Isalie (5)
»Er tauchte nicht erneut auf.«
Eine ganze Woche war vergangen, seit jener mysteriösen Nacht, die mir immer noch in meinen Gedanken herumgeisterte.
Natürlich versuchte ich, mich so gut es ging abzulenken. Da ich aber nicht mehr rauswollte, aus Angst, was noch alles passieren könnte, blieb mir kaum etwas anderes übrig, als mich in meine vielen Bücher zu flüchten.
Doch auch das befriedigte mich nach kurzer Zeit nicht mehr. Ich schaffte es kaum noch, eine Seite konzentriert zu lesen, ohne dass dieser Unbekannte alles in mir wieder einnahm.
Ich erinnerte mich an seine dunklen Augen, die so viel Geschichte in sich trugen, dass es unmöglich war, nicht neugierig darauf zu sein. Auch der Schmerz und die Einsamkeit, die sie ausstrahlten, ließen mich nicht in Ruhe. Genauso wenig seine dominante Erscheinung und sein Geruch, der selbst jetzt noch zum Greifen schien.
Ein lautes Klopfen an der Tür riss mich aus meinen wirren Gedanken und brachte mein Herz dazu, sich mehrere Male aufgeregt zu überschlagen. Nervös sprang ich von meinem Schreibtischstuhl auf und ließ vor lauter Hektik das Buch aus meinen Händen gleiten.
Es fiel zu Boden, doch ich stand wie betäubt da. Ein Zustand, der mich zum Zittern brachte. Ich konnte mich erst wieder aus dieser Starre befreien, als ich Carlos bekannte Stimme von draußen wahrnahm.
"Miss Parker?!", rief er laut und gleichzeitig besorgt, woraufhin ich meinen Kopf schüttelte. Schnell bückte ich mich zu dem Buch, um es aufzuheben und auf den Schreibtisch zu legen.
"Einen Moment, Carlos!", rief ich zurück und lief noch schnell ins Badezimmer, um mir einen Bademantel über mein freizügiges Nachthemd zu ziehen. Er würde sonst sicher wieder Probleme damit bekommen, seine Augen von meinem Ausschnitt fernzuhalten. Das wollte ich ihm ersparen ... und mir auch!
Eilig tapste ich zur Haustür und drehte den Schlüssel herum, woraufhin sich die Tür öffnete und ich Carlos freundlich anlächelte. Er wirkte alles andere als gut gelaunt.
"Ich habe mir Sorgen gemacht!", erklärte er vorwurfsvoll und trat ohne zu fragen in meine Wohnung ein, wodurch ich ihm irritiert hinterhersah.
Er hatte wieder nur ein weißes Unterhemd und seine dunklen Jeans an, was sicher viele junge Frauen beeindruckte. Für mich war er trotzdem nur der schnaufende Esel von nebenan.
"Wieso Sorgen?", erkundigte ich mich, als er sich zu mir herumdrehte und mich nachdenklich musterte.
"Wieso?", wiederholte er mich und schüttelte leicht mit dem Kopf, um trotz seiner Sorge ein sanftes Lächeln aufzulegen. "Du gehst seit einer Woche nicht an dein Handy und aufgemacht hast du mir die Tür gestern auch nicht."
"Ich habe kein Klopfen gehört", verteidigte ich mich, obwohl ich es genau gehört hatte. Ich wollte jedoch niemanden sehen. Diese flüchtige Stunde mit dem Unbekannten nahm mich dafür noch viel zu sehr ein. Er war ein Teil von mir geworden. Ein Teil meiner Gedanken, meiner Träume und auch meiner Ängste ...
"Entschuldige, Isalie. Ist irgendetwas passiert?"
Carlos kam ein Stück näher und umso näher er kam, desto unwohler fühlte ich mich. Nähe war für mich etwas geworden, das in mir leichte Panik auslöste. Das war auch ein Grund, warum ich meine Praxiseröffnung hinauszögerte. Doch lange würde ich das nicht mehr durchziehen können, denn ich hatte jetzt schon kaum noch Geld, um mich gesund und ausgewogen zu ernähren.
"Isalie?"
Carlos wollte gerade seine Hand an meine Schulter legen, da lächelte ich ihn aber unbeholfen an und wandte mich an ihm vorbei zurück in mein kleines Büro.
"Nein, es ist alles in Ordnung. Ich hatte nur die Grippe", versuchte ich mich herauszureden und fragte mich im selben Atemzug, wieso ich ihm überhaupt Rechenschaft ablegte.
