1941 - 1


„Hat sich in der Zwischenzeit nichts getan?", wundert sich Lisette. „Ich meine, da war sie zehn Jahre alt. Was ist mit Kindergarten, erster Schultag und sowas?"

„Wohl nicht so wichtig", vermute ich. „Und sicher auch keine Unterlagen darüber. Ich denke, da drin finden wir auch allenfalls ein Bild von ihrer Kommunion.

Weit gefehlt. Kirsten holt einen Brief und zwei Bilder hervor, aber beides hat nichts mit christlichen Werten zu tun.

Kirsten besieht sich die Bilder stirnrunzelnd, reicht sie weiter und nimmt sich den Brief vor.

Wir besehen die Bilder. „Ist das Katharina?"

Paul bestätigt das. „In Jungmädeluniform."

„Und mit sehr gezwungenem Lächeln", stelle ich fest.

Auf dem zweiten Bild ist sie mit einer ganzen Rotte Gleichaltriger zu sehen, ebenfalls in Uniform. Rasmus kichert. „Sie zieht eine klasse Grimasse!"

Eins zeigen die Bilder sehr deutlich: Freiwillig ist Katharina nicht in die Hitlerjugend eingetreten.

Kirsten hat nun den Brief gelesen und liest stockend vor:

„Alles Gute zu deinem 10. Geburtstag, liebe – das heißt wohl Katharina, oder?"

Paul neigt sich ihr und bestätigt das. „Es ist ein maschinengeschriebener Brief mit handschriftlichen Einfügungen", erklärt er uns.

Kirsten liest weiter: „Sicher hast du schon lange gewartet auf diesem Tag, ab dem du deine Jungendi – äh Ju-Gend-Dienst-Pflicht erfüllen darfst. Du bist jetzt auf dem Weg, eine gute deutsche Hausfrau und Mutter zu werden und ich vertraue fest darauf, dass du deine Aufgabe im Leben zuverlässig und verantwortungsbewusst erfüllen wirst, für das deutsche Volk und das Reich.

Ab heute bist du ein Jungmädel und damit ein wertvolles Mitglied der Hitlerjugend. In deinem örtlichen Kreisverband wirst du auf deine künftigen Aufgaben vorbereitet werden und Kameradschaft und Gemeinsamkeit erleben. Du wirst im Verband viele gleichgesinnte arische Mädchen treffen und sicher viele Freundschaften schließen.

Melde dich am nächsten Sonntag gegen 10 Uhr bei deiner Jungmädelführerin – interessiert euch die Adresse? Oki, dann lese ich weiter – und besorge dir so schnell wie möglich eine Jungmädeluniform, damit du sie zu diesem Tag bereits tragen kannst. Ab heute wirst du in deinem Verband einen wichtigen Beitrag zum Bestehen des deutschen Volkes leisten und ich bin sehr stolz auf dich!

Heil Hitler.

Kreisgruppenführer ...

Unterschrift kann ich nicht lesen. Will ich auch nicht. Was für ein gemeiner Kerl!"

„Wieso, das klingt doch nett!" Manchmal ist Rasmus sehr naiv. „Wie er schreibt, dass er stolz auf sie ist."

Kirsten schnaubt. „Der ist stolz auf sie, weil sie ein braves deutsches Mädel ist und ihre Pflicht erfüllt! Und mal Hausfrau und Mutter wird, mehr hat sie ja nicht zu wollen!"

„Viel mehr hatten Frauen damals auch nicht vom Leben zu erwarten", gibt Lisette zu bedenken. „Aber ich bin sehr froh, dass das heute nicht mehr so ist, zumindest in Deutschland. Auch hier liegt noch vieles im Argen, zum Beispiel werden Frauen in der Regel schlechter bezahlt als Männer für die gleiche Arbeit. Und was in anderen Ländern geschieht, ist von damals nicht weit entfernt. Aber es ist viel erreicht worden. Schau mal, Kirsten, du darfst dich auf deine Berufsausbildung später freuen. Katja und ich durften einen Beruf erlernen."

