Kapitel 18
Ich stand vor Julias großem Spiegel und betrachtete mein Aussehen. Die Haare hingen in leichten Wellen über meine Schultern. Das Oberteil meines gelben Kleides, das gerade bis unter meinen Knien reichte, war mit Spitze versehen. Mein dunkles Haar bildete einen starken Kontrast zu der hellen Farbe des Gewandes. Ich hatte es genäht, kurz bevor ich ausgezogen war und hatte kaum erwarten können, es für Roy zu tragen. Doch dazu war es nie gekommen.
Wehmütig lächelte ich mein Spiegelbild an und drehte mich zu meine beiden Arbeitskolleginen um. In dem Moment schoss Ale mit ihrem i-Phone ein Bild von mir.
„Hey! Was soll das?", empörte ich mich.
Alejandra kicherte. „Du siehst wirklich gut aus. Ich schick dir das Bild gleich mal."
Und schon vibrierte mein Handy, das auf Julias Nachttisch lag. Ich griff danach und mein Blick fiel auf die unbeantwortete Nachricht von Mike. Schnell entsperrte ich es und tippte eine Antwort zurück.
Schön. Wir schmeißen hier heute eine Willkommensparty.
Ohne weiter darüber nachzudenken, schickte ich ihm das Bild, das Ale geknipst hatte. Vielleicht hatte ich doch den Hintergedanken, dass er es Roy zeigen würde? Nicht, weil ich mir dadurch Komplimente erhoffte, sondern einfach weil ich gern ein aktuelles Foto von ihm hätte.
Es dauerte wenige Sekunden, bis er antwortete und mich beschimpfte, dass ich ihn so lange hatte warten lassen.
„Wir haben zwar noch 15 Minuten, aber vielleicht sollten wir schon mal zum Veranstaltungszimmer gehen", schlug Ale vor und rückte den engen Rock ihres navyblauen Kleides zurecht, das ihr nur bis zu den halben Oberschenkeln reichte. Der Ausschnitt war gewagt und es gab einen großzügigen Blick auf ihren stark sonnengebräunten Rücken frei. Sie fing meinen skeptischen Blick und zog ihre Augenbrauen hoch. „Was? Valeria hat gesagt, und ich zitiere, 'Kleidchen'."
„Du bist ihrer Bitte sehr genau nachgekommen", mischte sich jetzt auch Julia ein und beäugte sie kritisch.
„Ach, hör auf! Dein Kleid ist nicht viel länger!", meckerte sie.
„Immerhin verdeckt es meinen Hintern." Sie stellte sich vor dem Spiegel und strich über den zarten, dunkelgrünen Stoff, der ihre mossgrünen Augen wunderbar zur Geltung brachte.
Alejandra verdrehte die Augen und atmete laut aus. „Ich bin dann mal weg." Und schon war sie auf ihren hohen, schwarzen Schuhen davongestöckelt. Ich konnte nicht umhin, ein kleines bisschen neidisch zu sein. Insgeheim hatte ich mir immer solche Schuhe gewünscht, aber sowas kam nicht mehr in Frage für mich, da es das erstbeste Zeichen einer Nutte war. Das jedenfalls hatte die Frau des Pastors damals behauptet. Ich hatte nie ihre Ansicht geteilt, aber die ganz große Mehrheit tat es und als ich mir eines Tages Absatzschuhe gekauft hatte, war die Hölle los. Meine Mutter bekam fast tagtäglich Besuch von den Dorffrauen, die ihr in allen Einzelheiten die Sünde ihrer Tochter zu verdeutlichen versuchten. Sogar die Mädchen, mit denen ich mich normalerweise in der Kirche unterhielt, schienen mich an dem Sonntagmorgen nicht zu kennen, entweder aus Angst vor den Anderen oder weil sie selbst der Annahme waren, dass ich etwas ganz, ganz Furchtbares getan hatte. Ältere Männer hielten sich darüber auf, dass ich den Verdacht, den die Meisten sowieso schon von mir hatten, damit in aller Offenheit bestätigt hätte. Das war das Erste und Letzte Mal, dass ich hohe Schuhe getragen hatte.
