1942 - 2

Lisette zieht nun ein Bild und zwei Briefe heraus. Die Briefe sind mit der Maschine geschrieben, das Bild ein mit Buntstiften bemalter Ausdruck.

Paul runzelt die Stirn. „Das ist auf keinen Fall von damals. Der Druck ist mit einem modernen Tintenstrahldrucker gemacht worden."

Lisette hat bereits die Briefe gelesen und lächelt grimmig. „Die Erklärung ist hier zu finden. Das Original ist zerstört worden und Katharina hat es nachgestellt."

Kirsten kichert. „Das Bild ist cool. Der sieht sooo doof aus, das hat er verdient!"

Das finde ich auch. Es handelt sich um ein Foto von Hitler, wie es damals wohl in der Zeitung erschienen sein mag. Katharina hat ihm blonde, bis zu den Füßen reichende Flechtzöpfe angemalt. Die Augen haben giftgrünen Lidschatten bekommen, die Wangen grellorangefarbenes Rouge. Mund und Bärtchen sind mit einem knallrotem Kussmund übermalt worden.

„Sieht so aus, als hätte sie die Zöpfe gehasst", lacht Paul, der nun auch die mutwilligen Änderungen besieht.

„Auf den Bildern hat sie immer lange Zöpfe", stellt Rasmus fest. „Wenn sie die nicht mochte, warum hat sie die nicht abgeschnitten?"

„So einfach ging das damals nicht", gebe ich zu bedenken. „Zum einen entschieden das die Eltern. Dass man mit den Kindern zum Friseur geht und diesem sagt, er soll die Kinder fragen, was sie wollen, war damals undenkbar. Und zum anderen sah das Idealbild des deutschen Mädels eben langes Haar, möglichst in einer Flechtfrisur vor. Erinner dich an die Fotos von Katharinas Klasse und von den Jungmädeln; fast alle hatten geflochtene Zöpfe."

„Elena darf auch nicht selbst wählen, was sie will", wirft Kirsten ein. „Sie will so gerne ganz langes Haar haben, aber sobald es an die Schultern kommt, schneidet ihr Vater es ab. Er sagt, so lässt es sich leichter pflegen."

„Katja ging es früher ähnlich", erinnert sich Paul. „Als Kind musste sie es so kurz tragen wie du es jetzt freiwillig hast, weil unsere Mutter keine Lust hatte, ihr täglich die Locken zu entwirren. Aber so wie sie es jetzt hat, bis zur Schulter, steht es ihr auch sehr gut."

„Das hat Katharina auch mal gesagt", fällt mir dabei ein. „Sie meinte auch, dass sie selbst es nicht so lang haben wollen würde, aber es sei ja meine Sache, wie ich mich frisiere."

„Ich kenne sie nur mit kurzen Locken, nicht länger als Kirstens", stellt Lisette fest. „Aber ich kenne sie ja auch erst seit vier Jahren."

„Wir haben sie auch nie anders gesehen", versichert ihr Paul. „Und alle Bilder von ihr als Erwachsene zeigen sie genauso. Nur waren die Haare früher so dunkelbraun wie Kirstens."

„Also hat sie Hitler aus Rache die Zöpfe gemalt, weil er auch mal sehen sollte, wie das ist?" Rasmus besieht sich das Bild genauer. „Aber warum hat sie ihn geschminkt?"

„Makeup war damals auch ziemlich verpönt. Ein deutsches Mädel sieht mit seinen natürlichen Farben am schönsten aus", erklärt Lisette.

„Ich kann ihm da nur zustimmen", Paul lächelt sie an. „Du siehst zwar toll aus im Büro, du hast mich ja vom ersten Moment an umgehauen. Aber am besten gefällst du mir so, wie du jetzt bist, mit offenem Haar, ohne Fundation oder wie du das nennst und in Jeans und überweitem Shirt. Ach übrigens – ist das nicht meins?"

Lisette sieht an sich herunter und lacht etwas verlegen. „Ja. Ich hatte keines mehr, welches dreckig werden darf, nicht dringend in die Wäsche gehört und in dem ich mich gut bewegen kann. Schlimm?"

„Nö. Behalt's ruhig, dir steht es besser als mir."

Kirsten zappelt unruhig, als Paul Lisette tief in die Augen sieht. „Fangt ja nicht an zu knutschen! Was steht in den Briefen?"

„Richtig!" Lisette greift nach einem der Briefe. „Der hier ist von der Schule. Also:

Sehr geehrter Herr Gainer,

dieses Bild fanden wir heute im Deutschbuch Ihrer Tochter Katharina. Sie erkennen sicher selbst, wie sehr Katharina den Führer verunglimpft hat. Darauf angesprochen zeigte Katharina zudem keinerlei Reue, sondern gab zurück, sie habe dem Führer nur gegeben, was er von den deutschen Mädeln haben wolle.

Da es das erste Mal ist, dass Katharina in dieser Weise gegen den Führer ausfällig wurde, haben wir noch keine Meldung davon gemacht. Stattdessen informieren wir Sie von diesem unerhörten Sachverhalt und vertrauen darauf, dass Sie mit väterlicher Strenge auf Ihre Tochter einwirken, damit sie ihr Unrecht einsieht.

Bei einem weiteren Vorfall dieser Art werden wir jedoch nicht umhin können, diesen zu melden. Sie haben sicher gehört, dass mittlerweile ein Jugendschutzlager in der Uckermark gegründet wurde. Katharina würde im Wiederholungsfall dorthin verbracht werden, um ein angemessenes Verhalten zu erlernen. Wir sind uns sicher, dass dies nicht in der Absicht eines führungstreuen Parteimitglieds, wie Sie es sind, liegen kann und ersuchen Sie daher, segensreich auf Katharina einzuwirken.

