Kapitel 30
Wütend warf ich meinen rechten Schuh durch den Raum, der an die andere Seite des Raumes an die cremefarbene Wand krachte und dort einen hässlichen Fleck hinterließ. Mein Hemd war schon vor ungefähr einer halben Stunde durch den Raum gesegelt, genau wie der Rucksack. Die Hitze, die ich der Nervosität wegen empfand, war kaum mehr auszuhalten. Mein Herz raste viel zu schnell und die Gedanken in meinem Kopf fuhren Karussell. Keinen Einzigen konnte ich stoppen, ergreifen und überdenken. Sobald ich das Chaos in meinem Verstand ein bisschen geordnet hatte, entstand ein Wirbelwind der Gefühle, der alles wieder durcheinander schmetterte.
Unruhig, wie ein Tiger in einem Käfig, wanderte ich schon seit geraumer Zeit zwischen dem hellbraun bezogenen Einzelbett und der ebenfalls hellbraunen Kommode hin und her, den linken Schuh fest in der Hand umklammert. Ich musste das hier durchziehen, ich hatte doch nichts lieber gewollt als das. Aber seit ich mit den vier Jungs gesprochen hatte, hatte sich alles in Luft aufgelöst. Da war nichts mehr. Kein Plan, kein Vornehmen, nicht einmal eine Vorstellung von dem, was ich am Besten tun sollte. Und genau das trieb mich in den Wahnsinn. Wäre doch nur Mike hier, der könnte mir vielleicht die Sache aus seiner Sicht der Dinge schildern und gemeinsam hätten wir eine Lösung gefunden. Mike. Oh weh! Nein! Mike war wohlmöglich immer noch irgendwo unterwegs auf der Suche nach brauchbaren Infos, die uns weiterhelfen könnten! Frustriert stieß ich einem Schrei aus. Auch das noch! Wie konnte ich vergessen, ihm gestern Abend noch Bescheid zu geben!? Das würde er mir nicht so schnell verzeihen, aber im Moment hatte ich keinen Kopf für sowas. Die angestaute Wut in mir loderte hell auf und mit voller Wucht schleuderte ich auch den anderen Schuh durch die Gegend, der mit einem lauten Knall an die Tür schmetterte und anschließend auf dem Boden landete.
Wieso musste auch alles so ganz anders kommen, als geplant? Es schien so, dass, wenn ich ein Problem gelöst hatte, sieben Andere entstanden. Aber eins wusste ich mittlerweile: ich musste mich beruhigen. Und zwar sofort. So konnte es nicht mehr weitergehen.
Also entschloss ich eine Dusche zu nehmen, mich zu entspannen, so gut es eben ging und Gott um Hilfe, Kraft und Mut zu bitten. Ja, das war wohl die weiseste Entscheidung, die ich heute getroffen hatte.
Nach einem ausgiebigen Bad in einer großen Badewanne und einem intensiven Gespräch mit meinem himmlischen Vater, fühlte ich mich schon viel besser. All meine Sorgen, Ängste und Probleme hatte ich ihm übergeben und ich war mir sicher, dass er mir damit helfen würde. Er hatte mich noch nie im Stich gelassen und das würde er auch diesmal nicht. Mein Herz war zwar noch schwer im Angesicht meiner ungewissen Zukunft, aber auch damit würde er mir helfen.
Als ich in meiner neuesten, schwarzen Jeanshose und meinem langärmeligen, grauen Hemd vor meinem Zimmer stand, atmete ich tief durch. Langsam und darauf bedacht, meine innere Fassung nicht wieder zu verlieren, schloss ich die Tür hinter mir. Jetzt musste ich nur noch Leah finden. Ein schneller Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits früher Abend war. 6:42. Lange genug hatte ich jetzt mit mir gerungen, nun war es an der Zeit, mich dem nächsten Problem zu stellen. Die Stunde der Wahrheit war gekommen!
Leise, diesmal in sorgfältig geputzten Schuhen, schritt ich den Gang entlang der mich in die Rezeptions Abteilung brachte. Zu meinem Bedauern war im Moment niemand da, den ich nach Leah Anderson fragen konnte. Also musste ich wohl weiter suchen. Am besten in der Küche, dessen Tür immer noch ein Spalt breit offen stand.
Gerade wollte ich anklopfen, als ich gedämpfte Stimmen vernahm. Ich lugte hinein, aber niemand war zu sehen. Also lauschte ich genauer und, falls meine Ohren mich nicht trügten, kamen sie aus der Richtung gegenüber der Theke. Vorsichtig machte ich mich auf dem Weg. Schritt für Schritt, mit klopfendem Herzen und schwitzenden Händen. Eine schmale Tür lag an dieser Seite des Raumes und unsicher klopfte ich an. Ich könnte immer noch abhauen, fuhr es mir durch den Kopf, aber so schnell dieser Gedanke auch gekommen war, so schnell verwarf ich ihn wieder.