„Und dafür bin ich sehr dankbar", sagt Paul lächelnd. „Denn ich hätte Lisette niemals kennengelernt, wenn sie nicht hätte arbeiten dürfen. Wahrscheinlich wäre sie dann auch schon verheiratet gewesen."

„Natürlich! Ich bin dreißig Jahre alt, das ist doch schon sowas wie ne alte Jungfer! Mädchen haben früh zu heiraten, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen!"

„So wie ich?", werfe ich ein. Lisette sieht mich erschrocken an. „Also – ja, das war damit wohl auch gemeint. Dabei finde ich, dass das eine tolle Idee von dir war, schwanger zu werden! Ich meine, guck dir deine beiden an, die sind doch prachtvoll geraten!"

„Das finde ich auch", ich lächle meine zwei Rabauken an, die doch tatsächlich rot werden. „Ich möchte auch gar nicht ohne sie leben müssen."

„Damals hätte man dich entweder schnellstens verheiratet", meint Paul. „Oder du wärst zu Lebensborn geschickt worden."

„Was ist Lebensborn?", will Kirsten wissen. Ich gebe Auskunft: „Das ist der Name einer Vereinigung, die Heime für anonyme Geburten betrieben hat. Ledige Mütter wurden dort aufgenommen, blieben noch einige Wochen bis nach der Geburt der Kinder und kehrten dann in ihr früheres Leben zurück. Die Kinder blieben dort und wurden an arische Familien vermittelt. So wollte man dem „Geburtenschwund" unter den Ariern entgegenwirken."

Lisette hat auf ihrem Smartphone herumgetippt und ergänzt: „Hier steht die Satzung des Vereins. Der hatte folgende Aufgaben:
1.) Rassisch und erbbiologisch wertvolle, kinderreiche Familien zu unterstützen.
2.) Rassisch und erbbiologisch wertvolle ledige Mütter unterzubringen und zu betreuen, bei denen nach sorgfältiger Prüfung der eigenen Familie und der Familie des Erzeugers durch das R. u. S.-Hauptamt-SS anzunehmen ist, dass gleich wertvolle Kinder zur Welt kommen,
3.) für diese Kinder zu sorgen,
4.) für die Mütter der Kinder zu sorgen.

Die nahmen also nur Mütter auf, die nachweisen konnten, dass sie sowohl der Vater ‚wertvolle' Arier sind."

Rasmus runzelt die Stirn. „Hätte Ani sich überhaupt die Mühe gemacht, seine Herkunft nachzuweisen?" Er weiß genau, was er von seinem Vater zu halten hat, der die Vaterschaft erst lange geleugnet hat und seit dem positiven Test immer wieder vom Jugendamt gezwungen werden muss, wenigstens einen Bruchteil der uns zustehenden Alimente rauszurücken.

„Vermutlich nicht", gebe ich zu. „Geheiratet hätte er mich aber erst recht nicht. Mir hätte man einen braven Herrn suchen müssen, der euch beide notgedrungen annimmt."

„So was Bescheuertes", beschließt Kirsten. „Ich will den Ani gar nicht als Vater haben und auch keinen, der uns nur ‚notdrungen' annimmt. So einer wie der Pitter, der wäre was!"

Ups. Hat Kirsten etwa mitbekommen, dass ihr Trommellehrer und ich uns in den letzten Wochen näher gekommen sind? Wir haben uns darauf geeinigt, weder meine beiden noch seine Tochter mit einzubeziehen, bevor wir nicht sicher sind, dass es wirklich was Festes wird. Aber mein Fräulein Tochter hat ihre Augen und Ohren ja überall.

„Der wäre voll in Ordnung", stimmt auch Rasmus zu. Na schön, sollte es ernst werden, habe ich ja schon den Segen meiner Kinder. Auch gut zu wissen.

Hinweis: Der kursive Text stammt von Wikipedia

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top