"Du hättest etwas sagen können. Ich hätte dir–"
"Schon okay", sprach ich bestimmend und drehte mich zu ihm herum, um ihn mahnend anzustarren. "Du musst dir keine Sorgen um mich machen."
Ich hoffte, er würde verstehen, dass ich diese Aufdringlichkeit seinerseits nicht weiter dulden wollte. Doch entweder war dieser dreiste Schönling ein vollkommener Idiot, oder ich drückte mich falsch aus, denn kaum hatte ich ausgesprochen, kam er grinsend auf mich zu und legte mir seinen Arm um die Schulter.
"Du schuldest mir ein Mittagessen, erinnerst du dich?"
Verdammter Mist!
"Ja", gab ich leise von mir und bemühte mich wirklich, ihm gedanklich nicht seinen Arm zu brechen.
"Wir gehen heute auf eine Fiesta", erklärte er plötzlich. Sofort entfernte ich seinen Arm von meiner Schulter und sah ihn mit großen Augen an.
"Auf keinen Fall, Carlos! Ich kann–"
"Keine Widerrede", belächelte er meinen Versuch, mich erneut herauszureden und zeigte auf die Wanduhr hinter uns. "Ich hole dich um 20:00 Uhr ab. Du musst Alicante kennenlernen und es wäre viel zu schade um dich, würdest du alleine in diesem Büro versauern. Du bist jetzt in Spanien – das Land, das tanzt und feiert."
"Aha", gab ich trocken von mir und sah flüchtig hinter mich auf das Bild von mir und Anja. Mit ihr hatte ich die ganze Woche abends telefoniert. Sie benutzte zwar nicht die gleichen Worte wie Carlos, doch auch sie war der Meinung, dass ich hier Leute kennenlernen sollte, um nicht komplett zu vereinsamen.
"Also?"
Ich sah Carlos an, der mich hoffnungsvoll wie ein kleiner Welpe mit seinem Blick durchlöcherte, bis ich meine Augen verdrehte und anschließend nickte.
"Na gut! Aber wenn ich nach Hause möchte, dann bringst du mich auch sofort hierher!", warnte ich ihn und er lächelte nur dämlich und nickte mir erfreut zu.
"Selbstverständlich", stimmte er mir zu und verließ dann zu meinem Glück meine Wohnung.
Verflixt! Worauf hatte ich mich da nur eingelassen?
___
Die nächsten Stunden hatte ich damit verbracht, mich zu duschen, etwas zu essen und mein Schlafzimmer aufzuräumen. Erst, als ich erschrocken erkannte, dass es bereits 19 Uhr war und ich immer noch mit meinem Handtuch herumspazierte, brach leichte Panik in mir aus.
Eilig lief ich ins Badezimmer und schnappte mir meinen Föhn, um meine dunkelblonden Haare wenigstens etwas in Schwung zu bringen. Ich war zwar nicht zufrieden mit den leichten Locken, doch mich kannte ja sowieso niemand. Also legte ich noch etwas Wimperntusche auf und lief anschließend ins Schlafzimmer zurück.
"Mist", flüsterte ich leise, als ich meinen Schrank öffnete und die vielen Kleider anstarrte, die alle gleichermaßen zugeknöpft wirkten. Mein Vater hielt nichts davon, wenn Frauen zu viel von sich preisgaben, deswegen hatte ich auch nur Kleider, die sicher nicht zu einer Fiesta passten.
Ich ließ meine Finger über den Stoff der Kleider streifen und zog dann ein Schwarzes heraus, das wenigstens etwas sexy wirkte. Natürlich nur mit viel Vorstellungskraft.
Es war lang, fiel mir damit bis zu meinen Knöcheln und obenrum hatte es kaum Ausschnitt, dafür war aber fast mein gesamter Rücken frei gelegt.
Ich streifte es über, zog dazu noch helle Flip-Flops an und sah mir noch mal im Spiegel entgegen. Sofort war mir klar, dass sicher jeder denken würde, ich wäre eine spießige Touristin, doch was interessierte mich das überhaupt ...
Da ich vermeiden wollte, Carlos erneut in meine Wohnung zu lassen, schnappte ich mir meine schwarze Umhängetasche, in der sich mein Handy, Taschentücher und mein Schlüssel befanden, um anschließend draußen vor meiner Haustür auf Carlos zu warten.
