1931
„Das ist Katharinas Geburtsjahr, oder?" Lisette blickt mir über die Schulter, als ich das erste Fach öffne.
„Oh, ein Foto." Kirsten will es mir aus der Hand reißen, aber Paul hält sie fest. „Lass das, du Irrwisch, das ist vermutlich das einzige Exemplar. Damals gab es keine Speicherchips."
Neben dem Foto finden sich eine Geburtsanzeige auf hochwertigem Büttenpapier, zwei Geburtsurkunden und einige Glückwunschkärtchen. Ich breite alles auf dem Tisch aus.
Kirsten beugt sich über das Foto, traut sich aber nicht, es zu berühren. „Wieso ist das Baby nackt?"
Lisette schaut ebenfalls und lacht. „Das war damals so üblich. Das typische Bild vom nackten Baby auf dem Eisbärenfell. Von meinem Vater gibt es auch so eins."
„Aber warum nur ein Baby?", erkundigt sich Rasmus. „Ist Katharina nicht auch ein Zwilling? Wo ist der andere denn?"
Ich nehme das Foto und drehe es um. Auf der Rückseite sind nicht nur der Fotograf und das Datum vermerkt – etwa drei Monate nach Katharinas Geburt - , sondern auch ein handschriftliches ‚Wernher'. „Das ist der Zwilling", belehre ich meinen Sohn. „Es ist Katharina, die fehlt."
„Aber warum?", wundert sich Lisette. „Ich finde das Bild zwar kitschig, aber süß – mit Zwillingen hätte es noch goldiger gewirkt."
Paul hat inzwischen die Anzeige gelesen. „Die Erklärung steht hier." Er liest laut vor: „Ein weiterer strammer Stammhalter! Die Nachfolge ist mit drei Söhnen nun endgültig gesichert! Freut euch mit uns über die Geburt unseres Sohnes Wernher, der als echter, deutscher Prachtkerl 4126 gr. bei 53 cm Länge auf die Waage bringt und zu gegebener Zeit das Erbe der Familie Gainer antreten wird.
Postscriptum: Wernher brachte eine kleine Schwester mit, die wir Katharina genannt haben."
Einen Moment lang sind wir alle still. Dann flüstert Lisette: „Sie war gerade mal nur ein PS wert? Nur weil sie ein Mädchen war?"
„Das ist doch einfach gemein!", empört sich Kirsten und Rasmus fragt beklommen: „Haben sich ihre Eltern denn gar nicht über sie gefreut?"
Paul und ich sehen uns an, dann meint Paul: „Damals war es wichtig, dass jemand den Familiennamen weiterführt und in unserem Fall eben auch später die Firma leitet. Den Namen konnte nur ein Junge weiterführen, denn die Frau musste ja bei der Eheschließung den Namen ihres Mannes annehmen. Und wenn sie unverheiratet blieb, hatte sie natürlich auch keine anerkannten Kinder und dann ‚starb die Linie mit ihr aus', wie man es damals nannte."
„Und eine Frau konnte natürlich auch keine Firma leiten", setze ich Pauls Erklärung fort. „Allenfalls konnte sie heiraten und ihrem Mann Leitung und Besitz des Betriebs übereignen."
Lisette hat inzwischen die Urkunden unter die Lupe genommen. „Kleine Schwester ist gut! Katharina ist nach dem hier eine halbe Stunde älter als ihr Zwilling."
„Deshalb hat sie die Firma auch geerbt!", stellt Rasmus fest. Aber Paul schüttelt den Kopf. „Nein. Geerbt haben unsere drei Großonkel. Katharina hat sie mit Hilfe ihres Ehemannes dann entmachtet."
„Kann ich sogar verstehen", ich überfliege die Glückwunschkarten. „Puh! Alle bejubeln den Stammhalter! Ganze zwei Leute halten es überhaupt für nötig, zu beiden Kindern zu gratulieren. Und hier ist vermerkt, was die Leute als Geschenk beigelegt haben. Eine Holzeisenbahn, einen Matrosenanzug für Babys, ein Silberbesteck mit graviertem Namen, natürlich auch nur für ihn, ein Gutschein für ein Fotografenbild und eine Packung Spielzeugsoldaten für später. Und die hier", ich deute auf eines der Kärtchen, „haben Teddybären geschickt, einen im Matrosenanzug und einen im rosa Kleidchen. Sieht so aus, als sei das das einzige Geschenk für Katharina gewesen."
„Ich wusste ja, dass man Mädchen früher nicht so geschätzt hat", resümiert Lisette. „Aber so krass ..."
„Da spielt wohl auch mit rein, dass man Nachfolger für die Firma brauchte. Bei den sogenannten einfachen Leuten hat man das weniger wichtig genommen."
„Bin ich froh, dass das heute anders ist. Wenn wir eine Tochter haben, wirst du sie ja auch nicht aus der Erbfolge ausschließen, oder?"
„Natürlich ni-", Paul unterbricht sich und starrt Lisette entgeistert an. „Willst du damit etwa sagen ..."
Lisette lacht auf. „Nein, keine Sorge, noch nicht. Mit Betonung auf noch. Ich sage nur ja, wenn du mir das versprichst."
Paul grinst etwas verlegen, dann schielt er auf Kirsten und Rasmus. „Wenn du mir versprichst, dass du auch solche Wunderexemplare zustande bringst, können wir darüber reden."
„Was soll denn bei einem Prachtkerl wie dir und einem Supergirl wie mir anderes rauskommen?" Lisette lacht auf und Paul lächelt, wie ich ihn nicht mehr habe lächeln sehen, seit er kurz vor der Geburt des Kindes, auf das er sich so sehr gefreut hatte, herausbekommen hat, dass sein bester Freund der eigentliche Vater ist.
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