Kapitel 19


Müde richtete ich mich im Bett auf. Ich hatte zwar mehrere Stunden geschlafen, aber es war gestern auf der Willkommensparty ziemlich spät geworden, da wir noch alles wegputzen mussten. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es schon halb acht war. Heute war Sonntag und wenn ich mal wieder in die Kirche wollte, dann müsste ich mich langsam fertig machen. Es war schon nicht sehr früh und... Oh weh! Halb acht? Ich schreckte hoch. Hatte ich meinen Wecker nicht gehört? Mein Pulsschlag beschleunigte sich und mein Gewissen meldete sich lautstark. Ich hatte Julia und Ale mit der ganzen Morgenarbeit alleine gelassen! Sie hatten gearbeitet, während ich  seelenruhig geschlafen hatte. Das war unverantwortlich. Und peinlich! Ich schwang mich aus dem Bett und eilte in mein Bad. Doch hatte ich das wohl zu schnell getan, denn mir wurde plötzlich schwindelig und mein Magen krampfte unangenehm. Aber wenn ich wenigstens noch rechtzeitig zum Gottesdienst erscheinen wollte, dann müsste ich mich jetzt besser beeilen.

Draußen vor dem Hotel traf ich auf Ale und Julia, die auf der Veranda saßen und ihr Frühstück verzehrten. Mein schlechtes Gewissen machte sich wieder bemerkbar und ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend näherte ich mich ihnen und begrüßte sie leicht verunsichert.
„Ähm, und übrigens wollte ich mich noch entschuldigen, dass ich heute verschlafen habe. Es ist mir unglaublich peinlich und es tut mir aufrichtig leid." Beschämt senkte ich den Blick und hoffte, dass die Beiden nicht allzu sauer wären.
„Ach, Leah, mach dir keinen Kopf. Es ist absolut kein Problem. Du brauchst in dieser Zeit Ruhe und wir haben's gern getan. Nicht wahr, Julio?"
Julia runzelte die Stirn. „Ja, klar, aber wieso nennst du mich Julio?"
„Das ist Spanisch und die männliche Version für Julia. Und da du der Patenonkel von Leah's Baby bist, heißt du ab jetzt Julio."
Julia lachte auf und klopfte ihrer Freundin auf die Schulter. „Stimmt ja eigentlich. Das heißt, dass wir Pateneltern sind, oder?" Fragend sah sie Ale an und diese nickte eifrig.
„Yeap, so ist es."
Ich schüttelte den Kopf und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Ihr seid wirklich verrückt. Egal, jedenfalls gehe ich jetzt in die Kirche. Kommt ihr mit?" Ich rechnete mit einer klaren Absage, aber fragen konnte ich ja.
„Ohne mich. Ich war mal in einer Kirche und hatte mein Handy Zuhause gelassen. Mann, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie furchtbar langweilig das war! Meine Finger juckten, weil ich nicht mal durch Instagram und Facebook stöbern konnte. Schließlich bin ich vor lauter Langeweile eingenickt." Ale verdrehte die Augen und stützte ihren Kopf auf ihrer Hand ab. „Naja, jedenfalls bis diese alte Oma mit ihren Ellbogen meine Rippen zertrümmert hat", fügte sie mit missmutig hinzu.
„Ist es weit von hier?" Julia sah mich fragend an und ich glaubte einen Hauch Interesse in ihrem Gesicht zu erkennen.
„Nein, eigentlich nur die Straße ein paar hundert Meter rauf." Ich zeigte mit der Hand in die besagte Richtung.
„Ich weiß nicht, ich würd gerne, aber ich hab mich nicht fertig gemacht und es ist schon spät. Vielleicht ein anderes Mal." Ein entschuldigendes Lächeln umspielte ihre vollen Lippen.
Das war immer hin ein Anfang. Vielleicht würde sie mich eines Tages begleiten. „Vale. Na dann, viel Spaß euch Beiden!" Ich setzte mich in Bewegung, als Ale mir noch gelangweilt ein 'Ebenfalls' erwiderte.

