Kapitel 9


„Und du bist dir sicher, dass du nicht mitkommen willst, Leah?", fragte Ale bestimmt schon zum hundertsten Mal. „Dir würde unsere Weihnachtsfeier garantiert gefallen." Mit nach oben gezogenen Augenbrauen sah sie mich an und hoffte, dass ich meine Meinung doch noch ändern würde.
„Das bezweifle ich auch gar nicht, aber ja, ich bin mir sicher. ich bleibe lieber hier. Trotzdem danke für das nette Angebot." Ich schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln bevor sie verstehend nickte und zu ihrer Mutter ins Auto stieg. „Wir sehen uns dann in drei Tagen." Sie winkte mir noch einmal zu und schloss die Tür, die ein leises Klick von sich gab. Sachte winkte ich zurück und merkte, wie meine Laune noch die letzten Treppen in den Keller fiel und polternd auf den Boden krachte. Weihnachten ohne meine Familie zu verbringen war wirklich nicht das, was ich mir vorgestellt hatte, aber schließlich hatte ich keine andere Wahl. Und drei Tage bei Alejandra zu verbringen, klang auch nicht gerade verlockend. Klar, ich mochte sie, aber solange bei jemandem zu sein, ohne die Möglichkeit zu haben ins Auto zu steigen und davonzufahren, jagte mir eine Heidenangst ein. Ich besuchte gern Leute, aber länger als ein oder zwei Stunden hielt ich es normalerweise nicht aus. Und dann für drei Tage? Nein. Definitiv nicht. Also blieb mir nichts anderes übrig und wohl oder übel müsste ich dann damit klarkommen.
Missmutig schlenderte ich zurück zum Gebäude, kickte ein paar Kieselsteine herum, die sich auf dem Beton-Steg berührt hatten und versuchte alle Gedanken an Zuhause zu verbannen. Ich hatte die Entscheidung, herzukommen, alleine getroffen und ich würde das auch durchziehen.
Als ich an der Küche vorbei kam, entschloss ich spontan einzutreten und traf auf Lucas, der mir mit dem Rücken zugewandt am Tisch stand und gierig ein paar bunte Weihnachtsplätzchen vertilgte.
„Fröhliche Weihnachten", begrüßte ich ihn und durchbrach somit die drückende Stille, die bisher nur von seinem Schmatzen unterbrochen wurde.
Erschrocken fuhr er herum und sah mich mit aufgerissenen Augen und vollem Mund an.
„Scheiße, hast du mich erschreckt", quasselte er und schluckte panisch. Ein verlegenes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht bemerkbar. „Außerdem ist erst morgen Weihnachten."
„Schon klar. Und um in Weihnachtsstimmung zu kommen, muss man schon einen Tag vorher von Ms Valeria's Plätzchen naschen." Schmunzelnd beobachtete ich, wie seine Wangen rot anliefen.
„Das... Das ist nicht so wie es aussieht. Ich wollte lediglich... ähm... es war ein Unfall. Irgendwie." Seine Wangen verfärbten sich immer stärker.
„Dein Geheimnis ist bei mir sicher", flüsterte ich amüsiert und kniff ihm in die Wange.
Hastig wischte er sich mit dem Handrücken über die Stelle und sah mich vernichtend an, was mir allerdings ein Kichern entlockte. Er war einfach zu süß, wenn er sich aufregte.
Aufgebracht stampfte er an mir vorbei aus der Küche und murmelte noch etwas Unverständliches. Ich konnte ein lautes Lachen nicht länger unterdrücken und hörte, wie die Tür heftig zugeknallt wurde.
Immer noch grinsend griff ich in die Glas Schüssel und nahm selber ein Plätzchen, bevor ich mich auf den Weg in mein Zimmer machte.

