Isalie (1)
»Er stand plötzlich einfach da«
"Wohin mit den Kartons, Señorita Parker?"
Mit meinen Fingerspitzen streifte ich elegant über den Umschlag eines meiner Lieblingsbücher, während ich es behutsam auf meinem weißen Schreibtisch, zwischen der modernen Lampe und meinem Laptop ablegte. Anschließend glitt mein fragender Blick zu Carlos, meinem neuen Vermieter, dem der Schweiß vor lauter Anstrengung von der Stirn tropfte.
"Carlos. Du sollst mich bitte einfach Isalie nennen", lächelte ich ihm entgegen und eilte auf ihn zu, um ihm mit dem schweren Karton zu helfen. Er entzog ihn mir jedoch und sah mich mit seinen dunklen Augen warnend an.
"Das fehlt noch, dass Sie mir helfen müssten", verteidigte er seine Ehre als Mann. Ich zuckte auf seine Aussage hin gelassen mit meinen Schultern, um anschließend den Gang entlang zum hintersten Zimmer zu zeigen. Auf seinem angehobenen Knie stützte er den Karton kurz ab, um sich dann mit dem Ärmel seines dünnen, weißen Sweatshirts den Schweiß vom Gesicht zu wischen. Erst als er das erledigt hatte, verschwand er schnaufend den Flur entlang.
Mit einem klitzekleinen, schlechten Gewissen sah ich ihm wortlos hinterher. Ich musste zugeben, dass attraktiv etwas vollkommen anderes für mich war. Zugegeben – Carlos sah wirklich gut aus – aber er gehörte zu den Männern, die einen unbewusst damit beeindrucken wollten, dass sie Muskeln und Kraft hatten. Mich beeindruckten aber eher die Intelligenz und der Humor eines Menschen. Einen guten Körperbau konnte immerhin jeder haben, der auch nur ein bisschen Durchhaltevermögen besaß.
Ich atmete tief durch, strich mir dabei eine Strähne meiner Haare aus dem Gesicht und versank mit dem Blick auf mein neues Büro kurz in Gedanken.
Seit ich vor drei Monaten hierher – nach Alicante – gezogen war, hatte ich zwar einige Dates, doch irgendwie waren die Männer in Spanien alle gleich. Vielleicht hatte ich auch einfach an den falschen Orten gesucht, was aber auch unwichtig erschien, denn ich glaubte langsam, es lag an meinem Alter.
Mit meinen gerade frischen 24 Jahren suchte ich natürlich jemanden in meinem Alter. Jedoch gab es in dieser Altersgruppe anscheinend nur arrogant, oberflächlich und nur für den schnellen Spaß zu haben.
Meine Augen schweiften nachdenklich zu meinem Schreibtisch, wo mir ein Foto auffiel, das mich und meine beste Freundin zeigte. Wir standen vor meinem Elternhaus am Tag meiner Abreise und lächelten in die Kamera. Es kam mir zwar wie gestern vor, doch gleichzeitig war sie weiter entfernt denn je.
"So! Was gibt es noch zu tun?"
Carlos stellte sich genau neben mich. Er schien mich von der Seite zu mustern, doch ich war so eingenommen von der Sehnsucht nach meiner besseren Hälfte, dass ich einen Moment brauchte, um mich ihm zuzuwenden.
"Ähm", überlegte ich laut und sah mich dabei im Büro um. Im Grunde hatte er schon alles erledigt, was zu schwer für mich gewesen wäre, doch ich musste mir selbst eingestehen, dass ich ihm oft unnötige Erledigungen auftrug, nur um nicht wie eine alte Jungfer zu vereinsamen. "Du könntest mir den Spiegel dort drüben bitte an die Wand anbringen."
Vorsichtig lief ich zwischen den Kartons hindurch zu einem hohen Spiegel, für welchen ich schon den perfekten Platz ausgesucht hatte. Da ich mit dem Rücken zum Fenster saß, wenn ich an meinem Laptop arbeitete, wollte ich den Spiegel genau mir gegenüber an der Wand befestigt haben. So konnte ich durch ihn hinaus zum Strand schauen, der von hier aus gut zu sehen war. Ich hätte immer etwas, worauf ich mich konzentrieren könnte, würde die Arbeit mir mal wieder zu Kopf steigen.