Die Luft war sehr warm, doch nicht zu heiß. Ich lief über die Straße auf die andere Seite, um einen Blick auf das wunderschöne Meer zu werfen. Die Wellen, so wild und ungehemmt, spielten im perfekten Einklang miteinander. Ich genoss den Wind, der mir leicht und luftig durch die Haare wehte, bis Carlos Stimme mich aus meiner Beobachtung zurück ins Hier und Jetzt riss.
"Wow", hauchte er beeindruckt und ich musste jetzt schon meine Augen verdrehen. Leicht überfordert drehte ich mich zu ihm herum und starrte ihn plötzlich mit großen Augen an.
Also das war sicher nicht der Carlos, der sonst verschwitzt durch meine Wohnung irrte.
Seine sonst so platten Haare hatte er perfekt gestylt und statt eines plumpen Unterhemds trug er ein schwarzes, eng anliegendes Hemd. Dazu eine dunkle Jeans, die sein Outfit mit der Uhr und den hellen Sneakern perfekt abrundete.
"Selber wow", gab ich ihm beeindruckt über seine Aufmachung zurück. Sofort kam er lächelnd auf mich zu, um mir einen Kuss auf jede Wange zu geben. Sein Geruch war mir vollkommen neu an ihm, doch eins erkannte ich leider sofort.
Er trug dasselbe Parfum wie der Fremde, was mich plötzlich leicht erregte ...
Wie bitte???
Überfordert von mir selbst stieß ich Carlos leicht von mir. Ich lächelte ihn unbeholfen an, wonach er meine Hand einfach in seine nahm und mit mir die enge Straße zum Strand herunter entlanglief.
"Dein Parfum, es riecht gut", gab ich nach kurzer Zeit des Schweigens von mir, denn ich wurde die Gedanken an den Unbekannten einfach nicht mehr los. Ich wollte irgendwie wenigstens erfahren, wie dieser mich so einnehmende Duft hieß.
"Findest du?", gab Carlos mir etwas überheblich zurück und grinste mich dabei schief an. "Ist ein Duft der »Torres« Reihe."
"Was ist bitte eine Torres Reihe?", fragte ich verwirrt und er lachte flüchtig auf, ehe er meine Hand leicht drückte und hinunter auf den Strand zeigte.
"Es gibt hier eine große Familie, denen so gut wie alles gehört. Natürlich nicht offiziell, aber eben hintenrum. Ich vergesse manchmal, dass du nicht von hier bist", erklärte er und ich folgte seinen Worten aufmerksam. Genau dort, wo er hinzeigte, erkannte ich eine Bühne mit Live-Musik. "Diese Familie ist zwar zerstritten, doch sie lenken trotzdem alles. Diese Fiesta ist auch nur zu Ehren von ihnen, denn sie haben die Armut aus Alicante vertrieben. Zwar gibt es mehr Kriminalität als zuvor, aber nur unter ihnen. Dieses Parfum ist ein Duft, den ihr Sohn Emilio herausgebracht hat."
Ich ließ mir seine Worte nachdenklich durch den Kopf gehen und erinnerte mich dabei an das viele Blut des Unbekannten. War er etwa Opfer dieser Familie geworden? Und wenn ja, wusste diese Familie, dass ich ihm geholfen hatte? Wohl kaum, sonst wäre ich sicher auch schon ein Opfer geworden.
"Er ist auch heute Abend da, aber keine Sorge. Er ist ein absolut arroganter Schnösel und redet nicht mal mit seiner eigenen Familie. Nur mit wehrlosen Frauen."
"Also ein frauenverachtender Snob", grinste ich und war froh, mit solchen Typen nichts zu tun zu haben. Wie überheblich, eine ganze Stadt einzunehmen und sie auch noch mit dem eigenen Duft zu verwöhnen.
"Ja, aber ein wirklich gefährlicher Snob. Du solltest dich von ihm fernhalten", ließ Carlos mich noch wissen und blieb dabei plötzlich stehen, um mich eindringlich zu mustern. "Du bist neu hier und ich weiß, dass du gut auf dich alleine aufpassen kannst, aber lass dir eins gesagt sein, Isalie: Er liebt Frauen, die nicht leicht zu haben wirken. Sollte er dir zu nah kommen, entferne dich bitte."
"Ich hab doch dich bei mir. Wieso sollte er mir dann zu nah kommen?"
"Falls er auf die Idee kommt, ein Gespräch mit dir anzufangen, bin ich der Letzte, der sich noch einzumischen hätte. Glaub mir, mein Leben wäre seinem Stolz nichts wert."
Super Aussichten ...
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