1942 - 1
Nun ist Paul dran. Aus Fach Nummer 4 zieht er einen Brief sowie ein Stück Stoff heraus. „Puh, daraus braucht mir keiner ein Shirt zu nähen!"
Das kann ich gut verstehen. Der Stoff ist von fester, fast grober Machart, ockergelb und mit schwarzrandigen Davidsternen bedruckt. Um jeden Stern herum ist eine Schnittlinie aufgezeichnet, im Innern des Sternes steht das Wort „Jude".
„Das sind die Judensterne?", fragt Lisette verblüfft. Paul nickt. „Die Gaitex hat damals neben einigen anderen Webereien auch diesen Stoff hergestellt."
„Ich hab geglaubt, die hätten einfach aus irgendeinem gelben Stoff einen Stern ausschneiden und aufnähen müssen."
Paul schnaubt, ähnlich wie Kirsten vorhin. „Das hätte ja dem Prinzip widersprochen, alle gleich zu machen. Die Juden nach einer Form und die arischen Deutschen nach einer anderen Form."
Kirsten besieht sich den Stoff und ihre Hand zuckt bereits. „Darf ich mal einen Stern ausschneiden?"
„Und was willst du damit machen?"
„Oh – einfach nur schneiden."
„Sie liebt es, Sachen auszuschneiden", erklärt Rasmus.
„Ich weiß das nur zu gut", Paul lacht leise. „Ich habe noch ein Bild von dir, auf dem du einen Fluss gemalt und diverse ausgeschnittene Brücken drüber geklebt hast. Du hattest diese schönen Bilder in meinem Portemonnaie gefunden, hast du mir damals strahlend erklärt."
„Oh nein!", für Lisette ist diese Episode neu. „Wie viele Scheine hat sie dir denn da zerschnitten?"
Paul überlegt. „Ich glaube, von 5 bis 200 Euro war jeweils einer dabei." Er lächelt Kirsten an, die knallrot geworden ist und etwas an den Fingern ausrechnet. „Macht nichts, ich kanns mir leisten. Und dein Bild ist mir mehr wert als die zerschnittenen Scheine. Du brauchst mir auch nichts zurückzugeben."
„Es tut mir leid", stottert Kirsten, doch Paul winkt ab. „Du warst noch nicht mal vier, da kommt sowas vor. Und du hast so unglaublich akkurat geschnitten, ich war wirklich beeindruckt. Du musst dir das wirklich mal ansehen", wendet er sich an Lisette. „Einige Brücken sind ja mit Spiegelung aufgedruckt. Kirsten hat das genau ausgeschnitten, man sieht das Wasser zwischen Brücke und Spiegelung. Es wirkt sehr künstlerisch." Er greift nach dem Brief. „Lasst uns erstmal sehen, warum Katharina diesen Stoff aufbewahrt hat." Er überfliegt den Brief rasch und schmunzelt.
Lisette gibt ihm einen Schubs. „Na, los!"
„Liebe Katharina,
dein Paket ist gestern angekommen und Mama und Tante Leni sind schon fleißig am Nähen. Vielen, vielen, vielen Dank dafür! Wir waren schon ganz verzweifelt, der Blockwart hat gedroht, uns zu melden, wenn wir nicht endlich den Judenstern tragen und die Geschäfte sind alle leer, es gibt weder Kleidung mit Stern noch einzelne Sterne. Wie gut, dass ihr den Stoff selbst herstellt!
Du hast soviel geschickt, dass wir jetzt den Nachbarn helfen können, die auch keine Sterne mehr bekommen haben. Mama meint, dass uns die Leute dann in Ruhe lassen, wenn wir artig den Stern tragen und uns von ihnen fernhalten. Tante Leni sagt aber, dass wir die Sterne nur tragen sollen, damit man uns leichter findet, wenn wir auch ins Lager kommen sollen. Weißt du da mehr? Werfen sie nur die Juden in die Lager, die ihren Platz nicht kennen oder alle? Frag doch mal deinen Vater, der ist doch in der Partei.
