Kapitel 33
Ein spitzer Schmerz enstand, als er meine Finger noch fester drückte und reflexartig entzog ich ihm meine Hand. Das musste ihm wohl in die Gegenwart zurück versetzt haben, denn er zuckte leicht und sah mich dann fragend ins Gesicht. Plötzlich weiteten sich seine Augen kaum merklich und ein gequälter Ausdruck legte sich auf seine Gesichtszüge.
„Ich wollte nicht", stammelte er, „ich wollte dir nicht weh tun, bitte, verzeih mir." Reumütig sah er mir in die Augen.
„Ach, Roy, das war nichts. Vergiss es, okay?" Wieder kuschelte ich mich an ihn und genoß das kaum wahrnembare Flattern in der Magengegend, als er mich zärtlich drückte. Schon seit einer ganzen Weile saßen wir auf dem Fußboden in meinen Schlafzimmer und genoßen die Nähe des Anderen.
„Ich war in Gedanken", fügte er leise mach einer Weile hinzu und räusperte sich. „Äh, wer war denn dieser alte Mann dann, der gestern neben dir saß?"
Ich schmunzelte. „Das ist Mr. Richard Thompson. Er kam zur Hochzeit gestern, die Braut ist eine Verwandte von ihm. Nach der privaten Feier hat er uns allen hier im Hotel mit einem kleinen Snack überrascht", erwiderte ich, als mir plötzlich etwas auffiel. Wie wusste Roy, dass Mr. Thompson gestern neben mir gesessen hatte? Das konnte er eigentlich nicht wissen, es sei denn, jemand hätte es ihm erzählt. Oder... Mein Herz setzte einen Schlag aus. Oder er hatte es mit seinen eigenen Augen gesehen!
Er musste den Grund meiner plötzlichen Anspannung bereits erraten haben, denn er bestätigte meinen Verdacht.
„Ja, ich hab euch gestern gesehen", gab er leise zu. Er stützte sein Kinn auf meinem Kopf ab.
„Aber wieso bist du dann nicht schon früher zu mir gekommen?", wollte ich mit heftig klopfendem Herzen wissen. Gestern war er schon hier gewesen. Eine ganze Nacht hatte er in mittelbarer Nähe verbracht und ich hatte nicht mal den Hauch einer Ahnung gehabt! Das verletzte mich ein bisschen, ob ich das nun wollte oder nicht.
„Das wollte ich ja, aber als ich euch so glücklich lachend zusammen sah, war das irgendwie eine Bestätigung von dem, was die Jungs mir erzählt hatten", gab er unsicher zu.
„Oh“, war alles, was ich im Moment sagen konnte. Das war ja selbstverständlich. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Innerlich schlug ich mir die Hand an die Stirn.
„Weißt du“, fing ich an, „er ist jemand, der gerne Zuneigung zeigt. So, wie die Einheimischen es oft tun." Es war mir unangenehm, wenn ich daran dachte, dass er mir die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Nicht, dass ich generell etwas gegen solche Gesten hegte, nur waren sie mir zu persöhnlich. Egal ob es un ein Einheimischer war, der die ausübte oder nicht.
„Er scheint dich zu mögen", hörte ich ihn leise sagen.
„Wir verstehen uns gut", gab ich ehrlich zu.
„Offen gestehen, freut mich das sogar. Ich hab so manche Nacht vor Sorgen nicht schlafen können, weil ich befürchtete, dass du irgendwo im Nirgendwo ganz allein auf dich gestellt wärst."
Hastig schüttelte ich den Kopf und eine Strähne fiel mir in die Stirn. „Alejandra und Julia haben sich hervorragend um mich gekümmert. Ich habe mich hier recht schnell wohl gefühlt."
„Alejandra, ist das die Kleine mit dem temperamentvollem Karakter?", fragte er amüsiert.
Auch ich musste schmunzeln. „Sagen wir mal so, sie steht für Dinge ein, an die sie glaubt. Entweder sie ist mit ganzem Herzen dabei, oder gar nicht." Ich musste an die Szene von vorhin denken, wie sie Roy aus dem Raum schicken wollte. Das entlockte mir jetzt, da alles vorbei war, ein wohliges Lachen.