Ein bisschen nervös stand ich neben Ale bei dem Gebäcke Tisch und beobachtete die Gäste, die sich hier nach und nach versammelten. Ich griff nach meinem Herzanhänger und stellte mir vor, wie es wohl wäre, wenn Roy hier neben mir stünde und seinen Arm um meine Taille legen würde.
Plötzlich ertönte ein gläsernes Klirren und dann vernahm ich Valeria's Stimme: „Sehr geehrte Damen und Herren."
Das Gemurmel verstummte und alle wandten sich der Gastgeberin zu.
„Danke, dass ihr uns mit eurem Aufenthalt im grünen Paradies beehrt. Ich heiße euch herzlich Willkommen! Wir freuen uns, euch heute und zwei weitere Tage bedienen zu dürfen und hoffen, dass ihr eine gute Zeit haben werdet. Viel Spaß und amüsiert euch!"
Mr. Thompson klatschte begeistert die Hände und einer nach dem Anderen fiel in seinen Applaus mit ein.
Es dauerte nicht lange, bis die ersten Gäste sich unserem Tisch näherten. Ein junger, dürrer Mann, dessen rotes Haar wirr vom Kopf abstand, bildete den Anfang der Warteschlange. Lächelnd, wie Valeria mir befohlen hatte, reichte ich ihm einen Plastik Teller und das Geschirr, das mit einer weißen Serviette zusammen gehalten wurde. Die nächsten Minuten war ich damit beschäftigt, während Alejandra behutsam die gewünschten Leckerbissen oder Früchte auf die Teller legte.
Ich sah mich im Raum um, um mich zu vergewissern, dass auch jedermann saß und anschließend nahm ich mir einen Schokoladen Croissant, eine 'Empanada de queso' und ein großzügiges Stück Erbeerkuchen. Mit den Augen suchte ich die Tische nach einem freien Platz ab und begab mich erleichtert in die Richtung, in der ich einen leeren Stuhl sah, der glücklicherweise neben Mr. Thompson's stand.
„Darf ich?", fragte ich ihn höflich und deutete auf den unbesetzten Platz neben ihn. Sein Gesicht erhellte sich. „Aber gern doch, Miss."
Behutsam stellte ich meinen Teller auf den Tisch und setzte mich langsam. „Nennen Sie mich Leah." Meine Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln.
„Aber dann bestehe ich darauf, dass Sie mich Richard nennen." Er reichte mir seine leicht verschrumpelte Hand, die ich leicht drückte.
„Leah, schöner Name", ertönte plötzlich eine heisere Stimme. Ich blickte zu dem jungen Kerl mir gegenüber, von dem das Kompliment stammte. Unzählige Sommersprossen und eine viel zu grosse Brille schmückten sein Gesicht. Am liebsten hätte ich angewidert das Gesicht verzogen, als er lüstern meinen Brustumfang musterte, doch ich riss mich zusammen und biss energisch in meinen Croissant.
„Passt zu deinem wunderschönen Gesicht", ergänzte er nach einer Weile und entblößte eine Reihe schneeweißer Zähne.
Mir lief ein unangenehmer Schauer über den Rücken und ich war fest entschlossen, ihn von mir fern zu halten. Ich hatte einen Freund und selbst wenn ich keinen gehabt hätte, würde ich mich nicht mit einem solch oberflächlichen Typ abgeben. Und ich hatte auch schon eine Idee, wie ich ihn vergraulen würde. Es war eine wirklich, wirklich dumme Idee, aber hoffentlich eine, die wirkte.
Ich biss in meine Erdbeertorte, kaute hörbar und sah ihn an. „Du findest mich hübsch?", fragte ich mit halbvollem Mund und lächelte übertrieben.