"Lo hare inmediatamente", hörte ich ihn hinter mir sagen. Nachdem ich nachdenklich meinen grünen Augen im Spiegel entgegensah, verdrehte ich lächelnd meine Augen und nahm erneut Carlos ins Visier.
"Mein Spanisch ist–"
"Ich weiß, aber du musst es lernen. Also sollte ich am besten nur noch spanisch mit dir sprechen", unterbrach er mich mit hochgezogener Augenbraue. Er streifte leicht meine Schulter, als er den Spiegel hinter mir an sich nahm und zur Wand zurückwich.
"Hier?", fragte er und starrte mir abwartend über seine Schulter entgegen. Ich tapste zu meinem Schreibtisch und ließ mich auf meinen von der Sonne erhitzten Schreibtischstuhl nieder, um die Sicht auf den Spiegel zu begutachten.
"Ein bisschen weiter rechts, sonst sehe ich nur mich", dirigierte ich ihn mit meinen Händen, doch er lachte plötzlich dämlich auf und weckte damit meine Aufmerksamkeit. "Was ist daran lustig?"
"Ich würde lieber dich im Blick haben, als den langweiligen Strand", erklärte er. Sofort erwärmten sich meine Wangen, obwohl es mich gleichzeitig auch verärgerte. Er hatte schon öfter solche Anspielungen über seine grinsenden Lippen kommen lassen, doch ich hatte ihm oft genug klargemacht, dass ich nichts mit ihm anfangen würde.
Nachdem ich ihm nichts erwiderte, außer einem mahnenden Blick, hing er den Spiegel endlich an die richtige Stelle. Carlos befestigte ihn, während ich mich an einige Dekoartikel machte und sie ordentlich auf meinem Schreibtisch verteilte.
Eine Duftkerze für meine Entspannung, eine Kunst Orchidee für meine innere Ruhe und zu guter Letzt ein kleiner, roter Stressball, den ich in letzter Zeit öfter benutzen musste, als mir lieb war. Alleine in einem fremden Land ist es anfangs nun mal etwas stressiger.
Es vergingen einige Stunden, in denen Carlos mir half, meine Sammlungen an Büchern alphabetisch in dem Wandschrank, der aus weißem Holz und Glas bestand, unterzubringen, ehe es draußen dunkel wurde und er beschloss, nach Hause zu fahren. Er bot natürlich noch an, dass er mich auf einen Cocktail einladen würde, doch ich lehnte höflich ab. Ich brachte jedoch die Alternative auf, dass wir am nächsten Tag gemeinsam Mittagessen könnten, die er auch voller Vorfreude bejahte.
"Es kann beginnen", gab ich stolz von mir. Ich betrachtete in dem wenigen Licht meiner violetten Stehlampe den Raum, in dem ich vermutlich die meiste Zeit meiner Tage verbringen würde.
Das Schlafzimmer, mein kleines Wohnzimmer mit der süßen Koch-Nische und das noch kleinere Badezimmer befanden sich hinten in der Wohnung und dafür hatte ich noch genügend Zeit, alles ordentlich einzuräumen.
Mit der Hand schon am Lichtschalter liegend, wollte ich mich gerade auf den Weg zum Duschen machen. Zum einen, um diesen stressigen Tag abzuwaschen und zum anderen, um mein helles Sommerkleid gegen meinen Pyjama zu tauschen. Bevor ich allerdings einen Schritt wagen konnte, klopfte es plötzlich hinter mir an der dunklen Haustür, die direkt an mein Büro grenzte.
Flüchtig schaute ich mich um, da ich dachte, Carlos hätte wieder etwas vergessen, doch ich erspähte nichts. Als ich meine Hand dann an die Klinke legte und mit der anderen den Schlüssel herumdrehte, fiel mir nach dem Aufziehen der Tür fast die Kinnlade vor Schock herunter.
Ein düster wirkender Mann, der mit dem maßgeschneiderten Anzug aussah wie ein Geschäftsmann, stand einfach nur da. Er starrte mich mit seinen kalten Augen so ausdruckslos an, dass mir ein Schauer über meinen Rücken lief, der mich erstarren ließ.