„Ja, ja", sagte Roy grinsend, „mach dich nur über mich und meinem Leid lustig!"
Ich löste mich schnell aus seinen Armen und setzte mich auf den Knieen hin. Mit beiden Händen umfasste ich sein Gesicht. Seine gut gepflegten Baarthaare verursachten ein leichtes Kitzeln in meinen Handflächen, das aber alles andere als unangenehm war. Das Lächeln in meinem Gesicht wurde breiter, als ich ihm flüsternd antwortete: „Immer wieder gern!"
Dann beugte ich mich vor und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen, den er sofort erwiederte und vertiefte, während er mich vorsichtig umarmte.
Auf einmal schob er mich sanft, aber hastig von sich und sah mich mit entsetzten Augen an.
„Mein Tod steht unmittelbar vor der Tür", rief er. „Mike wird mich umbringen!”
Leichte Panik über sein plötzliches Benehmen kroch mir den Nacken hoch. „Was redest du denn da?", wollte ich aufgeregt wissen.
„Dein Bruder hat mir geholfen, dich aufzuspüren”, erwiderte er etwas ruhiger. „Aber ich habe ganz vergessen, ihm Bescheid zu geben, dass ich eigentlich gestern schon wusste, wo du steckst." Er schnitt eine Grimasse.
„Achso", antwortete ich erleichtert, „du hast mir aber ganz schön einen Schrecken eingejagt!" Puh! Der Knoten, der sich in meinem Magen gebildet hatte, löste sich auf und verwandelte sich in Freude.
„Halb so wild. Mit "Schrecken" kenne ich mich aus." Er zwinkerte mir vielsagend zu, wobei ein Lächeln seinen Mund umspielte.
Autsch. Ja, das hatte ich mehr als verdient. Deswegen konnte ich nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern, während er wild in seine Hosentaschen herum krammte und wohlmöglich nach seinem Handy suchte und anschließend energisch auf dem Display herum tippte.
Keine Ahnung, wie lange wir so da saßen und uns einfach an der Gegenwart des Anderen erfreuten. Doch irgendwann erwähnte ich, dass wir wohl eine Menge zu besprechen hätten und so kam es, dass wir es uns auf der grauen Fußmatte gemütlich machten. Mit dem Rücken an die Wand saß Roy da, ich mit meinem Körper an seine Brust gelehnt. Ich legte mein Ohr an seinen warmen Brustkorb und lauschte seinem ruhigen Herzschlag.
Ich spürte, wie er seine Hand langsam auf meinen Kopf legte und erst unsicher, aber bald selbstbewusster über mein Haar strich. Diese liebevolle Geste traf mich tief und nur mit Mühe unterdrückte ich ein paar Freudentränen. So nah wie möglich es mit meinem kleinen, aber deutlich wahrnembaren Babybauch ging, kuschelte ich mich an ihn und seufzte wohlig.
Keiner wollte die wunderbare Atmosphäre zerstören und deshalb schwiegen wir beide. Von alldem, was ich verstanden hatte, wollte ich aber unbedingt wissen, wie es dazu gekommen war, dass er mich für verheiratet gehalten hatte. Und ich war mir sicher, dass er mir fragen würde, wieso ich ihm nichts von der Schwangerschaft gesagt hatte, sondern nur still ausgezogen war. Wenn ich jetzt zurück blickte, wusste ich das selber nicht mehr so genau. Ja, damals hatte ich das für das Richtige gehalten, aber wenn ich jetzt alles nochmal entscheiden könnte, wäre Einiges vielleicht anders ausgefallen.
Sein raues Räuspern riss mich aus meinen Gedanken. Unwillkürlich fing mein Herz an schneller zu schlagen, weil ich, wenn ich ehrlich war, nicht wirklich wusste, wie ich ihm meine Sicht der Dinge verdeutlichen könnte.