Rückwärts ließ ich mich auf mein Bett fallen und starrte an die weiße Zimmerdecke. Ich war wirklich nicht in Weihnachtsstimmung und das würde sich auch nicht ändern, solange Roy, Mike und meine Eltern nicht dabei waren. Wie ich es hasste, so weit weg von ihnen zu sein!
Schon so oft hatte ich solche Gedanken verdrängt, aber heute gestattete ich mir, über sie nachzudenken. Was sie dieses Mal wohl an Heiligabend machen würden? Seit zwei Jahren war Roy schon immer bei unseren Familienfeiern mit dabei gewesen, aber wäre er es heute auch? Was ich nicht alles geben würde, um nur diesen einen Abend mit ihnen verbringen zu können!
Ich spürte, wie sich eine beißende Traurigkeit in mir ausbreitete. Seufzend rollte ich mich auf die Seite und nahm mein Handy, das die meiste Zeit unter meinem Kissen verbrachte. Als ich es entschlüsselte, fiel mein Blick unwillkürlich auf das Hintergrundbild auf dem Display. Es war das Photo, das wir an dem Abend geschossen hatten, als wir uns vor fast zwei Jahren das erste Mal geküsst hatten. Wehmütig starrte ich auf Roy, der seine Wange an meinen Kopf drückte und in die Kamera strahlte.
Zärtlich fuhr ich mit dem Zeigefinger über sein Gesicht und stellte mir vor, seine kurzen Bartstoppeln unter meiner Fingerspitze spüren zu können. Heiße Tränen bahnten sich ihren Weg an die Oberfläche und ich versuchte gar nicht einmal, sie aufzuhalten. Zitternd presste ich das Handy auf meine Brust und verfiel in hemmungsloses Schluchzen. Vielleicht würde sich die klaffende Leere in meinem Herzen somit verringern, wenn auch nur ein winziges bisschen.
Nach gefühlten Stunden stand ich auf und wischte mir die losen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Langsam und schweren Herzens schlurfte ich ins Badezimmer, um mich ein bisschen frisch zu machen. Es war Heiligabend und ja, ich würde ihn nicht mit meine Lieben verbringen, aber ich hatte einen Entschluss gefasst. Es brachte mir nichts, wenn ich in meinem Zimmer saß und Trübsal blies und deswegen würde ich meiner Familie die Ehre erweisen, die sie verdient hatten.
Nachdem ich mir die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und die Zähne geputzt hatte, zog ich meinen Koffer, der mittlerweile nur noch ein paar Sachen enthielt, von unter dem Bett hervor und kramte die Bilder aus, die ich von Zuhause mitgebracht hatte. Ich suchte eins heraus, das meine Eltern abbildete, eins wo Mike und Roy drauf waren und zu guter Letzt noch ein Selfie, dass uns allen zeigte. Es wurde letzte Weihnachten aufgenommen. Ganz behutsam stellte ich alle auf die Komode auf und legte meinen Herzanhänger davor auf die glatte Oberfläche.
Schnell eilte ich zurück in die Küche, um nach ein paar Kerzen zu suchen. Ich wühlte in ein paar Schubladen rum, aber ich wurde nicht fündig.
„Leah? Was machst du hier?" Ms Valeria schien wirklich überrascht zu sein, mich hier so beschäftigt zu sehen.
„Ich suche nach ein paar Kerzen. Tut mir leid, dass ich nicht gefragt habe, Ms Valeria. Kommt nicht wieder vor." Peinlich berührt starrte ich auf den Boden vor meinen Füßen.
„Ach, Quatsch. Du musst nicht meine Erlaubnis dafür haben. Sie sind auf dem Geschirrschrank. Und außerdem, lass das Miss weg. Einfach nur Valeria." Sie lächelte mich liebevoll an und ich erwiderte es.
„Herzlichen Dank, Valeria!"
Und schon verschwand sie und ließ mich allein zurück. Ich wandte mich dem Schrank zu, rückte einen Stuhl heran und stieg hinauf, um die Kerzen zu holen. Es dauerte nicht lange bis ich sie fand und vorsichtig wieder runter stieg, bevor ich mir ein Feuerzeug schnappte und zurück in mein Zimmer eilte.
Bedächtig reihte ich mehrere Teelichter auf die Komode, in einem gewissen Abstand zu den Bildern und zündete sie an. An jedem Ende stellte ich eine große und eine etwas kleinere Kerze hin.
Zufrieden betrachtete ich mein Werk und lächelte breit. Ich griff nach meinem Handy, das auf dem Bett lag und suchte nach dem Album mit den Weihnachtsliedern. Ohne noch lange überlegen zu müssen, drückte ich auf den Titel meines Lieblingsweihnachtslieds "Joy to the world" und griff anschließend nach dem Feuerzeug, um den Kerzen Leben einzuhauchen.
Ich sah mich prüfend im Zimmer um. Alles war fertig, nur fehlte meinem Magen auch noch etwas. Oder besser gesagt, schon wieder etwas. Das mit dem in die Küche laufen hatte ich heute irgendwie drauf und ich rollte genervt mit den Augen. Eigentlich war Bewegung gut für meinen Zustand, also lief ich entschlossen zurück, machte mir einen kleinen Snack bereit, der aus eine Portion Zimtrollen und einem Glass stillem Wasser bestand und begab mich wieder in mein Zimmer. Ich legte alles im Bett ab, bevor ich es mir da ebenfalls im Schneidersitz gemütlich machte und genüsslich in den süßen Teig der Rolle biss.
Mit einem liebevollen Blick auf die Bilder meiner Familie, die mir dieses Mal Gesellschaft leisten würden, murmelte ich ein ”Fröhliche Weihnachten" und widmete mich wieder meinem Gebäckstück.

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