. Aber du kommst doch trotzdem, gell? Du bist dann halt unsichtbar dabei. Ich stelle auch ein Sektglas extra für dich auf den Tisch.
Du, Lorenz, dein schöner Füller, der liegt jetzt in meinem Pult. Du hast doch gesagt, wenn ich in der Oberstufe bin, leihst du ihn mir auch mal aus. Jetzt wirst du nie wieder schreiben können. Ich habe mir den Füller genommen, aber ich werde ihn erst in der Oberstufe benutzen, versprochen, und ganz gut auf ihn achtgeben. Und immer an dich denken, wenn ich ihn in der Hand habe. Ich nehme den Füller auch jetzt in die Hand und dann habe ich das Gefühl, als wärst du bei mir.
Ich werde dich niemals vergessen,
deine unglückliche Schwester Katharina"
"Oh, das muss der schöne Füller sein, mit dem sie heute noch unterschreibt", murmelt Lisette betroffen.
„Soviel zu ‚Sie hat ihre Brüder gehasst und war immer auf das Erbe scharf'!" Paul schlägt die Faust auf den Tisch, dass das Rokokomöbel ins Wackeln kommt. „Das haben wir uns drei Jahrzehnte lang anhören müssen und es war eine Lüge!"
„Vielleicht wissen sie es ja nicht besser", gebe ich zu bedenken. „Vater und Onkel gab's ja damals noch nicht."
Paul nickt. „Ich glaube, ein Teil stammt auch von Urgroßonkel Gottlob. Ich weiß, dass Vater schon als Jugendlicher Kontakt mit ihm hatte. Und der liebe Gottlob war ganz und gar nicht gut auf Katharina zu sprechen! Er, seine Kinder und inzwischen zwei seiner Enkel starten heute noch immer neue Versuche, einen Anteil an Gaitex zugesprochen zu bekommen."
„Ich wusste gar nicht, dass du so belagert wirst." Was ist mir denn noch so alles entgangen?
Paul winkt lässig ab. „Keine große Sache. Unsere Anwälte sind über alles informiert, was damals zur Enteignung geführt hat und schlagen jeden neuen Angriff souverän ab. Du musst dich nicht sorgen, Katja, wir machen das schon."
Ich muss lachen. „Das bereitet mir keinen Kummer. Ich habe ja keinen Anteil an Gaitex."
„Noch nicht. Aber bald. Sobald Vater und Onkel aus dem Feld geschlagen sind, bekommst du die Hälfte überschrieben. Katharina und ich wollen dich nur fürs erste aus der Schusslinie halten."
Lisette blickt lächelnd zwischen uns hin und her. „Ich finde das einfach schön. Auch wenn es in zwei Generationen ins Gegenteil umgeschlagen ist, kann man doch allgemein sagen, dass die Gainers geschwisterlich zusammenhalten. Erst Katharina und ihre Brüder, dann ihr beide, Paul und Katja und bei Kirsten und Rasmus sieht man es auch. So geht Familie!"
Hinweis: Kondolenzbrief und Todesanzeige sind direkt abgetippt von Fotos, die ich bei einer Ausstellung von Originalen aus der Zeit gemacht habe. Ich vermute, dass es rechtliche Probleme gibt, wenn ich die Fotos hier zur Verdeutlichung poste.
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