Kapitel 29

Mit großen Schritten, fast schon rannte ich die staubige Straße entlang. Hin und wieder sprach ich Fußgänger an, manche, die allein waren und andere in Gruppen, um sie nach dem Weg zu fragen. Doch sobald ich die gewünschte Information hatte, lief ich weiter. Meine Gedanken wollten sich immer noch nicht beruhigen, im Gegenteil, in meinem Kopf überschlug sich mittlerweile alles. Das Gewicht in meinem Bauch hatte sich mindestens vervierfacht. Ein Wort. Ein einziges Wort stellte mein Leben erneut auf dem Kopf. Und es würde auch über meine Zukunft entscheiden. Ich wagte nicht einmal das Wort laut auszusprechen, so schreckliche Angst jagte mir dieser Gedanke ein. Dass ich Leah vielleicht wieder verloren hätte. Aber dieses Mal für immer. Kein Hinterher rennen oder Suchen würde mir in diesem Falle helfen. Denn wenn ich auch viel über Leah und ihrer Lebensart wusste - nichts, absolut nichts wusste ich im Moment mit solcher Klarheit, als dass Scheidung in ihrem Wortschatz nicht existierte. Oft konnte man sie mit geltenden Argumenten überzeugen, aber das würde ihr niemand ausreden! Denn sie glaubte, genau wie ich, dass eine Ehe für ein Leben lang halten sollte. Und falls sie wirklich geheiratet hätte, würde sie sich garantiert nicht scheiden lassen. Wieder einmal zuckte dieser schmerzende Gedanke durch mein Gemüte. Sie würde ihn lieben lernen, denn auch daran glaubte sie, genau wie ich. Dass man lernen kann, jemandem zu mögen. Ja, dass Gefühle manchmal auf dem Rücksitz verfrachtet werden, wenn es wichtigere Dinge im Leben gibt. Und deswegen musste ich mich noch mehr beeilen.
Wild fing ich zu laufen an. Der Staub wirbelte unter jedem meiner Schritte auf und verteilte sich in der Luft. Winzige Körnchen fanden den Weg in meine Luftröhre und machten mir das Atmen schwer. Die Geschwindigkeit, die ich hartnäckig beibehielt, machte es nicht gerade besser. Inzwischen brannte die Sonne auf mich hinunter und ich fing an zu schwitzen.
Doch diese Beschwerden blendete mein Kopf gleich wieder aus, sobald ich an das Ziel und den Zweck meiner Eile dachte. Also rannte ich, mittlerweile mit schmerzenden Füßen weiter, als ob ich damit auch nur ein klitzekleines bisschen von der Realität ändern könnte. Immer weiter Richtung Hotel.
Mit pochendem Herzen und brennenden Lungen stand ich in gebeugter Haltung an der Gassengrenze eines großen Hofes, der komplett mit grünem Rasen bewachsen war. Die Hände hatte ich auf den Knieen abgestützt und ich atmete heftig.
Als sich mein ausgelaugter Körper etwas erholt hatte, betrachtete ich das große, weiße Gebäude, das sich vor mir erhob. Es sah zwar ziemlich antik aus, aber keineswegs ungepflegt oder gar verfallen. Der riesige Hof mit dem klar grünen Gras, den unzähligen, sorgfältig gestutzten Büschen, elegant organisierte, kleine Sträucher und die vielen Blumen die in so verschiedenen Farben strahlten, machten ihrem Namen alle Ehre. Es war wahrhaftig ein Paradies! Ein Paradies in dem Leah wohnte. Meiner Leah. Obwohl, ich wusste ja gar nicht, ob sie immer noch mein war. Denn, wenn die Jungs sich vorhin nicht getäuscht hatten, war sie bereits Ehefrau eines älteren Herren.
Ich musste einen Würgereiz unterdrücken. Allein diese Vorstellung löste eine solch enorme Übelkeit in mir aus, dass mein Magen das Mittagessen am liebsten gleich wieder zurück in die Freiheit geschickt hätte. Einatmen, ausatmen, wiederholte ich im Innern immer wieder und schloss kurz die Augen, während ich mich wieder aufrichtete.