Ich habe Angst, Katharina. Die Menschen sehen uns alle so böse an und beschimpfen uns, weil wir keine Deutschen sein sollen. Aber wir sind doch Deutsche! Wir haben immer hier gelebt, also zumindest seit Opas Opa, das weiß ich genau. Bloß gehen wir in die Synagoge und ihr in die Kirche.
Manche schimpfen mit mir und sagen, ich würde den Deutschen das ganze Geld wegnehmen wollen und dann die Weltherrschaft übernehmen. Ich will aber nur in Frieden leben. Ich dachte, wenn ich den Stern trage, ist endlich Ruhe, aber heute hatte ich ihn am Mantel und die Leute waren noch gemeiner zu mir. Zwei Mädchen, mit denen ich im letzten Sommer in die gleiche Klasse gegangen bin, traten mich heute, weil ich sie angesehen hatte.
Du weißt ja, dass ich jetzt auf eine Hauptschule für Juden gehe. Es ist furchtbar langweilig, was sie uns da beibringen, haben wir beide doch schon gelernt, als ich noch bei dir unten gewohnt habe. Aber als ich gefragt habe, ob ich dann schon mal weiter lernen darf, weil ich das hier ja schon kann, hat die Lehrerin gesagt, mir als Jüdin steht keine Bildung zu und außerdem bin ich zu dumm, um mehr zu begreifen als einfaches Lesen und Rechnen.
Ich verstehe das nicht. Wenn wir Juden zu dumm sind, um mehr als die Grundrechenarten zu begreifen, dann müssen die Deutschen doch nicht fürchten, dass wir sie mit unserem Kapitalismus überrennen? Um eine Bank zu führen und Deutsche bankrott zumachen, muss man nämlich gut rechnen können.
Ach, Katharina, ich hab solche Angst. Ich weiß nicht, ob es besser ist, wenn wir weglaufen aus Deutschland. Aber Mama sagt, wenn sie uns dabei erwischen, kommen wir ganz bestimmt ins Lager. Und ich glaube nicht, dass man da wieder rauskommt.
Katharina, frag doch deinen Vater, ob er weiß, was die Partei mit uns Juden vorhat, ja? Sollen wir abhauen, was meinst du?
Deine dankbare und angstzitternde Freundin Petra.
Heil Hitler – ich schreibe das lieber hin, sonst komme ich ins Lager, weil ich den Führer nicht geehrt habe"
Mir laufen die Tränen über die Wangen, als Paul endet. „Die armen Kinder damals. Die haben soviel ausgestanden, ohne jemals zu erfahren, warum eigentlich."
Kirsten wischt sich wütend über die Wangen. „Mama, kann man den Hitler nochmal lebendig machen? Ich will ihm mal erzählen, was er für ein Scheißkerl war!"
„Ich auch. Und wenn er mich nicht versteht, dann trete ich ihn ganz doll", bekräftigt Rasmus.
Lisette holt eine Packung Taschentücher hervor, reicht eines an Paul, eines an mich und tupft sich selbst die Tränen ab. „Man spürt ihre Angst ja förmlich. Es ist so lange her und sie wird höchstwahrscheinlich ohnehin nicht mehr leben – aber ich möchte wissen, ob Petra den Holocaust überlebt hat."
„Wir können Katharina fragen", bemerkt Paul mit nicht allzu sicherer Stimme. „Jedenfalls, wenn diese Petra denunziert wurde, dann ganz sicher nicht von Katharina!"
„Warum macht man so etwas überhaupt – andere Menschen zu töten, nur weil sie anders sind?", schnieft Kirsten.
