Kapitel 1


Beschämt starrte ich auf meine zitternden Hände, die verzweifelt ein hellblaues Taschentuch umklammerten. Ich wagte nicht in das tränenüberströmte Gesicht meiner Mutter zu sehen. Und ich wusste, dass ich ihr eine Erklärung schuldig war, aber ich hatte keine Ausreden oder auch nur irgendetwas zu meiner Verteidigung zu sagen, denn ich hatte besser gewusst und mich trotzdem dagegen entschieden.
„Es tut mir unendlich leid, Ma. Mir ist bewusst, dass ich einen Fehler gemacht habe und ich trage die volle Verantwortung dafür. Bitte, hass mich aber nicht".
Der Kloß, der sich in meinen Hals bildete, machte es mir unmöglich weiterzusprechen.
„Ach, Leah", schluchzte sie, „hassen könnte ich dich nie, aber ich bin tief verletzt". Sie warf sich die Hände vors Gesicht und heulte erneut auf.
Mein Herz brach. Wie hatte ich meiner Mutter sowas antun können? Das ganze Dorf würde jetzt verächtlich auf sie zeigen und sie verantwortlich machen für die unverzeihliche Schandtat ihrer ungehorsamen Tochter. Zum Gespött würde sie gemacht werden, es würde ständig über sie getuschelt werden und sogar ihre Freunde würden sie verlassen. Aber das würde ich nicht zulassen. Ich hatte nachts lange mit mir gerungen und viele Tränen vergossen, bis ich  zu einem Entschluss gekommen war.
„Ich werde fortgehen, Ma. Irgendwohin wo mich niemand kennt. Niemand hier muss erfahren, was passiert ist. Und sobald das Baby da ist, schick ich dir einen Brief". Ich rechnete mit noch einem Tränenausbruch ihrerseits, aber überraschenderweise war es plötzlich ganz still geworden.
Zögernd blickte ich auf und sah, dass sie mich nachdenklich musterte.
Schließlich fragte sie leise: „Und was ist mit Roy?"
Ein Pfeil traf mich mitten ins Herz. Roy. Der Mann, den ich schon seit über drei Jahren kannte, der meine dunklen Seiten gesehen hatte und trotzdem zu mir hielt. Der Mann, den ich aus tiefstem Herzen liebte und dessen Kind ich unter meinem Herzen trug. Eine heiße Träne bahnte sich ihren Weg über meine Wange und eine weitere drohte dieser zu folgen, doch ich schluckte schwer und wischte mir mit dem Handrücken über die Wangen. Entschlossen sagte ich: „Er wird nicht erfahren wo ich hingehe."
Meine Mutter senkte den Blick und schwieg eine Weile, bevor sie antwortete: „Bitte geh nicht, Liebes". Ich hörte den tiefen Schmerz in ihrer flehenden Stimme.
„Ich muss, Ma, ich muss. Ich weiß, dass ich dir Kummer bereitet habe, aber ich habe gründlich darüber nachgedacht und das hier ist die beste Lösung - für uns alle". Ich nahm ihre Hand und drückte sie sanft.
„Und wo willst du hin? Es ist alles fremd da draussen und es gibt so viele böse Menschen, wer weiß, was dir alles angetan werden könnte und -".
Ich drückte ihre Hand noch einmal und unterbrach sie: „Erinnerst du dich noch an Ms. Valeria Gutierrez? Sie freut sich bestimmt für ein bisschen Aushilfe in ihrem Hotel".
Ich hatte Ms Valeria auf meiner Schulabschlussreise kennen gelernt, als ich mit meiner Klasse und meinem Lehrer in einem größeren Dorf, auch das grüne Paradies genannt, übernachtet hatte. Seitdem waren schon zwei Jahre vergangen und Ms Valeria war am Anfang dieses Jahres für ein paar Tage zu Besuch gekommen. Wir hatten uns damals sofort angefreundet und seitdem Kontakt gehalten.
Zögernd nickte meine Mam. Ich wusste, wie schwer es meiner Familie fallen würde, mich gehen zu lassen, aber es war zum Besten aller Beteiligten. Meine Eltern, mein großer Bruder Mike und Roy würden es mir bestimmt nie verzeihen, aber meine Entscheidung stand fest.
Eine ganze Weile saßen wir da, ohne etwas zu sagen, bis meine Mutter die Stille beendete. „Leah", die Unsicherheit in ihrer Stimme war nicht zu überhören, „wann kommt das Baby eigentlich?"
Diese Frage überraschte mich, denn ich hatte selber noch nicht darüber nachgedacht. Ich hatte mir bisher ständig nur in den dunkelsten Farben ausgemalt, wie meine Eltern auf diese Weihnachtsneuigkeit reagieren würden. Ich überlegte kurz und rechnete schnell nach.