Etwas nervös betratt ich den grauen Zementboden der großen Kirche. Viele Bänke waren aufgereiht worden und ganz vorne stand eine weiß gestrichene Kanzel. Es war schon etwas länger her, dass ich das letzte Mal an einem Gottesdienst teilgenommen hatte. Genau genommen, seit diesem Abend mit Roy, an dem ich nicht hatte widerstehen können. Und genau deswegen war ich heute hier, weil ich endlich meine Schuld vor Gott bringen wollte, um mit Ihm ins Reine zu kommen. Seine schwere Hand lag schon lange auf mir, doch ich hatte mich viel zu sehr geschämt, als dass ich dafür um Vergebung gebeten hatte. Zu groß war die Scham, die ich darüber empfunden hatte, als dass ich mich getraut hatte, mit Ihm darüber zu reden. Es war, als wäre eine Mauer zwischen uns errichtet worden und ich hatte nicht den Mut, sie zu beseitigen, aber je länger ich wartete, je höher wurde sie. Ich sehnte mich nach einer ungestörten Gemeinschaft mit meinem himmlischen Vater, der mir schon damals all meine Schuld vergeben hatte. Der sich selbst opferte, für mich am Kreuz einen furchtbaren Tod starb und am dritten Tage auferstand, auf dass mir meine Sünden vergeben werden konnten und ich nach meinem irdischen Leben auf ewig mit Ihm vereint werden würde. Aber wenn ich das nicht beseitigen würde, würden sich bald immer mehr Dinge zwischen uns anhäufen und je höher die Mauer, die uns voneinander trennte. Zwar war ich bekehrt, aber meine unbereinigte Schuld trieb mich immer weiter weg von Gott. Heute wollte ich Ihm meine Schuld gestehen, Ihm um Verzeihung bitten und daran glauben, dass er sie wirklich vergeben und ausgelöscht hatte. Ich hatte Seine leise Mahnungen sowieso schon viel zu lange ignoriert. Jetzt war es an der Zeit, mich meinem Vergehen zu stellen und Seine erlösende Vergebung zu empfangen.

Als ich nach dem Gottesdienst zurück zum Hotel schlenderte, immer darauf bedacht, nicht in die Staublöcher zu treten, fühlte ich mich frei. So frei, wie schon lange nicht. Ich war mir seiner Vergebung bewusst und das erfüllte mein Herz mit tiefer Dankbarkeit. Dass Er mich immer und immer wieder annahm, egal wie groß meine Schuld bei ihm war, das hatte ich nur seiner unendlichen Gnade zu verdanken.
Ein Auto bretterte an mir vorbei und wirbelte eine große Staubwolke auf, in der ich komplett eingehüllt wurde. Ich hielt die Hand vor meinen Augen und versuchte nicht zu atmen, bis der Staub sich etwas gelegt hatte. Glücklicherweise war ich schon fast Zuhause, oder dort, was ich im Moment als meinen festen Standort bezeichnete. Ein Zuhause war es noch lange nicht. Klar, ich fühlte mich dort mittlerweile wohl, hatte ein paar Bekanntschaften gemacht und kam mit Ale und Julia ganz gut zurecht. Aber damit es zu einem Zuhause werden konnte, bedurfte um Einiges mehr. Dazu müsste der Mann, mit dem ich insgeheim mir immer noch wünschte, mein Leben zu verbringen, auch hier sein. Zwar war es sehr unwahrscheinlich, dass wir je wieder eine gemeinsame Zukunft hätten und schon gar nicht, wenn ich alles Mögliche tat um ihn von mir fernzuhalten, aber ich war einfach noch nicht bereit, ihm aus meinem Herz zu verbannen. Allein bei dem Gedanke daran wurde mir schlecht. Das könnte und wollte ich nicht. Noch nicht. Ich wusste, dass irgendwann die Zeit kommen würde, an der ich mich damit konfrontieren müsste, wie mein Leben weiter verlaufen sollte, aber das zögerte ich gut und gerne so weit wie nur möglich hinaus. Zu tief war die Liebe, die ich für Roy empfand, als dass auch nur irgendjemand seinen Platz hätte streitig machen können. Zu groß die Sehnsucht danach, von ihm in die Arme genommen zu werden, mich an ihn zu kuscheln und einfach alles andere zu vergessen.
Wieder einmal wurde mir schmerzlich bewusst, wie viel fester ich mich an Roy klammerte, seit ich ein Teil von ihm in mir trug. Und genau dieser Teil, dieses kleine Leben, schenkte mir die Hoffnung, irgendwann mal wieder mit ihm vereint sein zu können.

*Vale = Okay

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top