Kapitel 3
Nachdem Mike meinen schweren Koffer im Kofferraum seines Wagens verstaut hatte, nahm ich meinen Rucksack und platzierte ihn auf den hintersten Sitz seines schwarzen Volkswagens. Ich warf einen Seitenblick auf Mam, die mit verweinten Augen und mit auf die Brust gepresste Hände, im Türrahmen stand und mir traurig zusah. Ihre zerzausten grauen Haare bewiesen, dass sie sich heute nicht mal die Mühe gemacht hatte, sie in Ordnung zu bringen, obwohl sie das eigentlich immer sehr sorgfältig tat. Mein Vater erschien plötzlich hinter ihr und legte seine Hände so behutsam auf ihre Schultern, als ob sie jeden Moment zerbrechen könnte. Und ich war mir sicher, dass Mam nicht weit davon entfernt war, tatsächlich um zu fallen. Es wurde mir eng in der Brust, aber es gab kein Zurück mehr. Langsam, mit gesenktem Kopf ging ich auf meine Eltern zu und blieb unschlüssig vor ihnen stehen. Doch sofort warf meine Mutter sich um meinen Hals und fing an zu weinen. „Mein liebes Kind, pass auf dich und unseren Enkel auf. Möge Gott dich beschützen. Ich liebe dich, Leah. Und du sollst wissen, wir lieben auch euer Kind jetzt schon". Immer heftiger schluchzte sie und auch ich konnte meine Tränen nicht mehr zurück halten. Fest drückte ich meine Mam und ich fühlte, wie sich eine heiße Tränenspur auf meine Wangen bildete.
„Hab dich so lieb, Ma". Mehr konnte ich nicht herausbringen. Schließlich trennte ich mich von ihr, drückte noch einmal ihre Hand und wandte mich meinem Vater zu. Er trat etwas vor und umarmte mich ganz fest. Ich presste meinen Kopf an seine Brust und schluchzte herzzerreißend. Mein ganzer Körper bebte und diesmal versuchte ich erst garnicht, tapfer zu wirken. Als die Küchenuhr plötzlich ankündigte, dass es nun drei Uhr war, löste ich mich ungern aus der wohltuenden Umarmung. Es wurde langsam Zeit aufzubrechen. Ich sah meinem Vater ganz tief in die Augen und versuchte zu lächeln. "Pa, ich liebe dich". Mehr als ein Flüstern war nicht zu hören.
Liebevoll legte er seine Hand an meine Wange und ich sah, dass sein unrasiertes Kinn zitterte. "Ich dich auch, Schatz, ich dich auch. Und vergiss nicht, du wirst immer mein kleines Mädchen sein". Seine Stimme versagte.
Ich gab meinen Eltern noch einen liebevollen Kuss auf die Wange und wandte mich dem Auto zu. Fest entschlossen und ohne mich noch einmal umzudrehen, öffnete ich die laut quietschende Tür und stieg ein. Ich rückte meinen knieelangen Rock zurecht und strich mir ein paar dunkelbraune Haarsträhnen aus dem Gesicht.
Mike stieg auch ein und startete den Motor, der zuerst verdächtig knatterte, aber irgendwannn doch noch ansprang. Tja, so ganz neu war der Wagen längst nicht mehr, aber immerhin gab es noch nicht seinen Dienst auf.
Wir passierten einige größere Bauernhöfe, dann die alte weiße Kirche und schließlich ein Laden, in dem ich unzählige Male einkaufen gewesen war. Das würde sich so schnell wohl nicht mehr ergeben. Der Hof, der an dem Parkplatz des Ladens grenzte, war schön gepflegt. Der Rasen war geschnitten und ein kleiner Blumengarten lag etwas seitlich hinter dem großen Holzhaus. Ich hatte schon immer gefunden, dass es fast wie ein Sommerferien-Haus aussah. Wie gern war ich jedes Mal die drei Stufen hinauf gelaufen um mich dann in Roy's Arme zu werfen. Aber das war jetzt ein für allemal vorbei. Wieder kämpfte ich mit den Tränen.
„Kannst du, bitte, kurz anhalten?" Flehend sah ich meinen Bruder an. Etwas unsicher nickte dieser und parkte dann am Straßenrand. Schweigend saßen wir da und ich starrte aus dem Fenster. Ich versuchte mir jede Einzelheit des Hofes einzuprägen und die damit verbundenen Erinnerungen noch einmal aufleben zu lassen. Einige Minuten später öffnete sich plötzlich die Tür und ein hochgewachsener, junger Mann trat heraus, den ich sofort wieder erkannte.
