Kapitel 23
Da ich letzte Nacht knapp ein paar Stunden geschlafen und mich am Morgen zwei Mal übergeben hatte, schickte Valeria mich gleich wieder zurück ins Bett. So lag ich also hier, unter einer Wolldecke verkrochen. Nachts war das Wetter ziemlich abgekühlt und ein leichter Nieselregen fiel im Moment.
Mit müden Augen starrte ich auf einen unbekannten Punkt vor mir und zermarterte mir das Gehirn auf der Suche nach einer Ausrede, das Mittagessen schwänzen zu können. Bei dem Frühstück hatte das geklappt, aber so langsam forderte mein Magen seinen Teil. Und jemandem zu bitten, mir etwas ins Zimmer zu bringen, wollte ich auch nicht. Aber raus in die Küche zu gehen war gar keine Option. Was, wenn Laura mich sah? Oder viel, viel schlimmer noch, wenn ihre Mrs. Miller mich ertappte? Ich erschauderte. Das würde ganz gewiss schlimm enden. Seufzend zog ich mir die Decke über den Kopf. Schon wieder knurrte mein Magen und ich stöhnte genervt auf. Ich konnte mein ungeborenes Kind nicht hungern lassen, nur weil ich zu stur war, in die Küche zu gehen! Nein, ich musste mir dringend was zu Essen holen. Und zwar sofort.
Missmutig stand ich auf und schleppte mich ins Bad. Glücklicherweise war meine Übelkeit verschwunden, dafür rumorte aber die Nervosität in meinem Bauch. Ich griff nach dem Rock, den ich mir für heute zurecht gelegt hatte und zog ihn an. Der Reißverschluss ging nicht mehr zu. Mist! Die paar Kleider die mir noch passten wurden fast täglich weniger. Ich musste dringend shoppen gehen. Aber vorher musste ich erstmal was zum Anziehen finden.
Mein Blick fiel durch die offene Badezimmertür auf den Koffer, der unter dem Bett hervorlugte. Ich schritt auf ihn zu und klappte ihn hastig auf. Wild krammte ich in seinem Inneren herum, bis ich die schwarzen Jeans in meinen Händen hielt, die ich vor langer Zeit in der Stadt erworben hatte. Ein paar Male hatte ich sie am Abend getragen, aber noch nie am helllichten Tag. Doch heute müsste ich wohl eine Ausnahme machen. Ich wollte ja nur einmal schnell in die Küche und dann zurück.
Ich schlüpfte hinein und war zutiefst erfreut, dass ich den Knopf gerade noch schließen konnte. Als das erledigt war, eilte ich zum Kleiderschrank und holte mir ein langärmeliges, himmelblaues T-Shirt heraus, das zwar schon eng anlag und meine leichte Wölbung verdeutlichte, aber es wärmte.
Langsam öffnete ich die Tür und spähte in den Gang hinaus, der allerdings leer zu sein schien. Vorsichtig trat ich aus der Tür und schloss sie so leise wie nur möglich. In Socken tapste ich zur Küche hinüber und lugte behutsam hinein. Mein Herz klopfte wie wild und schien mir aus der Brust springen zu wollen.
Ich seufzte erleichtert, als ich sah, dass die Küche leer war. Nur etwas Geschirr und einige Essensreste standen auf dem Tisch. Bestimmt waren alle draußen und aßen ihr Mittagessen. Vielleicht waren die Millers im Moment ja gar nicht mal mehr da! Dieser Gedanke nahm mir eine kleine Last von den Schultern.
Ganz leise machte ich mich an dem Deckel der weißen Schüssel zu schaffen, die auf der Tiefkühltruhe stand. Ich lächelte dankbar, als ich den Inhalt sah: Schokoladentorte! Genau das, was mein Magen begehrte. Behutsam nahm ich mir ein großzügiges Stück heraus, das ich auf einen der vielen Pappteller legte, die neben der Schüssel aufgestapelt worden waren.
„Leah? Bist du es?", ertönte plötzlich eine, mir viel zu bekannte Stimme hinter meinem Rücken und mir gefror das Blut in den Adern. Zu Tode erschreckt hielt ich die Luft an. Laura. Die Übelkeit von heute morgen kam zurück und ich musste schwer schlucken. Die rasende Geschwindigkeit, mit der mein Herz das Blut durch die Venen pumpte, hallte in meinen Ohren laut wider. Mein Blick fiel auf meine weißen Fingerknochen, die verkrampft den Pappteller festhielten. Langsam und mit einem tonnenschwerem Bleiklumpen im Magen drehte ich mich zu ihr um. Und dort stand sie. Züchtig wie eh und je, die Knöpfe ihrer tiefgrünen Bluse bis oben zugeknöpft, der Rock reichte bis zu den Fußknöcheln. Ihre rehbraunen Haare ordentlich zu einem Zopf geflochten und ihre eisblauen Augen direkt auf mich gerichtet. Ihr Blick glitt an mir hinunter und blieb an meinem Bauch hängen. Ihre Augen weiteten sich enormous, bevor sie wissend aufblitzten. Als sie mir wieder ins Gesicht sah, lag eine eiserne Kälte in ihnen. Harte Gesichtszüge machten sich auf ihrem Antlitz breit und ihr Blick durchbohrte mich.
Und mir rutschte das Herz in die Hose. Alles, das ich auf mich genommen hatte, um meine Familie zu schützen, wäre jetzt umsonst. Alles, wofür ich so hart und so entschlossen gekämpft hatte, löste sich gerade in Luft auf.