Niemand öffnete. Ich klopfte erneut an, diesmal ein bisschen lauter, doch nichts passierte. Als beim dritten Mal immer noch niemand aufmachte und das Gequatsche und Lachen immer noch in derselben Lautstärke weiter ging, drehte ich den Türknauf und schob die Tür auf. Die Stimmen konnte ich jetzt zwar lauter vernehmen, aber su sehen war immer noch niemand. Also bog ich zur rechten Seite ab und ging noch ein Stückchen weiter. Die Unruhe und Unsicherheit machten sich in meinem Herzen wieder bemerkbar. Bitte, hilf mir, Gott, bat ich und atmete anschließend ein paar Male tief durch. Als ich zur nächsten Tür kam wollte ich gerade anklopfen, als plötzlich ein helles, unverkennbares Lachen zu mir hinüber drang. Ich zuckte vor Schreck zusammen. Leah! Das war sie gewesen, das wusste ich mit absoluter Bestimmtheit. Eine tiefe, unergründliche Freude durchflutete mich und ließ mich erschaudern. Außerdem breitete sich eine Gänsehaut auf meinen Armen aus und meine Lippen verzogen sich zu einem übergroßen Lächeln. Das intensive Pochen meines Herzens fühlte ich im ganzen Körper und eine heiße Welle überrollte mich. Eine Tür trennte mich von der Liebe meines Lebens. Eine Tür, die in just diesem Moment aufging und ich wäre vor Schreck fast durch die Decke gesprungen. Eine rundliche Dame, mit weißer Schütze trat heraus, ließ die Tür hinter sich offen stehen und nickte mir lächelnd zu.
Und plötzlich stand mein Herz still. Wenn es vorhin noch rasend schnell geschlagen hatte, so versagte es seinen Dienst jetzt gänzlich. Nur wenige Meter vor mir, in einem wunderschönen roten Kleid saß Leah, doch sie bemerkte mich nicht. Ihr helles Lachen drang nur dumpf an meine Ohren, denn ich war gefesselt von diesem Anblick der sich mir bot und blendete alles andere aus. Ihr braunes Haar war in eine elegante Hochsteckfriseur geflochten worden und nur einzelne Strähnen fielen ihr auf die Schultern und ins Gesicht. Ihre Augen leuchteten und die vollen, roten Lippen hatte sie zu einem breiten Lächeln verzogen. Tränen der Rührung und der Freude traten mir in die Augen, doch ich war nicht fähig, mich auch nur einen Millimeter vom Fleck zu bewegen. Mein Blick glitt an ihrem Körper hinunter, wie um sicher zu gehen, dass sie es wirklich war und - blieb an der leichten Wölbung ihres Bauches hängen. Wie vom Donner gerührt stand ich da und wusste meine Gedanken nicht zu ordnen. Mein Kind! Sie trug unser gemeinsames Kind unter ihrem Herzen! Eine heiße Träne tropfte auf meine Hand und riss mich aus meiner Starre. Seit wann weinte ich denn schon? Zitternd und schwach am ganzen Körper, entschloss ich, mich bemerkbar zu machen, als mein Blick auf etwas ganz anderes fiel. Oder besser gesagt auf jemand anderem. Und das, was ich sah, riss mir das Herz aus dee Brust! An ihrer rechten Seite saß ein älterer Herr, mindestens doppelt so alt wie sie, in einem wohlmöglich maßgeschneiderten, schwarzen Anzug und legte im Moment gerade seine Hand auf ihre Schulter, an dessen Finger ein silberner Ring glänzte. Er beugte sich leicht vor und raunte Leah etwas ins Ohr. Und ihre Reaktion darauf tat den Rest zu meinem kaputten Herzen und verwandelte es in winzige, blutende Teile: Sie schmiegte sich für ein paar Sekunden an ihm! All die überwältigende Freude, die ich vorhin verspürt hatte, war plötzlich wie weggeblasen. Mein Inneres war leer. Da war gar nichts mehr. Nur noch eine betäubende Leere, die mich ins Verderben zu reißen schien.
Langsam und so leise es ging, machte ich ein paar benommene Schritte rückwärts, bis ich mir sicher war, dass mich niemand mehr sehen konnte. Ganz leise drehte ich mich um und eilte zu meinem Zimmer. Es fühlte sich so an, als träume ich und das, was vor ein paar Sekunden passiert war, wäre nur ein schlechter Albtraum. Denn meine Gefühle waren irgendwie weg. Ich fühlte nichts. Nicht einmal Trauer oder Wut. Einfach nichts.
Wieso dann, zitterte meine Hand so sehr, als ich die Tür aufschloss? Wieso waren meine Kniee plötzlich so schwach und wieso drohte eine pechschwarze Finsternis meiner Überhand zu nehmen?
Und dann, dann verstand ich. All die Puzzleteile fügten sich wie von magischer Hand zusammen und verwandelten sich in ein Bild. Ein Bild, das sich in mein Herz brannte, dessen feurige Glut mein Herz gierig verzerrte und nur noch einen Klumpen Asche hinterließ. Ein Bild, dass mir die Seele raubte und nichts weiter, als eine Leere Hülle hinterliess. Höhnisch lachend sah ich die Beiden vor mir, wie sie mit dem Finger auf mich zeigten und sich an ihrem Sieg erfreuten.
Laut schluchzend fiel ich auf mein Bett. Es war mir egal, dass ich die Schuhe noch anhatte, es war mir egal, dass meine Kleidung zerknitterten, alles woran ich denken konnte, war das, was ich gerade not eigenen Augen gesehen hatte. Ich presste mein Gesicht in das Kissen, schrie immer und immer wieder: „Wieso Leah? Wie konntest du mir das nur antun?“ Der Schock war vorüber und zurück blieb die bitterkalte, schneidende Realität, die jede einzelne Träne in mir forderte. Das Salzwasser strömte erbarmungslos in heißen Bächen aus meinen, mittlerweile brennenden Augen und durchnässte die Oberfläche des sauberen Kissens komplett. Immer wieder zog meine Herz sich schmerzhaft zusammen, als ob tausende Nadeln in meinen Brustkorb gestoßen wurden. Wenn das erste Mal, als ich sie verloren hatte, hart gewesen war, so gab das hier dem Wort "hart" eine vollkommen neue Definition. Eine grausame Definition. Eine, mit der weder mein Körper, noch mein Herz umzugehen verstand.
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