Meine Hand schoss nach oben und ich presste sie auf meinen Mund. Mein Herz raste und die Schläfe hämmerte viel zu stark.
„Verflixt, fahr los. Schnell".
Mike runzelte die Stirn, aber tat wie befohlen ohne zu widersprechen und lenkte die alte Rostlaube zurück auf den Kieselweg. Die Tränen, die ich bisher unterdrückt hatte, rannen mir unbarmherzig die Wangen hinunter.
Eine Stunde später stieg ich bei der Bus Station aus, nahm wortlos meinen Rucksack und folgte Mike, der sich mit dem schwer gefüllten Koffer vorwärts kämpfte.
Nachdem ich mein Ticket noch einmal überprüft hatte, stellte ich fest, dass ich innerhalb weniger Minuten losfahren konnte.
Mike, der die ganze Fahrt über ungewöhnlich schweigsam gewesen war, stellte sich neben mich. "Bist du dir sicher, dass du nicht mit nach Hause willst?"
Ob ich mir sicher war, dass ich nicht wollte? Nein. Aber ich war mir sicher, dass ich nicht durfte. "Jou"' antwortete ich knapp und drehte meinen Kopf zur Seite, damit Mike die aufkommende Unsicherheit in meinem Gesicht nicht sehen würde.
"Gut. Ich versteh das zwar, aber es fällt mir unheimlich schwer, dich gehen zu lassen. Und das noch ganz ohne männliche Begleitung". Ich sah den besorgten Blick in seinen haselnussbraunen Augen.
"So weit weg ist es ja gar ni-". Schnell schloss ich meinen Mund, doch es war zu spät. Fragend sah Mike mich an.
„Aha. Garnicht so weit weg, was". Stirnrunzelnd und mit hochgezogen Augenbrauen stand er da und musterte mich schmunzelnd.
"Mike", ich überlegte kurz wie ich die Worte formulieren sollte, "es ist nur zu deinem Besten, verstehst du? Je weniger du weißt, desto besser".
"Schon gut, Leah. Komm her, lass dich umarmen". Lächelnd trat ich auf ihn zu und ließ mich von ihm drücken. Ich atmete tief den nassen Erdegeruch ein, der an ihm klebte.
„Pass auf dich auf, Kleine." Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn.
Schließlich trennte ich mich von ihm, kniff ihn liebevoll in die Seite und wandte mich zum Gehen um.
„Immer doch. Also, wir sehen uns." Langsam hob ich meine Hand zum Abschiedgruß.
„Na klar doch." Auf seinen Lippen bildete sich ein zärtliches Lächeln.
Ich schulterte meinen Rucksack und eilte davon. Schnell warf ich noch einen Blick zurück über meine Schulter, doch Mike war nicht mehr zu sehen. Kein Wunder, er musste ja wieder zurück zu den Feldern, auf denen er mit Pa arbeitete, aber ich hatte trotzdem gehofft, ihn noch einmal zu sehen. Den Nachmittag hatten die beiden sich für mich frei genommen, bis ich fahren würde. Wehmütig lächelte ich, als ich daran dachte, wie überraschend gut meine Familie mit der plötzlichen Nachricht umgegangen war.
Vorsichtig stieg ich in den grossen Bus ein, in dem schon die meisten Mitreisenden saßen.
Meine Eltern waren zwar sehr enttäuscht gewesen, dass wir nicht gewartet hatten bis nach der Hochzeit, aber da das Kind jetzt schon auf dem Weg war, würden sie es akzeptieren. Ich wusste, dass meine Familie es lieben würde, besonders meine Mam, die sich immer ein paar Kinder mehr gewünscht hatte. Ich setzte mich auf einen Platz ganz hinten am Fenster und warf meinen Rucksack auf den Boden.
Leicht nervös senkte ich meinen Blick und behutsam legte ich die Hand auf meinen flachen Bauch. Ein ungewohntes Gefühl machte sich in mir breit. Ich würde Mutter werden, im Grunde war ich es ja jetzt schon. Ein scheues Lächeln schlich sich auf meinem Gesicht. Zärtlich malte ich ein paar Kreise auf der, von einem grauen Shirt bedeckten Haut und flüsterte: „Du warst zwar nicht geplant, aber gewollt, mein kleiner Schatz".
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