Photograph

Mein Mund blieb offen stehen, als ich mich in dem Studio umschaute. Die Wände waren mit verschiedenen Gold und Platinplatten geschmückt und eine ganze Reihe von Gitarren waren fein säuberlich in der Ecke aufgereiht. Nicht eines dieser Instrumente könnte ich mir leisten und in meinen Fingern juckte es, sie mal anzuspielen.
Anscheinend fiel meine Überwältigung den Männern auf, denn sie fingen nach einer Weile an zu kichern.
„Ich glaube, bevor du dir oben das eigentliche Studio anschaust, brauchst du erstmal was zur Beruhigung" sagte Thilo und hielt mir ein Bier entgegen.
Das Kondenswasser an der Glasflasche zeigte, dass es wohl eisgekühlt war und ich nahm das Getränk dankend an.
Ein kurzer Griff in meine hintere Tasche der Jeans beförderte mein Cuttermesser hervor, dass ich noch von meiner Schicht dabei hatte.
Gekonnt und mühelos öffnete ich das Bier und auf das ploppen des Verschlusses folgte ein fast schon beeindrucktes Raunen.
„Habt ihr noch nie eine Frau gesehen, die sowas kann?" fragte ich gespielt geschockt.
„Doch schon, aber dir hätte ich das nicht unbedingt zugetraut" Dag musterte mich von oben bis unten. Meine Statur war sehr zierlich und ich wurde schon öfter unterschätzt, was mich jedesmal aufs Neue belustigte.
„Du kennst mich ja noch garnicht. Vielleicht werde ich dich noch öfter überraschen" langsam aber sicher kam mein Selbstbewusstsein wieder und ich legte meine Scheu vor diesen in Anführungszeichen Stars ab.
„So, Thilo schrieb, dass er dich gestern performen gesehen hat und war hellauf begeistert. Was machst du denn für Musik?" Vincent war spürbar der professionellste im Raum, denn die anderen beiden alberten herum wie kleine Kinder.
„Puh, das ist eine echt gute Frage. Eigentlich hab ich keine richtige Stilrichtung und mache das, was mir gerade am besten gefällt, oder was meiner Meinung nach am besten zu dem Text passt." gab ich den Produzenten als Antwort. „Also im Grunde genommen wie wir." der Brünette deutete mir, mich auf eines der ledernen Sofas zu setzen und nahm gegenüber von mir Platz. Das ganze bekam immer mehr den Charme eines Vorstellungsgespräches.
„Schon, ja. Aber ein Text wie "Scheiße, in meinem Keller liegt ne Leiche" habe ich nicht im Repertoire" grinste ich. Das Gespräch ging noch eine ganze Weile, bis Dag sich neben seinen besten Freund auf die Couch fallen ließ.
„Jetzt labert hier nicht die ganze Zeit rum, sondern lass mal was hören" sagte der sportliche Berliner während er sich eine Zigarette anzündete.
„Dürfte ich mir denn eine eurer Klampfen borgen? Ohne Gitarre in der Hand fühle ich mich beim Singen unvollständig" Ich schaute zu den Instrumenten und Vincent meinte, ich solle mir einfach eine aussuchen. Zielstrebig ging ich zu einer Fender mit Polizeiabsperrband als Schultergurt. Als ich das Instrument aber in die Hand nahm, fiel mir auf, dass dies eine Linkshänder Gitarre war und stellte sie traurig wieder an ihren Platz. Daneben stand eine baugleiche Gitarre, aber für Rechtshänder, die ich spielen konnte. Mit dem Instrument auf dem Schoß atmete ich einmal tief ein, schloss die Augen und begann zu singen.

Loving can hurt, loving can hurt sometimes
But it's the only thing that I know
When it gets hard, you know it can get hard sometimes
It is the only thing that makes us feel alive
We keep this love in a photograph
We made these memories for ourselves
Where our eyes are never closing
Hearts are never broken
And time's forever frozen still
So you can keep me inside the pocket of your ripped jeans
Holding me closer 'til our eyes meet
You won't ever be alone, wait for me to come home
And if you hurt me
That's okay baby, only words bleed
Inside these pages you just hold me
And I won't ever let you go
Wait for me to come home*

Das vibrieren meines Handys riss mich aus der Konzentration und ich beendete meine Gesangseinlage nach dem ersten Chorus.
Ich legte die Gitarre vorsichtig neben mich um nachzuschauen, wer mich gerade anrief. "Mama ruft an" war auf dem Display zu lesen.
Sie hatte in den letzten Tagen schon oft angerufen, nur um zu wissen, dass ich noch Lebe. Ein Blick auf die Zeitangabe meines Handys zeigte mir, dass mein Vater mal wieder mit seinen Kumpels in der kleinen Kneipe unseres Dorfes sitzen musste. Er wusste nämlich nichts von den Telefonaten, die wir führten. Für ihn war ich gestorben.
„Hallo Mama" sagte ich, nachdem ich mich kurz von den Jungs verabschiedet hatte und nun auf der Straße vor dem Studio stand.
„Hallo, Kind. Wie geht es dir?" fragte meine Mum am anderen Ende der Leitung. Irgendetwas an ihrer Stimme machte mich nervös.
„Mir geht es gut. Ist was passiert? Du klingst ziemlich aufgelöst" ich kramte meine Zigaretten aus der kleinen Tasche, die ich an meinem Gürtel trug und lehnte mich an die Hauswand.
„Bei deinem Vater und mir ist alles in Ordnung, aber der Martin ist im Krankenhaus. Er war mit seinem Arbeitskollegen gestern einen trinken und auf dem Nachhauseweg wurden die beiden überfallen. Es geht ihm den Umständen entsprechend, aber du solltest ihn vielleicht anrufen, oder du kommst am besten her. Martin braucht dich jetzt bestimmt." Ein lautes Schluchzen beendete den Satz.
Da war es wieder, das betteln nach Hause zu kommen. Genervt stöhnte ich auf. „Mama, Martin und ich sind getrennt, ich bin der letzte Mensch den er jetzt braucht. Außerdem läuft es gerade richtig gut bei mir. Im Moment stehe ich vor der Tür eines renommierten Produzenten und er hat sich meinen Gesang angehört. Ob es ihm gefallen hat, weiß ich noch nicht. Ich rufe Martin gleich an und erkundige mich nach seinem befinden, ok?"
Ihr Augenrollen war förmlich zu spüren.
„So haben wir dich nicht erzogen, junge Dame. Du warst immer jemand, der sich mehr um andere gesorgt hat, als um sich selbst und jetzt bist du in der Hauptstadt und benimmst dich wie ein Sternchen. Das mit der Musik wird doch eh nichts. Aber du bist alt genug. Bis bald" Ohne auf eine Antwort zu warten, legte sie auf und ließ mich nach Luft schnappend zurück.

*Photograph - Ed Sheeran

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