Es gab nur einen einzigen Weg, herauszufinden, was heute wirklich passiert war und plötzlich wusste ich gar nicht mehr, ob ich das wirklich wollte. Was, wenn sie tatsächlich geheiratet hätte? Wohin dann? Oder was bliebe mir dann noch? Ein armseliges, verkorkstes Leben. Das war alles. Denn ohne Leah wäre mein Leben so unendlich öde und traurig. Bei diesem Gedanken zog mein Herz sich quälend langsam zusammen. Nein, ich wollte und konnte mein Leben nicht ohne sie verbringen, das wurde mir schmerzlich bewusst.
Lngsam und mit einer Unruhe im Herzen, wie ich sie noch nie gekannt hatte, schritt ich die Auffahrt entlang. Zu dessen beiden Seiten wuchsen kleine, dunkelgrüne Pflanzen mit langen, ovalen Blättern. Der Rasen, der sich über eine große Fläche rund um das Hotel erstreckte, war allem Anschein nach auf Millimeter gleich lang geschnitten worden.
Mit jedem Schritt, den ich machte, sank mein Herz tiefer. Mein Mund war ganz trocken und das ganz sicher nicht nur vom vielen Laufen. Hätte ich wetten müssen, wäre ich mir sicher gewesen, dass ich jegliche Farbe aus dem Gesicht verloren hatte. Und obwohl dies der Moment war, dem ich so entgegen gefiebert hatte, jagte mir jetzt genau das eine
Heidenangst ein! Ich wollte nichts lieber als Leah sehen, sie in die Arme nehmen und sie niemals wieder loslassen, aber wenn ich zu spät war, würde meine ganze Zukunft, mein ganzes Leben im Erdboden versickern.
Gott, lass es bitte, bitte nicht zu spät sein, wagte ich zum ersten Mal in meinem Herzen zu Gott zu schreien. Vielleicht, weil ich es gar nicht übers Herz brachte, wirklich daran zu glauben, dass sie jetzt jemand anderem gehören könnte. Ich weigerte mich vehement dagegen, diese schreckliche, aber reale Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Ich wollte von ganzem Herzen an ein Missverständnis glauben. Gott, falls du mich Leah zurück gibst, will ich mich noch viel mehr anstrengen, dein treuer Diener zu sein, versprach ich entschlossen. Ich wusste, dass man oft viel zu viele Versprechen gab, wenn man etwas vom Herzen wollte, aber noch nie in meinem Leben hatte ich etwas so ernst gemeint, wie dieses Gebet.
Ich trat auf den grauen Betonsteg, der durch einen Garten voller Blumen und Rosen führte. Kleine, lose Kieselsteine knirschten kaum hörbar unter den harten Sohlen meiner Schuhe. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen und das war irgendwie ein bisschen unheimlich.
Je mehr ich mich dem Eingang näherte, je mehr fing ich an zu zittern. Der Schmerz, den meine Nägel in meinen Handflächen verursachten, half mir in gewisser Weise, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen.
Vor der Haustür angekommen, versuchte ich meine Fäuste zu lockern und atmete noch eine paar Male tief durch, bevor ich entschlossen die Klinke betätigte und langsam die Tür öffnete. Zu meiner Linken war eine weitere Tür, die einen Spalt breit offen stand und den Blick auf einen Küchenschrank frei gab. Doch zu meiner Rechten stand eine antike Holztheke, mit verschiedenen, geschnitzten Mustern an der Vorderseite verziert.
Panisch zuckte ich zusammen, als eine zierliche, dunkelhäutige Gestalt hinter der Theke auftauchte. Ihre rabenschwarze Haare hingen ihr glatt auf die Schultern und ihre fast genau so schwarzen Augen blickten mich neugierig an. Ein kaum merkliches Schmunzeln umspielte ihre Lippen.
