Kapitel 2
Ich schloss den Reißverschluss meines grauen Koffers und ließ den Blick noch einmal durch mein trautes Zimmer wandern. Diese vier schwarzweißen Wände bargen so viele schöne, aber auch schmerzhafte Erinnerungen, die ich mit meiner Familie erlebt hatte. Ich warf noch einen Blick in den großen, runden Spiegel an der Wand, den ich zum letzten Geburtstag von Roy geschenkt bekommen hatte und das schreckliche Gefühl in meinem Innern wurde immer schlimmer. Roy würde sich verraten fühlen. Er hatte das nicht verdient, aber ich konnte ihm nicht von dem Kind und meinem Weggehen erzählen. Ich wollte nicht, dass auch er darunter leiden müsste und deswegen war es besser, wenn ich schwieg. Meine Brust pochte und meine dunkelbraune Augen brannten, als wieder ein paar Tränen an der Oberfläche drückten. Als hätte ich nachts nicht schon genug vergossen! Ich warf mich auf mein Bett, umklammerte das weiche Kissen, als ob es mir in irgendeiner Weise Trost spenden könnte und weinte hemmungslos.
Ein leises Klopfen an der Tür ließ mich hochschrecken.
„Leah, bist du da?" Die traurige Stimme meines Bruders drang an mein Ohr.
Schnell wischte ich mir mit dem Handrücken über die Wangen und schluckte ein paar Mal. Nachdem ich aus dem Bett gesprungen war atmete ich tief durch und eilte zur Tür um Mike Einlass zu gewähren.
Er trat ein, schloss die Tür hinter sich wieder und setzte sich auf mein Bett. Ich nahm neben ihm Platz und lehnte mich an seiner Schulter. Sofort legte er seinen Arm um meine Taille und drückte mich sanft. Neue Tränen sammelten sich, aber ich blinzelte und schluckte, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden.
Für eine Weile saßen wir schweigend da und jeder ging seinen eigenen Gedanken nach.
„Roy wird mir nicht glauben, dass ich nicht weiß wo du bist. Das ist dir bewusst, oder?" Mike's Stimme war leise. Ich wusste, dass er jetzt seine Stirn runzelte und auf eine Antwort wartete.
Ja, diese Tatsache war mir bewusst. Aber darum hatte ich mich schon gekümmert. Ich stand seufzend auf und hockte mich vor meinem grossen, vollgepackten Koffer hin. Aus einer kleinen Tasche ganz oben holte ich einen weißen Umschlag heraus.
„Bitte, gib das hier Roy". Mehr sagte ich nicht, sondern hielt ihm stumm das Papier entgegen.
Fragend sah er mich an und öffnete seinen Mund, besann sich aber eines anderen und schloss ihn wieder. Zögernd nahm er den Brief, warf einen kurzen Blick drauf und legte ihn auf das weisse Laken meines Bettes.
„Ich will jeden Tag von dir hören, Leah. Du hast meine Nummer und sobald du angekommen bist, will ich, dass du mir schreibst. Hast du verstanden?" Streng und sehr ernst sah er mich an.
„Mike, ich kann nicht versprechen, dir jeden Tag zu schreiben, aber ich werde mich ständig bei dir melden, okay?" Da ich zukünftig in einem Hotel arbeiten würde, wusste ich ja nicht, wie viel freie Zeit ich haben würde. Darüber hätte mir Ms Valeria noch nicht aufgeklärt.
"Gut. Und wenn das Baby erst da ist, bin ich der Erste, der davon erfährt". Er sagte es so, als ob wir es gerade abgemacht hätten. Ja, das war Mike. Selbstsicher und stets bekümmert um seine kleine Schwester. Ein schwaches Lächeln schlich sich auf meine Lippen.
„Wem sonst könnte ich's denn erzählen? Du bist der einzige hier, mit dem ich Kontakt halten kann."
Er musterte mich kurz und sah mir tief in die Augen. „Außer noch mit Roy". Sein Blick ruhte immer noch auf meinem Gesicht. „Ich finde es nicht okay, dass du ihn so abservierst".