„Laura", begrüßte ich sie kalt und versuchte mir meine innere Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. Eigensinnig hielt ich ihren eisernen Blick stand. Sie musterte mich schweigend und unverhohlen, vom Kopf bis zu den Füßen.
Tief holte sie Luft bevor sie sprach: „Was hast du getan?“ Langsam und leise betonte sie die Worte und ihre Augen verfinsterten sich.
„
Ich wüsste nicht, was es dich angeht!", erwiderte ich schroff.
Für den Bruchteil einer Sekunde schien sie überrascht über meine kalte Antwort zu sein, doch sie fing sich gleich wieder. „Jetzt weiß ich ja, wieso du plötzlich vom Erdboden verschluckt wurdest. Wieso plötzlich niemand mehr wusste, wo du bist. Hast du eine Ahnung, wie viele Sorgen wir uns alle um dich gemacht haben?" Ihre Stimme wurde lauter und sie lachte bitter auf. „Leah, Leah, Leah", langsam sprach sie jedes einzelne Wort aus. „Sieh an, sieh an, hier bist du! Was ist nur in dich gefahren?!", rief sie laut aus. Ungläubig schüttelte sie den Kopf, als wolle sie sicher gehen, dass sich das dargebotene Bild nicht nur in ihrem Gehirn befand.
Wut loderte plötzlich in mir auf. Sorgen gemacht? Das ich nicht lache! Auf den Klatsch gewartet oder sogar selber welchen verbreitet! „Worauf wartest du, Laura? Los, lauf! Erzähl es deiner Mutter! Erzähl es im ganzen Dorf was du mit eigenen Augen gesehen hast! Zerreißt euch eure Mäuler über den Schandfleck des Dorfes und ermahnt euch gegenseitig, ja nicht Kontakt mit so einer verlorenen Seele wie mir aufzunehmen!", schrie ich. „Am Besten lasst es Pfarrer Brunke von der Kanzel hinunter predigen, um all seine ach-so-weißen-Schäfchen vor mir zu warnen!"
Die schneidende Stille, die darauf folgte, schien mich zu erdrücken. Die plötzliche Wendung meiner Zukunft schien mich in die Tiefen des Ozeans zu reißen und mir die Luft abzuklemmen. Schwer atmete ich ein ein und aus und versuchte mich irgendwie zu erinnern, dass ich mich dem Kind zu Liebe etwas beruhigen sollte.
Doch Laura's Wangen glühten vor Entrüstung. „Du bist ein wahrhaftes Miststück!", giftete sie, während sie drohend den Zeigefinger hob. „Ich sollte wirklich zurück zu den Andern gehen und meine Eltern bitten, so schnell wie möglich, so weit wie möglich von einem Sünder wie dir Abstand zu nehmen!"
Sie wusste wie man verletzt, das musste ich ihr lassen. Denn das hier tat weh, sehr weh. Und das wusste sie, dessen war ich mir ganz sicher.
„Dann geh doch, du perfekte Seele!“, fuhr ich sie an, „renn zu Mama und lass dich weiterhin von sie verwöhnen, wie du es bisher immer getan hast! Bleib weiterhin das schöne Vorbild des ganzen Dorfes! Die perfekte Tochter der perfekten Mutter, aber lass mich in Ruhe! Verschwinde aus meinen Augen!" brüllte ich und vor Wut kochend zeigte ich mit der Hand auf die Tür, während sie mich schweigend und mit offenem Mund anstarrte. Kein Wunder, dass sie über meinen Wortschwall überrascht war, normalerweise redete ich nicht so viel. Aber zum Kuckuck damit! Sollte sie doch Allen erzählen, was sie gerade erfahren hatte! „Soll ich dir auch noch die Tür öffnen, oder was?", fauchte ich sie an.
Ein eigenartiger Schatten huschte über ihr Gesicht und langsam nahm sie ein paar Schritte rückwärts, bevor sie sich ohne ein weiteres Wort umdrehte und aus der Tür floh.
Und dann brach meine Welt zusammen. Heiße, salzige Tränen quollen, ohne mich vorgewarnt zu haben aus meinen Augen hervor und floßen über meine Wangen; benetzten meine trockenen Lippen. Die Schokoladentorte, dessen Teller ich immer noch fest umklammert hielt, fiel plötzlich mit einem dumpfen Geräusch auf den Fußboden und hinterließ einen dreckigen Fleck. Meine Knie gaben unter mir nach und ich glitt zu Boden. Das pochende Herz in meiner Brust zog sich schmerzlich zusammen. Immer und immer wieder und ich schluchzte unkontrolliert. Alles, was ich bisher unterdrückt und runter gespielt hatte, befreite sich aus den Tiefen meines Herzens in Form von noch mehr Salzwasser. Mein Körper bebte heftig und ich vergrub das Gesicht in meinen Händen.
Ich weiß nicht, wie lange ich so da saß und unaufhörlich weinte, doch irgendwann nahm ich verschwommen eine aufgeregte Julia wahr, die zu mir gelaufen kam und wild auf mich einredete. Allerdings verstand ich keines ihrer Worte und ließ mich einfach von ihr hochhelfen und in mein Zimmer bringen. Sie redete unaufhörlich weiter, während ich mich ins Bett setzte, doch ich schaltete ab und verkroch mich erneut unter meiner Decke. Als ich mich auf die Seite drehte und ihr somit den Rücken zu kehrte, schloss ich die Augen und versuchte krampfhaft mich zu beruhigen. Nur das Klicken der Tür drang noch zu mir hindurch, bevor die heiß ersehnte Stille mich umhüllte und ich endlich allein war.
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