„Im August oder so, glaub ich". Ja, das müsste ungefähr hinkommen.
Ich wusste nicht, ob ich mich irrte oder ob sich wirklich ein kaum bemerkbares Lächeln auf Mams Lippen schlich. Dann sah sie mich an und öffnete ihren Mund, als ob sie etwas sagen wollte, klappte ihn aber doch wieder zu und beobachtete ihre Nägel. Das tat sie immer, wenn sie sich etwas unsicher fühlte. Ich dagegen kaute auf meinen Nägeln, auch wenn mir das äußerst peinlich war und ich wusste, dass ich mir das dringend abgewöhnen sollte.
Ich legte den Kopf schief, formte meine Augen zu Schlitzen und fragte: „Was wolltest du eigentlich sagen, Mam?"
Unsicher blickte sie auf, während sie ihre Hände knetete. „Naja, ähm", stotterte sie, „willst du irgendwann wissen, ob's ein Junge oder ein Mädchen wird?" Auf ihre bleichen Wangen schlich sich ein zartes Rosa . Wir redeten nicht oft über solche Sachen, weshalb es mich auch nicht wunderte. Bisher hatten wir ja auch noch nicht wirklich Grund gehabt, uns so offen über so etwas zu unterhalten.
„Ehrlich gesagt, weiß ich das noch nicht so genau, aber ich glaube, ich lass mich überraschen". Ich sah ihr ins Gesicht und lächelte leicht. Mam erwiderte es.
Ein Schatten huschte über die Augen meiner Mutter und sie runzelte die Stirn, bevor sie mich wieder ansah. „Hast du vor, es Roy jemals zu sagen?"
Ich zuckte zusammen. Mit so einer Frage hatte ich nicht gerechnet. Sofort meldete sich mein schlechtes Gewissen und ich senkte rasch den Blick. Verlegen schaute ich wieder auf und Mam studierte mich eindringlich. Ich seufzte traurig. „Keine Ahnung. Ich würde ja so gerne unserem Kind eine normale Kindheit bieten, mit einer Mutter und einem Vater, aber damit würde ich Roy's Zukunft zerstören. Er hat es verdient, glücklich zu werden und wenn jetzt jedermann erfährt, dass-", ich suchte nach den richtigen Worten, „dass wir ein Kind erwarten, wird es ihm genauso ergehen wie euch, Ma".
„Aber könnt ihr denn nicht gleich heiraten, anstatt dass du wegziehst?" Bittend sah sie mich an. Ich schenkte ihr ein mattes Lächeln und tätschelte ihre Hand.
„Der Gedanke klingt sehr verlockend und ich würde nichts lieber tun als das." Ich blickte auf meine Hände, die sich wieder um das Taschentuch klammerten und mir war bewusst, dass es ihr nicht entgehen würde, dass mein Kinn leicht zitterte.
„Aber?" Ihre Stimme war zärtlich und ich spürte ihren Blick auf mir.
„Aber die Leute hier sind nicht dumm. Oder vielleicht sind sie ja genau das, ich weiß es nicht, aber es wäre auf jeden Fall auffällig, dass wir so Hals über Kopf heiraten würden, da bisher noch nicht einmal wirklich die Rede davon war. Bis alles vorbereitet wäre, würden es mir ganz sicher schon anzusehen sein. Und wie die tratschen, würde es keine zwei Tage dauern, bis jeder hier wissen würde, was passiert ist." Ich hob meinen Zeigefinger und stellte meine Stimme extra schrill. „Habt ihr schon gehört, was die Leah dieses Mal getan hat? Jetzt hat sie den armen Roy zur Sünde verleitet und erwartet auch noch ein Kind. Ich werde meinen Töchtern verbieten, auch nur ein einziges Wort mit ihr zu wechseln!" Oh ja, ich konnte mir genau vorstellen, wie Mrs. Miller es der Welt offenbarte. Angewidert verzog ich das Gesicht und ein Schauer fuhr über meinen Rücken.
Langsam nickte Mam, doch die Traurigkeit in ihren Augen war nicht verschwunden. „Im Januar wirst du 20, du bist alt genug um dein eigenes Leben zu führen, das sehe ich ein. Aber der Gedanke daran, dass ich dich bald verlieren werde, tut unglaublich weh". Ihre Stimme war zuletzt nur noch ein Flüstern. Ich sah, dass ihre Augen verdächtig glänzten und schnell erhob ich mich, ging zu ihr und umarmte sie. „Du wirst mich nie verlieren, Ma, ich bin und bleibe deine Tochter. Für immer".

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