Kapitel 24

ROYS SICHT:

Vor einiger Zeit hatte ich noch ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn ich daran gedacht hatte, dass ich Mike fragen wollte, ob er den Weg nach Edessa übernehmen wollte. Es war eine miserabel gepflegte Schotterstraße, die aus unzähligen Staublöchern bestand. Aber da er mir vor zwei Wochen so abgezockt hatte, fühlte ich irgendwie eine gewisse Genugtuung. Wahrscheinlich hielt er jetzt eine Schimpftirade nach der anderen, während ich gemütlich in einem Bus saß, dessen Route für heute nur auf dem Asphalt bestand. Natürlich hatte ich auch noch einen anderen, schlechteren Weg vor mir, falls ich heute nicht irgendetwas Brauchbares herausfinden würde, aber daran wollte ich jetzt nicht denken. Noch nicht.
Ich drückte meinen versteiften Rücken durch und hoffte, dass wir bald am Ziel wären. Seit fast fünf Stunden versuchte ich es mir hier so bequem wie möglich zu machen, aber langsam wurde ich müde.
Nach ungefähr weiteren fünf Minuten parkte der Bus endlich. Während die Passagiere sich gegenseitig hinaus drängten, kramte ich in meinem Rucksack herum, auf der Suche nach meinem Portemonnaie und holte das kleine, quadratische Foto heraus, das ich immer bei mir trug. Es war ein Porträt von Leah und ich hoffte von ganzem Herzen, dass irgendjemand sie dieses Mal erkennen würde. Bisher war ich erfolglos gewesen, umso mehr hoffte ich heute auf Erfolg.
Mit verspannten Gliedern stand ich auf, griff nach meinem Rucksack und schulterte ihn.
Als ich gerade dabei war, die leicht knarzenden Stufen hinunter zu steigen, wäre ich fast gestolpert und mit der Fresse auf dem harten Betonboden gelandet, als mich jemand auf die Fersen trat. Also echt! Ein bisschen Geduld wäre wirklich nicht schlecht! Als ich draußen war, warf ich einen Blick über meine Schulter und fand eine weißhaarige, alte Dame vor, die mit zusammen gekniffenen Augen durch ihre große, runde Brille lugte. Ihre zitternden Finger klammerten sich entschieden um den Griff eines kleinen Koffers und plötzlich verpuffte der leichte Ärger und ich empfand Mitleid.
Sie stand bereits auf der untersten Treppe des Buses und schien abzuschätzen, wie weit sie gleich hinunter steigen müsse, als ich bereits ausgestiegen war.
„Darf ich Ihnen helfen, Ma'am?", fragte ich und hielt ihr meine Hand hin, während ich das Foto, das in der Anderen ruhte, sorgfältig in meine Hosentasche verschwinden ließ.
Überrascht blickte sie auf und sah erst mir in die Augen und dann auf meine dargebotene Hand. Sie legte ihren Kopf leicht schief und sah mich skeptisch an.
Ich nickte einmal lächelnd und näherte mich etwas. Langsam und unsicher löste sie eine Hand vom Griff des Koffers und legte sie zögernd in Meine. Ihre schrumpelige, kleine Hand fühlte sich so zerbrechlich in meiner an. Vorsichtig half ich ihr auszusteigen.
„Vielen Dank, junger Mann", sagte sie mit gebrechlicher Stimme und ein warmes Lächeln breitete sich auf ihrem faltigen Gesicht aus.
„Netten Leuten wie Sie helfe ich immer gerne", antwortete ich und erwiderte ihr Lächeln. „Darf ich den Koffer noch irgendwohin bringen?", fragte ich, während wir langsam zu gehen anfingen.
„Welchen Koffer?" Sie sah mich verblüfft und verständnislos an.
„Den, den Sie in der Hand halten." Vorsichtig zeigte ich mit meinem Zeigefinger auf ihr Gepäck.
„Achso, ja, der Koffer", sie sah sich suchend um, „wo habe ich den nur wieder hingestellt?" Missbilligend schnalzte sie mit der Zunge und fasste sicg an den Kopf.
Ich runzelte die Stirn. „Ich denke, Sie halten ihn in der Hand," sagte ich erneut.
