Bainrìgh Sienna
Mein Mut sank mit jedem Schritt. Ich hatte mir diesen Moment immer und immer wieder vorgestellt. Eldarion lag auf einem Sockel aus Marmor. Auf den ersten Blick hätte man meinen können, er würde nur schlafen. Doch ich kannte die bittere Wahrheit. Mein Vater war nicht mehr. Das bedeutete aber auch, dass ich als sein einziges Kind jetzt an seine Stelle treten musste. Das war einfacher gesagt als getan. Ich war gerade erst neunzehn Jahre alt, eine Frau und unverheiratet. Aber der Thron Gondors war mein Geburtsrecht, das würde ich mir nicht nehmen lassen.
Leider hatte der Kronrat bei dieser Angelegenheit auch noch ein Wort mitzureden. Ein Regent war ein wohl unvermeidbares Übel, darüber machte ich mir keine falschen Vorstellungen. Ich fragte mich eher, bis wann es einen Regenten geben würde. Bis ich heiratete oder mein einundzwanzigste Lebensjahr erreichte vielleicht. Aber vermutlich war es sowieso zwecklos, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Mein Vater hatte die Thronfolge und alle anderen Angelegenheiten zweifelsohne geregelt. Aber wenn dem so wäre, dann hätte er doch sicher auch schon einen Ehemann für mich ausgesucht gehabt? Vielleicht sogar Fürst Alphros, das Schicksal war schliesslich unberechenbar. Der Gedanke schien mir zuerst lächerlich, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr Sinnvoller erschien mir diese Möglichkeit.
Wir brauchten jetzt treu ergebene Vasallen mehr als je zuvor. Meine Cousine hatte einen Erben zur Welt gebracht, und weitere Kinder waren nicht ausgeschlossen. Der älteste Sohn würde den Thron von Rohan erben und über dieses wunderliche Volk von Pferdemenschen gebieten. Das zweite Kind dagegen, da war ich mir nicht allzu sicher. Sie könnten natürlich auch eine Tochter als Herrscherin über Arnor ernennen, aber ein jeder Anspruch über die weibliche Blutlinie wurde als geringer gewertet, als der eines männlichen Nachkommens. Eines stand schon jetzt fest, Gondor standen unruhige Zeiten bevor.
Eine Woche nach meiner Ankunft in Minas Tirith war die Beerdigung Eldarions. Bei Sonnenuntergang würde ich vor den Toren des Palasts offiziell zur Königin Gondors proklamiert werden.
Ich verbrachte den ganzen Tag in der königlichen Gruft und hing meinen Gedanken nach. Meine Ausbildung in Staatskunde liess zu wünschen übrig, aber zumindest war ich vertraut mit der jüngeren Geschichte unseres Königreichs. König Théoden von Rohan hatte uns im Ringkrieg beigestanden und die Allianz zwischen unseren beiden Völkern erneuert. Nur hatte diese nicht allzu lange gehalten. Dabei hatte es doch so vielversprechend begonnen!
Da Théoden im Ringkrieg umgekommen war, erbte sein Neffe Éomer den Thron und wurde der nächste König Rohans. Er heiratete Lothíriel, Prinzessin von Dol Amorth, und seine Schwester, Éowyn, wurde die Gattin von Faramir, Fürst von Ithilien. Es waren zwar beides Liebesheiraten gewesen, aber sie hatten trotzdem ein neues, starkes Band zwischen Gondor und Rohan geschaffen, dass auch mein Vater fortgeführt hatte.
Leider gab es da noch das „verlorene" Reich von Arnor. Schon mein Grossvater, König Aragorn Elessar hatte sich zeitlebens darum bemüht, dieses Fürstentum mit Gondor zu vereinen, doch all seine Bestrebungen waren vergebens gewesen. Es rankten sich viele Mythen um diese äusserst geheime Abmachung zwischen Elfwine, Éomers Sohn, und dem Fürsten in Fornost. Mit Sicherheit weiss man nur folgendes: Die Hand von Prinzessin Alyndra aus Arnor war dem Fürst von Dol Amorth versprochen gewesen, doch die Verlobung wurde gelöst und die junge Edelfrau kurz darauf mit dem König von Rohan verheiratet, um die Wiedervereinigung zu verhindern.
Diese Schmach war bis heute weder vergessen, noch vergeben. Die Grenzgebiete in jeder Himmelsrichtung waren seither gefährliche, gesetzlose Regionen. Meine Mutter befürchtete stets, es könne deshalb zu einem Krieg zwischen Gondor und Arnor kommen. Ich hatte das immer für Schwarzmalerei gehalten, aber so wie die Dinge jetzt lagen, war ich mir dessen nicht mehr so sicher. Wenn meine Cousine sich sicher genug auf ihrem Thron fühlte, traute ich ihr einiges zu. Trotzdem konnte ich mir kaum vorstellen, dass die Völker Mittlerdes nach all dem Leid der letzten Jahrzehnte die Waffen gegeneinander erheben würden, und das alles nur wegen Grenzen.
Bei Sonnenhoch war ich zurück in meinen Gemächern und liess mich einkleiden. Mein Kleid war ganz in Schwarz gehalten, darauf prangte eine üppige weisse Stickerei des weissen Baum Gondors. Mein Spiegelbild erschien mir in diesen üppigen Stoffen ungewohnt und fremd. Ich dachte ernsthaft darüber nach meine Haube wegzulassen, aber entschied mich schlussendlich dagegen. Mein erster Auftritt als Bàinrìgh Sienna, also Königin Sienna sollte makellos sein.
Es war mir ein Rätsel, weshalb Gondor so hartnäckig an seiner alten Sprache, dem Gàidhlig festhielt. Es war seit Menschengedenken die Sprache der Völker Gondor und Arnors. Mit Königin Arwen Undómiel war nach dem Krieg die Sprache der Elben nach Gondor gekommen. Leider aber hatte sich Sindarin, wie die Sprache eigentlich hiess, kaum durchsetzen können. Selbst Vater hatte die Zunge der Elben nur selten benutzt. Fast so, als hätte er sich für seine edle Abstammung geschämt.
Vor dem Tor erschallten die Fanfaren, worauf ich einmal tief durchatmete. Das Schicksal Gondors lag ab sofort in meinen Händen.
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