„Das von vorhin tut mir leid, Leah." Der raue Unterton in seiner Stimme verriet mir, das ihm das Sprechen nicht unbedingt leicht fiel.
„Mir tut auch so Vieles leid", erwiderte ich ehrlich.
„Ich hätte dich nicht anschreien dürfen. Ich war so wütend, weißt du? Ich hatte mich selber nicht im Griff." Die letzten Worte waren nur ein Flüstern.
„Schon gut, Roy. Du hattest, wie ich aus deinen Worten entnehmen konnte, einen guten Grund dazu." Beruhigend malte ich mit meiner Fingerspitze kleine Muster auf seinem behaarten Arm. Die langen Ärmel waren aufgeschoben und ermöglichten mir diese Tat, ohne jegliche Hindernisse.
Nach einer Weile des Schweigens seufzte er schwer. „Ich konnte ja nicht wissen, dass die Aussage der Jungs nicht stimmt."
Ich wurde hellhörig. „Welche Jungs?", fragte ich stirnrunzelnd, „doch nicht etwa Lukas oder James? Oder vielleicht Will?"
„Wer ist das denn?", wollte er wissen.
„Die Laufburschen, die hier arbeiten”, erwiderte ich.
„Dann sind es wahrscheinlich nicht die gewesen, nein. Außerdem meine ich mich zu erinnern, dass der eine auf den Namen "Ian" gehört hat", erläuterte er mir.
„Hmm, kenne ich nicht", gab ich schulterzuckend zu.
„Jedenfalls sagten sie mir,... Warte, am Besten ist es wohl, wenn ich von vorne anfange und alles der Reihe nach erzähle." Er winkelte seine Kniee leicht an und legte seine starken Arme um mich. Behutsam und vorsichtig. Ein, vor Liebe sprudelndes Lächeln legte sich auf meine Lippen.
„Das wäre wohl das Klügste", stimmte ich mit ein.
Ich spürte an meiner Wange, wie seine Brust sich ein paar mal tief senkte und anschließend jedes Mal wieder hob.
„Du kannst dir sicher vorstellen", fing er an, „dass ich am Boden zerstört war, als ich deinen Brief fand." Die Luft anhaltend, wartete er auf eine Reaktion meinerseits. Ich hätte wetten können, dass es ihm nicht entging, wie mein Körper sich leicht versteifte. Natürlich war mir genau diese Szene tausend Mal durch den Kopf gegangen, aber es so ehrlich aus seinem eigenen Mund zu hören, machte mir das Atmen schwer.
„Zuerst war ich sehr verletzt. Aber je länger ich darüber nachdachte, je weniger Sinn machte das Ganze. Ich wurde wütend, richtig wütend."
Oh ja, mein Lieber, glaub mir, dass kann ich mir vorstellen, dachte ich im Stillen.
„Ein mickriger, kurzer Brief", fuhr er forsch fort und ich war mir sicher, dass er das Ganze in Gedanken nochmal durchlebte, „Das war alles was, ich verdient hatte. Anschließend habe ich dich vor deinem Bruder stark beschuldigt, dass du mich nur loswerden wolltest."
Oh, oh. Das tat weh. Mit so einer Reaktion hatte ich ja gerechnet, aber irgendwie hatte ich im Hinterkopf immer den Wunsch gehegt, dass er es vielleicht doch sanfter fassen möge.
„Doch eines Abends", er machte eine kurze Pause, „eines Abends hat Mike mir trocken und auf unangenehmer Weise den wirklichen Grund deines Verschwindens genannt."
Beide hielten wir den Atem an. Niemand wagte, sich zu regen und eine eiserne Stille nahm Besitz von uns ein. Wieso war es so komisch, von Angesicht zu Angesicht über etwas zu reden, das längst passiert war? Gott hatte mir vergeben, dessen war ich mir sicher, also war es jetzt an der Zeit, richtig mit der Sache umzugehen. Sachte legte ich meine Hand auf meinen Bauch, der langsam, aber sicher, immer mehr an Umfang zunahm. Das hätte nicht passieren dürfen, das wussten wir beide. Aber es war passiert. Doch das hieß nicht, dass Gott uns deswegen verstoßen hatte, keineswegs! Zwar würden Viele aus meinem Dorf es so sehen, aber ich fühlte tief in meinem Herzen, dass ich Vergebung darüber empfunden hatte.