Heil Hitler

Hm, unterschrieben haben der Rektor, der Konrektor und die Klassenlehrerin, wenn ich das recht verstehe."

„Was ist denn ein Jugendschutzlager?", fragt Rasmus. Das wissen wir auch nicht, also greift Lisette zum Smartphone, liest kurz und wird dabei rot vor Zorn. „Hört euch das mal an:

Das Konzentrationslager Uckermark war ein Jugendkonzentrationslager für Mädchen und junge Frauen im Deutschen Reich zur Zeit des Nationalsozialismus. ... Im nationalsozialistischen Sprachgebrauch wurde das KZ euphemistisch „Jugendschutzlager" genannt ... Die Haftbegründungen waren wie im KZ Moringen vielschichtig und umfassten „pädagogische" Argumente wie „Renitenz", „Unerziehbarkeit" oder „Arbeitsverweigerung" ebenso wie eugenische oder rassische Begründungen.

Die hätten Katharina also wegen Ungehorsam und Aufbegehren gegen sogenannte Respektspersonen allen Ernstes in ein KZ geschickt. Die haben doch ein Rad ab!"

„Ich finde den Brief eine Frechheit", mault Kirsten. „Wenn die Mama so einen über mich geschickt hätten, dann hätte die nen ganz schönen Wirbel gemacht. Aber nicht mit mir, sondern mit den Lehrern!"

„Danke für dein Vertrauen!" Kirstens Worte rühren mich irgendwie. „Und du hast völlig recht. Wegen eines Kinderstreichs so einen Aufstand zu machen, das ist doch verrückt."

„Wie alt war Katharina damals?" Rasmus schielt nach dem Datum und rechnet nach. „Grad mal elf geworden. Zwei Jahre älter als wir, aber das ist doch noch nicht erwachsen! Ginny aus meinem Geigenkurs ist auch so alt und die ist kleiner als ich und noch total kindisch."

„Wie hat Katharinas Vater denn reagiert, steht das da?", frage ich Lisette. Die nimmt den zweiten Brief zur Hand.

„Der sieht komisch aus", bemerkt Kirsten. Lisette lächelt. „Das ist ein Durchschlag. Früher spannte man zwei Papiere in die Schreibmaschine ein, mit einem Kohlepapier dazwischen. Die Tastenanschläge drückten sich dann auf das zweite Papier durch und man bekam so eine Kopie des Briefes, ohne ihn zweimal tippen zu müssen."

„Der hätte den doch einfach nochmal drucken können", widerspricht Kirsten. „Mama macht das immer, wenn sie an die Eltern schreibt. Sie prüft den Druck und wenn der ok ist, macht sie einen zweiten für sich selbst."

Wir lachen alle. „Schreibmaschen sind eben keine Computer", kläre ich meine Digital Natives auf. „Die haben sich nicht gemerkt, was man getippt hat."

„Und Katharinas Vater fand es wohl auch wichtig, eine Kopie zu haben. Hört mal zu:

Sehr geehrter Herr Dingsbums,

selbstverständlich habe ich meine Tochter sofort zur Rede gestellt. Ein längeres Gespräch, bei dem auch die Rute mitgesprochen hat, hat sie ihr Unrecht einsehen lassen. Im Moment fertigt sie ein Porträt unseres erlauchten Führers an, um sich für ihr unbotmäßiges Verhalten zu entschuldigen und zu beweisen, dass es sich nicht um dauerhaft kriminelles Benehmen handelt, sondern um einen einmaligen, leider sehr bösen Kinderstreich. Sie wird Ihnen diesen Brief morgen persönlich ins Büro bringen und dann nochmals Sie und Ihr gesamtes Kollegium um Verzeihung bitten.

Katharina hat auch für die nächsten drei Wochen strengen Hausarrest. Außer zur Schule und zum Jungmädelbund wird sie das Elternhaus nicht verlassen dürfen. Wenn Sie Strafarbeiten für nötig halten, um Katharinas Einsicht in ihr unbotmäßiges Verhalten zu festigen, wird Katharina diese umgehend und sorgfältig unter meiner Aufsicht erledigen.

Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, dass Sie mich auf der Stelle von Katharinas mehr als unangemessenem Benehmen informiert haben. ‚Wehret den Anfängen!'. Meine Tochter Katharina ist ansonsten ein sehr braves und folgsames Mädchen und noch ist es nicht zu spät, um sie eine tiefere Ehrfurcht vor dem Führer und vor Älteren zu lehren. Mir ist bewusst, dass ein Wiederholungsfall auf eine krankhafte Unerziehbarkeit hindeuten würde und ich würde in diesem Fall auch die Unterbringung in einem Jugendschutzlager befürworten; ich vertraue aber auf Katharina, dass derartige Maßnahmen nicht nötig sein werden.

Heil Hitler,

Gotthelf Gainer"

„Dem kann auch Gott nicht mehr helfen", fährt Kirsten auf. „Was für ein Arsch!"

„Hey, du redest von deinem Urgroßvater. Hast du denn überhaupt keinen Respekt vor deinen ehrwürdigen Vorfahren?"

Verdutzt dreht sich Kirsten zu ihrem Zwilling um. „Sag mal, spinnt du jetzt völlig?"

Rasmus bricht in Lachen aus. „Drangekriegt! Mensch, bin ich froh, dass wir nicht in diesen Zeiten leben! Kannst du dir vorstellen, dass Mama ‚die Rute mitsprechen lassen würde'?"

Hinweis: Der kursive Text stammt aus Wikipedia

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