Schuldbewusst senkte ich den Blick. Ich servierte ihn nicht ab, aber das war, grösster Wahrscheinlichkeit nach, genau das, was Roy empfinden würde.
„Ich weiß, dass es ihn verletzen wird. Aber verstehst du nicht, das ich nur das Beste will? Und wenn du ehrlich bist, würdest du es doch genauso machen". Schwermütig ließ ich mich wieder neben Mike auf das Bett fallen, das einen knarrenden Laut von sich gab.
"Nicht so aufregen, Schwesterherz. Ist nicht gut für das Baby. Und ja, ich würde es wahrscheinlich auch so machen. Aber ich hasse es meinen besten Freund belügen zu müssen".
Wenn Mike etwas aus tiefstem Herzen hasste, dann Unehrlichkeit, das wusste ich. Aber er würde ja auch nicht lügen müssen, sondern einfach nur nicht alles erzählen.
„Lügen sollst du ja auch nicht. Du weißt sowieso nicht, wo diese Ms Valeria wohnt und genau deswegen sag ich's dir nicht. Alles was Roy erfahren darf, steht auf dem Zettel". Mit einem sehr schlechtem Gewissen stellte ich mich vor, wie Roy meine Worte lesen würde. Wie tief würde die Wunde sein, die ich ihm zufügen würde ? Mir war scheußlich zumute. Das bisschen, dass ich zu Frühstück gegessen hatte, drohte hochzukommen.
Ich warf einen Blick auf meine schwarze Armbanduhr und stellte traurig fest, dass es höchste Zeit war, mich zu verabschieden. Ich stand auf, schaute mich im Zimmer um und ging in Gedanken schnell noch einmal alles durch, um mich zu vergewissern, dass ich auch wirklich alles Notwendige eingepackt hatte: Kleider, Photos von meiner Familie und Roy, mein Tagebuch, Haarbürste und die Kette die ich von Roy hatte. Hastig griff ich nach dem kleinen silbernen Herz an dem Anhänger, den ich jeden Tag um den Hals trug. Genau vor drei Wochen hatte er mir diese wertvolle Kette als Symbol seiner Liebe geschenkt. An diesem Abend hatte sich mein Leben vollkomen verändert. Es war mir dann noch nicht bewusst gewesen, was für Konsequenzen es mit sich bringen würde, wenn ich seinen Liebkosungen nachgab. Und dann war es einfach passiert. Genau hier in diesem Zimmer. Unwillkürlich glitt mein Blich zu dem schneeweissen Laken, das mich förmlich anklagte. Jedes Mal, wenn ich in mein Zimmer trat, musste ich daran denken, was passiert war. Es war zwar nur einige Male passiert und wir beide hatten es schon bitter bereut, aber es war passiert. Keiner von den Beiden hatte soweit gehen wollen und beide wussten, dass es falsch war, aber immer wieder wenn wir uns seitdem trafen, endete es auf ein und derselben Weise. Nicht, dass es mir nicht gefiel, wenn Roy sich von seiner zarten Seite zeigte, ganz im Gegenteil, es waren eines der schönsten Momente in meinem Leben gewesen, aber es war falsch. Ich hatte mir geschworen, mich für meinen zukünftigen Ehemann rein zu halten und das Gelübde hatte ich gebrochen. So war ich nunmal nicht. Aber das war nicht der einzige Grund, weshalb ich meine Tat so sehr bereute. Was am schlimmsten war, dass ich meine Familie in Schande stürzte, sobald die Leute merken würden, dass mein Bauch wuchs. Sowas kam einfach nicht vor, dass eine junge, unverheiratete Frau ihren Körper so entweihte! Und die meisten würden auf meine Eltern zeigen und sie verwünschen, da sie nicht im Stande gewesen waren, ihre Tochter zu erziehen. Doch ich wusste es besser. Meine Eltern hatten sich grösste Mühe gegeben, aus ihren Kindern etwas Großartiges zu machen. Mam hatte mich so oft vor den Lüsten und Reizen der Sünde gewarnt. "Reichst du ihnen die Hand, nehmen sie dich ganz", so hatte sie es unzählige Male formuliert. Und genau das war passiert, ich hatte mich ihnen ganz hingegeben.
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