"Buenas noches", drang es aus den Tiefen seiner Kehle. Seine Stimme, so dunkel und rau, brachte mein Herz für einen langen Takt zum Aussetzen, ehe ich wieder zu Verstand fand. Mein Blick fiel zu seinem Arm. Ich bemerkte schockiert, dass er sich mit der Hand auf eine Wunde drückte, aus der für meine Begriffe viel zu viel Blut tropfte.
Aus reinem Instinkt und da ich meine einsamen Nächte oft damit verbrachte, Krimis zu schauen, wollte ich so schnell wie möglich die Tür schließen. Er nahm jedoch ruckartig seine Hand von der Wunde, drückte die Tür mit Schwung wieder auf und lief einfach an mir vorbei in mein Büro, während ich wie angewurzelt dastand und ihm hinterher sah.
"Schließ die Tür!"
Er drehte sich zu mir herum, versuchte mich wohl mit seinem eiskalten Blick zu dominieren. Als ich ihm daraufhin etwas zu lange brauchte, zog er plötzlich eine Waffe aus seinem Jackett und zielte mit ihr genau auf meinen Kopf.
"Nicht schießen!", platzte es panisch aus mir heraus. Sofort hob ich ergebend meine Hände, um mit meinem Fuß die Tür hinter mir zu schubsen, die mit einem lauten Knall ins Schloss fiel. Mein Herz pochte und lechzte nach meinem Überleben, während meine Hände unkontrolliert zitterten und ich kaum noch Luft bekam. Der Sauerstoff um mich herum schien immer weniger. Es glich einer Panikattacke, was ich in diesem Moment der absoluten Stille durchmachte, während er sich lässig durch seine dunklen, dichten Haare fuhr.
Er wirkte ruhig – zu ruhig. Überhaupt nicht wie jemand, der am Verbluten war, was mir den Gedanken aufblitzen ließ, dass es nicht seine erste Verletzung dieser Art war.
"Wasser, Schmerztabletten und ein Handtuch", durchbrach seine dunkle Stimme die Stille. Ich brauchte einen Augenblick, um mich zu sammeln, ehe ich ganz langsam und vorsichtig mit erhobenen Händen an ihm vorbeilief. Ich rechnete ununterbrochen damit, dass er mir etwas antun würde. Ging davon aus, dass er mich als Zeugin sicher sowieso töten würde und versuchte, mich trotz allem zusammenzureißen. In den Dokus über Schwerverbrecher hieß es immer, man solle Ruhe bewahren, denn interagiere man zu nervös oder hektisch, würde man es auf den Angreifer übertragen. Die Überlebenschance sinkt dadurch gegen null.
Seinem Verhalten und Auftreten nach zu urteilen, war er sicher alles andere als ein Opfer eines Überfalls. Alles an ihm strotzte nur so nach Gefahr. Mein Puls schien durch diese Tatsache immer schneller zu werden ...
Nachdem ich im Badezimmer alles mit zitternden Händen und meiner hastigen Atmung zusammengesucht hatte, schritt ich wieder langsam und bedacht darauf, ihn nicht zu provozieren, zurück zu ihm ins Büro.
Er lehnte mit der Hüfte an meinem Schreibtisch. Mein Blick huschte unabsichtlich über seinen nackten Oberkörper, der von Narben und Tattoos übersät schien, bis ich auf seine Augen traf. Nach einem flüchtigen Verharren in ihnen senkte ich sofort den Kopf.
"B-bitteschön", stotterte ich und hielt ihm die Sachen entgegen. Eine unerwartete Berührung von ihm an meinem Kinn ließ mich so erschrocken zurückweichen, dass mir alles panisch aus der Hand glitt. Ich konnte nicht mehr verhindern, ihn weinend anzusehen.
"Wieso hast du solche Angst?", wollte er ohne Gefühl in seiner Stimme wissen. Mir kam es unwirklich vor, dass er mir solch eine absurde Frage stellte hinsichtlich der extremen Situation, in der wir uns befanden.
Seine Augen schienen jeden Zentimeter meines bebenden Körpers zu begutachten, ehe er auf mich zukam. Ein beklemmendes Gefühl der Angst überflutete mich und ich schloss die Augen …
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