„Wo?" Mit großen Augen starrte sie auf ihre Hand. Plötzlich erhellte sich ihr Gesicht und sie brach in lautes, wackeliges Gelächter aus, das uns die Aufmerksamkeit ein paar der Anwesenden bescherte. „Ach, da ist er ja! Ich Dummkopf. Fast wäre ich zurück zum Bus gelaufen." Sie lächelte mich entschuldigend und belustigt an. „Mein Gedächtnis ist nicht mehr das, was es mal war, junger Mann. Verzeihen Sie mir, bitte."
Auch ich konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. „Kein Problem Ma'am. Aber nennen Sie mich bitte Roy."
„Also gut, Roy. Wenn du wirklich willst, darfst du den Koffer gerne in den Schatten tragen, dort drüben vor dem großen Gebäude." Sie deutete mit einer vagen, unsicheren Handbewegung in die gewünschte Richtung. „Dort neben dem Eingang", fügte sie noch schnell hinzu.
„Alles klar. Na dann mal los." Ich ergriff den Koffer, den Sie mir hinhielt und war erstaunt über das leichte Gewicht. Hatte sie überhaupt etwas hineingepackt? Ich verkniff mir ein weiteres Schmunzeln, als sie sich bei mir unterhakte. Langsam machten wir uns gemeinsam auf den Weg zu der großen Struktur, die sich in kurzer Entfernung vor uns erhob und über dessen Eingang die Worte "Bus Station" in großen, leuchtenden Lettern strahlten.
„Weißt du", sagte sie, während ich versuchte, ein für sie angenehmes Tempo zu finden, „sowas sieht man selten. Dass junge Männer wie du, alten Leuten wie mir helfen."
Das war traurig, sehr traurig, aber leider wahr. Heutzutage hielten die Meisten es für peinlich oder hatten einfach keine Zeit einem Opa über die Straße zu helfen, einer Person die Tür aufzuhalten oder jemandem im Rollstuhl ihre Hilfe anzubieten.
„Ich weiß, dass ich allein die Welt nicht wirklich verändern kann, aber ich will meinen kleinen Teil dazu beitragen." Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie mir ins Gesicht schaute und freundlich lächelte, was ihre vielen Falten im Gesicht offenbarte. „Außerdem sagt die Bibel", fuhr ich fort, „dass wir das zurückempfangen, was wir ausgeben. Und wenn ich Freundlichkeit säe, werde ich früher oder später auch Freundlichkeit ernten."
„Wahre Worte sind das, junger Mann. Höre niemals damit auf, nett zu Anderen zu sein, denn das wird gewiss belohnt werden." Sie tätschelte meinen Arm sanft.
Als wir bei der Sitzgelegenheit stoppten, stellte ich den goldbraunen Koffer, auf dem geschwungene Ranken eingekerbt waren, ab und wartete, bis die alte Dame Platz genommen hatte. Währenddessen sah ich mich ein bisschen um und entdeckte ein paar Wächter vor dem Eingang. Der Ältere beäugte mich kritisch.
„Willst du dich nicht auch ein wenig ausruhen?", fragte meine Gesprächspartnerin.
„Ähm", ich sah auf meine Uhr am Handgelenk, „eigentlich muss ich jetzt los. Ich hab noch einiges zu erledigen." Entschuldigend lächelte ich sie an.
Ihre klaren, grünen Augen sahen mich verstehend an und sie legte den Kopf schief. „Aber natürlich, mein Sohn. Wie unhöflich von mir, deine wertvolle Zeit so lange in Anspruch genommen zu haben."
Die weißen Locken tanzten um ihr faltiges Gesicht, als sie energisch den Kopf schüttelte. „Nein, nein. Katherina ist nicht so unverschämt. Sie war es noch nie! Verzeih mir, Roy." Ihre blassen Lippen presste sie zu einem Strich zusammen. „Ach", fuhr sie fort, bevor ich antworten konnte, „du denkst sicherlich ich bin verrückt. Mein Name ist Katharina. Katharina Rausch. Ich habe die blöde Angewohnheit, dass ich manchmal von mir in der dritten Person spreche." Sie fing an zu kichern und sah mich amüsiert an. Ich erwiderte ihr Lachen und beeilte mich, ihr eine Antwort zu geben. „Nein, Sie sind nicht verrückt. Ganz und gar nicht. Im Gegenteil, Sie scheinen mir eine sehr unterhaltsame Dame zu sein."