Mr. Thompson runzelte die Stirn und sah mich verwirrt an, sagte jedoch nichts. Ich verdrehte die Augen und blickte noch einmal unauffällig in die Richtung des widerlichen Kerls, der mich immer noch lüstern ansah. Das würde ihm hoffentlich bald vergehen.
„Alllerdings. Sehr hübsch sogar." Seine tiefe Stimme jagte mir eine Gänsehaut über den Körper.
Erneut biss ich in meinen Kuchen, so unvorsichtig, dass an meinem Mund die weiße Sahne klebte und ich machte mir keine Mühe, sie wegzuwischen. „Hmm, dieser Kuchen ist so lecker", sagte ich und schmatzte weiter. Ich ekelte mich vor mir selber und hoffte inständig, dass er es auch als widerlich empfand. Direkt sah ich ihm in die Augen, schenkte ihm ein übertrieben breites Lächeln, das falscher nicht sein konnte und klimperte mit meinen kurzen, schwarzen Wimpern. Er schien leicht irritiert zu sein und senkte stirnrunzelnd den Blick auf seinen Teller, während er sich seiner Vanilletorte widmete.
Mr. Thompson sah mich mit zusammen gekniffenen Augen an, doch plötzlich erhellte sich sein Gesicht und ein kaum bemerkbares Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Er räusperte sich und fragte: „Wer als erster fertig ist?" Und schon stopfte er sich ein großes Stück von seinem Plätzchen in den Mund.
Ich musste mich zusammen reißen, um nicht laut los zu prusten und schob mir das übrige Stück Kuchen in den Mund. Ziemlich wild kaute ich mit Richard um die Wette, während unser Gegenüber uns angewidert zusah. Mit den Fingern riss ich die Empanada in zwei Teile und eins verschwand gleich darauf in meinem Rachen. Doch Richard war schneller und gewann unser Wettessen. Er sah mich siegessicher an.
Schmunzelnd sah ich in das Gesicht des Sommersprossigen. Seine Lippen waren leicht geöffnet und der Löffel mit der Vanilletorte hing irgendwo in der Luft zwischen Teller und Mund. Wie gerne hätte ich laut losgelacht, aber das musste noch ein Weilchen warten. Langsam streckte ich meine Hand aus, an der immer noch Krümel und Schokolade klebten und tat so, als wollte ich seine ekligen Finger berühren. Ich hoffte aus tiefstem Herzen, dass er es verhindern würde, denn sonst würde das Ganze gewaltig nach hinten losgehen.
„Ähm", er räusperte sich und sah panisch auf meine Hand, dann auf seinen gefüllten Teller, „äh, ich muss mir mal was zu trinken holen". Hastig erhob er sich, griff nach seinem Essen und drehte sich um. Volle Kanne krachte er gegen seinen Stuhl und nur mit Mühe gelang es ihm, dass er nichts von seinem Essen verschüttete. Er floh davon und drehte sich noch einmal um, um sich zu vergewissern, dass ich ihm auch ja nicht folgte.
Ich konnte nicht länger an mich halten und brach in lautes Gelächter aus, das uns ein paar neugierige Blicke einbrachte. Verzweifelt versuchte ich es zu unterdrücken doch Richards Kichern machte es mir unmöglich. Allein schon der Anblick auf seine bebenden Schultern ließ mich erneut losprusten. Er klopfte mit der flachen Hand auf den Tisch und schüttelte den Kopf, während mir die Tränen in die Augen traten. Ein paar weitere Gäste warfen uns komische Blicke zu und konnten sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Nachdem wir uns endlich beruhigt hatten, meinte Richard: „Du bist so eklig!" Er kicherte erneut los.
„Tja, den bin ich wohl los." Mit einem breiten Grinsen griff ich zur Serviette und putzte meine schmutzigen Finger.
Eine Empanada de queso ist eine Käse Tasche.
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