„Lo siento, señor“, sagte sie schnell,
(Tut mir leid, Sir)
„ich wollte Sie nicht erschrecken.“
Ertappt senkte ich den Kopf. Keine Ahnung wieso ich plötzlich so schreckhaft reagiert hatte, vielleicht weil jeden Moment genauso gut Leah vorbei kommen könnte. Wie aufs Stichwort kamen all die Sorgen, der Stress und die innere Unruhe zurück. Mein Körper versteifte sich und ungewollt ballte ich die Hände zu Fäusten. Leah. Hier musste sie irgendwo sein.
„Suchen Sie ein Zimmer, Sir? Dann sind sie hier gerade richtig. Zimmer Nummer drei, sechs und dreizehn sind noch frei. Nummer 3 und 6 haben eine bezaubernde Aussicht Auf den Blumengarten und Nummer 13 liegt an der Rückseite. Welches hätten sie denn gerne?“, riss die junge Frau mich aus den Gedanken.
„Ich komme nicht“, fing ich mit krächzender Stimme an zu erklären, doch dann fiel mir ein, dass ich ihr den Grund meines Aufenthalts hier nicht verraten wollte und fuhr somit fort: „Zimmer Nummer 13, bitte.“
„Vale. Ihr Name, bitte?“, fragte sie als sie sich duckte und für ein paar Sekunden hinter dem Thresen verschwand. Als sie wieder auftauchte, baumelte in ihrer rechten Hand ein silberner Schlüssel.
Für den Bruchteil einer Sekunde rang ich mit mir selber „Alexander Cooper“, nannte ich ihr nur meinen zweiten Vornamen.
„Folgen Sie dem Gang da, die siebte Tür links.“ Ein höfliches Lächeln erschien auf ihre Lippen und mit zitternder Hand nahm ich den kleinen Gegenstand an, den sie mir reichte.
„Danke, Ma'am“, stammelte ich unsicher. Was sollte ich jetzt mit einem Zimmer tun? So hatte ich mir das auch nicht vorgestellt.
Bescheiden nickte ich aber, rückte den Riemen meines Rucksacks zurecht und folgte dem breiten Gang, dessen cremefarbene Wände mit Bilder AUS dee Natur geschmückt waren. Antike Holzrahmen umrandeten diese und geschwungene Schnitzereien bedeckten den unteren Teil der Wand, der aus Holz bestand. Rustikale Laternen warfen ein sanftes Licht auf den dunkelbraunen, flauschigen Teppich, der in der Mitte des Ganges entlang führte. Alles in allem gab einem den Eindruck, man wäre jegliche Jahrzehnte zurück versetzt. Überrascht von dem Anblick der sich mir bot, stolperte ich unbeholfen ein paar Schritte seitwärts, als mir bewusst wurde, dass ich mit meinen staubigen Schuhen auf dem wunderbar weichen und sauberen Teppich ging. Vorsichtig und darauf bedacht, denselben Fehler nicht noch einmal zu begehen, hielt ich Ausschau nach dem Zimmer Nummer 13. Allerdings war das keine schwere Aufgabe es zu finden, denn bald stand ich vor einer dunkelbraunen Tür, auf der die Nummer 13 in elegant geschwungenen Holzziffern stand. Wow, dachte ich. Wirklich sehr beeindruckend. Irgendwie war das eine sehr romantische Atmosphäre, die ich nur zu gern irgendwann mal mit...
Entschlossen schüttelte ich den Kopf, nicht gewillt weiter über trübe Vorstellungen nachzudenken und schloss die Tür auf. Plötzlich wieder von meiner Panik davor erfasst, dass jemand, oder im schlimmsten Falle Leah, mich hier sehen könnte, riss ich die Tür auf und schlüpfte hastig hinein. Ich wollte nicht, dass sie wusste, dass ich hier war. Noch nicht. Gestern noch hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass sie mich sehen würde, wie ich die Auffahrt rauf kam und dass sie sich in meine Arme gestürzt hätte. Aber innerhalb weniger Sekunden, mit der Offenbarung einer schrecklichen Möglichkeit hatte sich das Blatt radikal gewendet.
Falls sie wirklich geheiratet hatte, so nahm ich mir im Stillen vor, wollte ich mich heimlich wieder davon machen, ohne, dass sie meine Anwesenheit auch nur hätte erahnen können.

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