„Ich glaube, weil man Angst hat", erwidert Paul. „Ich weiß nicht, wer zuerst die Gerüchte aufbrachte. Vermutlich fing es damit an, dass man die Juden als die Mörder Jesus' ansah. Im Mittelalter war es den Juden verboten, ein Handwerk auszuüben, also blieb ihnen kaum etwas anderes übrig, als Banken zu gründen und Geld gegen Zinsen zu verleihen. Damit wurden sie reich und das erzeugte den Neid der Christen. Zudem glaubte man, dass Juden gotteslästerliche Rituale ausüben und hexen würden. Verkrüppelte Kinder wurden zeitweise darauf zurückgeführt, dass die schwangere Mutter Kontakt mit einem Juden gehabt haben soll.
Für die Juden war die jahrhundertelange Verfolgung auch nicht einfach. Und ihre Strategie war eben, möglichst viel Geld anzusammeln, da es sich zum einen leichter mitnehmen ließ, wenn sie fliehen mussten – Grundbesitz durften sie ohnehin nicht erwerben – und zum anderen bot es ihnen die Möglichkeit, ihre Häscher zu bestechen, damit sie sie freiließen.
Später dann konnten Juden Grundbesitz erwerben, Firmen gründen und sogar Dynastien aufbauen. Aber den Christen waren sie nie so ganz geheuer. Hitler dann stempelte die Juden zur Wurzel allen Übels und behauptete, sie würden den gesamten deutschen Finanzmarkt übernehmen wollen und die ‚reinen Arier' dann zu rechtlosen Sklaven degradieren. Außerdem erklärte er, die Juden seien eine minderwertige Rasse und ließ das durch pseudowissenschaftliche Gutachten bestätigen. Würden die Deutschen eine Vermischung ihres Blutes mit dem jüdischen zulassen, würde das den Tod der Arier bedeuten. Die Deutschen würden zu Wesen degenerieren, die kaum besser seien als Tiere – wie es die Juden eben seien."
Die Gesichter meiner Kinder zeigen deutlich, dass sie nicht alles verstanden haben. Aber das Wichtigste ist angekommen.
„Es ist also eine Mischung aus Neid, Angst und dem Gefühl, den Juden genetisch überlegen zu sein, gewesen", fasse ich zusammen.
„Nicht zu fassen, dass die Menschen so einen Blödsinn mal geglaubt haben", murmelt Kirsten.
„So einige glauben das heute noch", erinnert sie Rasmus. „Überleg mal, wie viele Leute Synagogen abfackeln. Und eigentlich – in der Schule, weißt du noch, der Raffael – wie der den Celal dauernd fertiggemacht hat und ihm erklärt hat, dass der hier nichts zu suchen hat und eh nur so ein dummer Araber ist, der nichts kann. Dabei hat Celal viel bessere Noten als Raffael. Aber der hat ihn dauernd gemobbt und wenn wir damals nicht gesagt hätten, dass Raffael angefangen hat, dann wäre Celal von der Schule geflogen und nicht Raffael."
Lisette nickt. „Ja, Antisemitismus – das ist, wenn man Juden mobbt, nur weil sie Juden sind – und Rassismus gibt es noch überall. Unter Hitler ist es unglaublich eskaliert, aber das heißt nicht, dass es heute soviel besser ist. Ohje, wir reden mit euch wie mit Erwachsenen – wißt ihr, was Rassismus ist?"
„Natürlich wissen wir das", trompetet Kirsten. „Das haben wir Mama mal gefragt, da waren wir noch im Kindergarten. Sie hat damals gesagt, Rassismus bedeutet, dass wir nicht mehr mit Celal, Amna und Anh spielen dürfen. Und das finden wir saudoof. Rassismus ist bescheuert!"
„Hm", Lisette überlegt, „Türkei, Südafrika, China?"
„Syrien, Uganda, Vietnam", korrigiere ich. „Du warst nah dran."
„Jedenfalls ist diese Aussage die treffendste, die ich je über Rassismus gehört habe", stellt Paul fest. „Er ist – saudoof und bescheuert!"
Hinweis: Auf wikipedia unter dem Stichwort Judenstern befindet sich ein Bild von solch einen Stoff.
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