Plötzlich spürte ich, wie sich eine warme, große Hand über Meine legte. Ein heißer Schauer überrollte mich und mir wurde leicht schwindelig. Mein Herz schlug unregelmäßig und eine tiefe Zuneigung erwachte in mir.
„Wieso hast du mir nichts gesagt, Leah?", flüsterte er.
Ich spürte, wie etwas auf meinen Haaren tropfte und war mir bewusst, dass es sich um Salzwasser handelte. Eine bleierne Hand legte sich um meinen Hals. Wieso hatte ich ihm, der Liebe meines Lebens so viel Schmerz zugefügt? Genau deswegen: aus Liebe. Ich wollte ihm ein Leben im Haß der Gesellschaft ersparen.
„Es tut mir leid, Roy", fing ich leise zum weinen an. Ohne Erfolg, versuchte ich die Tränen aufzuhalten, die über meine Wangen liefen.
„Schh, schh, jetzt wein doch nicht, bitte", bat er leise und wiegte mich leicht hin und her. „Ist ja schon gut."
Nachdem ich mich beruhigt hatte, sprach ergriff er wieder das Wort. „Und als ich das von deinem Bruder erfuhr, habe ich alles meinen Eltern gebeichtet."
Und ein Schauer des Schams raste durch meinen Körper.
„Anfangs haben sie nicht gerade positiv reagiert." Er gab ein trauriges Lachen von sich. „Aber später haben sie mich in meinem Vorhaben, dich zu suchen, bestärkt und so bin ich aufgebrochen."
Ich ließ seine Worte auf mich wirken. Seine Eltern hatten sogar gewollt, dass er mir in dieser Sache beisteht. Whoa, das tat von Herzen gut!
„Mit einem Foto von dir, bin ich umher gereist, mal hier, mal da gefragt, ob jemand dich gesehen hätte und als ich in der Bus Station eine Juwelen Kassiererin traf, die mir ein paar Informationen liefern konnte, war ich natürlich noch fester entschlossen, das durchzuziehen."
Juwelen? Etwa die Unfreundliche, die mir den Ring verkauft hatte? Ich konnte mir schwer vorstellen, dass sie auf einmal plötzlich jemandem helfen wollte, aber gut, wenn Roy das sagte, würde es auch stimmen.
Ich nickte, als Bestätigung, dass ich ihm glaubte. Denn er wirkte plötzlich nervös und bewegte sich unruhig hinter mir. Um ihm das Gefühl zu geben, dass ich immer noch zuhörte und seinen Worten Glauben schenkte, drückte ich leicht seine Hand, die immer noch auf meinem Bauch ruhte.
„Dann kam ich zum Supermarkt hier”, fuhr er fort, ”und erfuhr von einer Gruppe Teenager, dass du, äh, dass jemand gestern geheiratet hätte."
Aha. So war das also. Kein Wunder, dass er dann so verwirrt, wütend und verletzt bei mir aufgetaucht war, nach alldem, was er auf sich genommen hatte.
„Die müssen mich mit der Braut verwechselt haben", sagte ich leise und versuchte Roy's Gefühle nachzuempfinden, die er in dem Moment gehabt haben musste. Erst Schock und Unglauben, aber dann Trauer und Wut. Aber gut, dass wir jetzt alles in Ruhe hatten klären können.
”Ja, wahrscheinlich”, stimmte er mir zu. „Naja”, fuhr er rasch fort und machte Anstalten, aufzustehen. „Wir Haben schon genug Zeit verloren, Leah. Lasst uns jetzt für die Zukunft planen. Unsere Zukunft.” Er lächelte mich warm an.
Mein Herz schwoll an vor Stolz und Zuneigung. „Nichts lieber als das!”
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