Ihre Augen leuchteten auf und ein breites Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. „Du, Charmeur!" Sie klimperte mit ihren grauen Wimpern und brach wieder in Gelächter aus. „Weißt du", ergänzte sie, „Melanie, meine Enkeltochter, sie würde dich mögen. Sie liebt Unterhaltungen wie diese." Verträumt starrte sie auf einen unbestimmten Punkt vor sich. „Sie ist ein richtiger, kleiner Sonnenschein."
Mir wurde warm ums Herz, als ich sah, mit wie viel Liebe und Zärtlichkeit sie von ihrer Enkelin sprach. „Wie alt ist die Kleine denn?"
„Sechs", sagte sie stolz, „Sie hat in ein paar Tagen Geburtstag. Deswegen bin ich ja auf den Weg zu ihnen."
„Ist es noch weit von hier?", wollte ich von ihr wissen.
„Oh nein. Mein Schwiegersohn kommt mich sicher gleich abholen. Wir haben abgemacht, dass ich hier auf ihn warte."
Sie schien sich auf die Begegnung mit ihrer Familie wirklich zu freuen. Ein leiser Anflug von Eifersucht durchfuhr mich. Wenn doch auch jemand Bestimmtes hier auf mich warten würde! Aber nein, ich musste sie erst suchen, um dann herauszufinden, ob sie mich überhaupt noch eine Chance geben wollte.
Ich schob die unschönen Gedanken beiseite und konzentrierte mich erneut auf mein Gegenüber. „Das ist ja schön. Ich hoffe, Sie haben eine angenehme Zeit zusammen.“ Und ich meinte das auch so.
„Das werde ich, Roy. Das werde ich. Seit zwei Monaten habe ich Fernando und Kassandra schon nicht gesehen. Und wenn man erst so alt ist wie ich", sie grinste mich an, „dann sehnt man sich nach Gesellschaft. Ganz egal, ob es zwei Monate oder zwei Stunden her ist, dass man sich zuletzt gesehen hat."
Überrascht zog ich die Augenbrauen nach oben. Fernando? Das war doch ein spanischer Name. „Also, sagen Sie mal Ma'am, ihre Tochter hat einen Einheimischen geheiratet, wenn ich fragen darf?“
Sie seufzte laut. „Ja. Anfangs habe ich sie verzweifelt versucht davon zu überzeugen, das nicht zu tun. Aber mittlerweile habe ich eingesehen, dass einheimische Menschen auch von Gott erschaffen wurden. Und ich muss sagen, einen besseren Ehemann und Vater ihrer Kinder hätte sich meine Tochter nicht wünschen können".
Damit hatte ich nicht gerechnet! Umso mehr freute ich mich, dass es wenigstens schon ein paar Leute gab, die nicht so engstirnig waren, wie die Meisten meiner Kultur.  „Das glaube ich gern“, sagte ich leise. „Grüßen sie ihre Familie und besonders ihre Enkelin von mir." Ich zwinkerte ihr zu.
„Aber natürlich. Sie wird dich unbedingt kennenlernen wollen, wenn ich ihr erzähle, wie nett du bist." Das Lächeln, das auf ihrem Gesicht erschien, erreichte ihre Augen und ließ diese erstrahlen. Ihr Körper war zwar alt, aber ihre Seele war viel schöner und reiner, als sie es je hätte äußerlich sein können.
Erneut blickte ich auf meine Uhr und ein Funke Ungeduld erwachte in mir zum Leben. Ich verbrachte liebend gern Zeit mit dieser Dame, aber es gab jemandem, der mir noch wichtiger war. Und dieser Jemand wartete vielleicht nur darauf, gefunden zu werden. Zwar glaubte ich nicht so richtig daran, aber hoffen konnte ich ja. „Es war schön Sie kennen gelernt zu haben, Ma'am, aber jetzt muss ich leider weiter.“
„Natürlich, Kind. Passen Sie auf sich auf." Sie tätschelte meine Hand ein letztes Mal.
Eine angenehme Wärme breitete sich in meinem Innern aus. „Danke, Ma'am. Sie ebenfalls." Ich gab ihr die Hand zum Abschied, die sie zärtlich mit beiden Händen umklammerte, bevor ich mich abwandte und auf die beiden Wächter zuging.

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