Todesrosen
Ich schwebte dahin in einer vollkommen dunklen Welt. Mein Körper wurde von dunklen Schlingen aus purer Finsternis geborgen. Endlich konnte mein Kopf wieder etwas zur Ruhe kommen, endlich musste ich nicht mehr über Tod und Leben entscheiden. Ich war in dieser Finsternis nicht verantwortlich für meine Taten oder gar für die Handlungen eines anderen. Hier würde mein Gewissen mich nie finden, zu dunkel war dieser Ort, zu verborgen vor den Augen der Lebenden. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich hier zwar für immer bleiben konnte, doch nicht zu lange verweilen durfte, aber die Finsternis war zu verlockend. Die Schmerzen meines Lebens und der gesamten Welt konnten mich nicht mehr berühren. Ich war geborgen in den Ranken der Dunkelheit. Niemand würde hier etwas von mir verlangen, für das ich nicht bereit war. Die Stille und das Vergessen taten meinem Verstand mehr als gut, bis mir bewusst wurde, dass noch etwas fehlte. Etwas, dass ich nicht missen konnte. Es existierte an diesem Ort auch nichts Fröhliches, kein Lachen, keine feurige Hoffnung, kein noch so einfacher Traum hatte in dieser Dunkelheit bestand. Ich war geschützt vor allem Bösen, vor dem gesamten Übel der Welt, doch auch vor jeder noch so kleinen Nettigkeit, vor jedem Lächeln, vor jedem noch so winzigen Funken Liebe. Etwas in mir begann sich zu regen und gegen die dunklen Ranken anzukämpfen, doch sie wollten mich nicht mehr gehen lassen, hielten mich fest, als wäre ich bereits ein Teil von ihnen. Ein Teil der alles verschlingenden Dunkelheit. Verzweifelt versuchte ich meinen Körper mit purer physischer Kraft aus den Ranken herauszureißen, doch jeder noch so kleine Muskel verweigerte seinen Dienst. Etwas presste meine Luftröhre zusammen. Ich konnte eine weitere Ranke spüren, die meinen Brustkorb fest zusammenquetschte, als wollte sie jedes Leben aus ihm herausdrücken. Japsend versuchte ich Luft zu bekommen, meine Lungen mit den überlebenswichtigen Sauerstoff zu füllen, doch was in mich eindrang war nur blanke Finsternis. Verzweifelt versuchte ich meine wenigen verbliebenen Kräfte zu mobilisieren, um vielleicht für einen winzigen Moment einen klaren Gedanken zu bekommen, eine Lösung, etwas, an dem ich mich festklammern konnte.
Ein verzerrtes Rauschen drang an meine Ohren, scheinbar von weit her. Der Ursprung musste weiter von mir entfernt sein, als der Abstand zwischen Mond und Erde und doch durchbrach dieses winzige Geräusch die Schichten der Welten und drang in mein Gehirn vor: „Polarfuchs!"
Das war mein Name. Falsch, erinnerte ein winziger Teil meines Gehirns mich, das war nicht mein Name. Mein Name war Kate. Polarfuchs war meine Tarnung, meine Maske, ein Fake. Aber es war auch der Name, der die Veränderung in mir beschrieb, den ich mir mit Schweiß und Blut verdient hatte und unter den meine Freunde mich immer erreichen würden, wenn sie Hilfe brauchten!
Verzweifelt versuchte ich mich auf den Ursprung des Rauschens zuzubewegen. Die Stimme hatte den dunklen Zauber der Ranken geschwächt, doch es fühlte sich immer noch an, als würde ich mit bleischweren Armen durch ein Becken gefüllt mit zähen schwarzen Morast schwimmen. Ich kam kaum voran und versuchte meine Taktik zu ändern, indem ich anfing, mich wie eine Schlange zu winden, um mich durch die dunklen Fäden zu winden, doch immer wieder wurde ich von ihnen festgehalten. „Polarfuchs! Wach auf!" Die Stimme in dem Rauschen wurde klarer.
„Wir brauchen dich!" Ich hatte es fast geschafft. Endlich konnte ich den mir so bekannten Klang erkennen. Damian rief mich. Er brauchte mich! Ich musste zu ihm!
„Das hat doch so keinen Sinn. Lass mich mal. Ich weiß, wie man mit Menschen umzugehen hat, wenn sie zu tief ins Glas geschaut haben. Das funktioniert immer." Das war eindeutig Elfe. Ich musste zu ihnen!
„Ich bin mir nicht sicher ob das wirklich dasselbe ist. Sie hat nicht zu tief ins Glas geschaut, sondern ist krank und steht unter starkem medikamentösen Einfluss." „Ach, Stephan! Sei doch kein Spielverderber; das ist doch genau dasselbe. Das eine ist eine Droge und das andere auch."
In Elfes Stimme lag eine versteckte Schadenfreude, die mich warnte, dass ich schleunigst der Dunkelheit entkommen musste, sonst würde irgendetwas geschehen, dass mir mit Sicherheit nicht gefallen würde.
Schritte. Ich versucht verzweifelt meine Augen zu öffnen, doch ich konnte meine Lider nicht spüren. KLATSCH! Zuerst erreichte mich nur das Geräusch. Verwirrt versuchte ich festzustellen, was das wohl gewesen sein könnte. „Das war wohl zu schwach." Sofort folgten zwei weitere Geräusche und erst in diesem Moment breitete sich die Welle des Schmerzes in meinem Kopf aus. Zuerst war es nicht mehr als ein unangenehmes Kitzeln, doch die Welle erhob sich immer weiter, bis gleißendes Feuer durch meinen gesamten Körper zu schießen schien. Ich konnte nicht anders und musste stöhnen. Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich eben meine Lippen tatsächlich bewegt hatte. Tastend schickte ich Befehle dorthin, wo ich meine Augen vermutete und tatsächlich; auf einmal fiel etwas Licht in mein schwarzes Gefängnis. Erst nur sehr wenig, doch dann immer mehr und mehr, bis ich die Umrisse eines Zimmers wahrnehmen konnte. Ich war nicht allein im Raum. Etwas wie schwarze Schemen waren überall in ihm verteilt, diese Schatten mussten wohl Menschen sein. Doch wie viele waren es? Mein Kopf hämmerte und die Gedanken verschwammen immer und immer wieder je stärker ich versuchte die Zahl der dunklen Flecken zu erkennen.
„Sie wacht auf! Ich muss sagen Elfe ist wirklich ein Genie!" Das war eindeutig Einsteins Stimme. Ich wandte den Blick zur verschwommen schwarzen Gestalt, von der die Worte zu kommen schienen.
„Nicht wahr?", kam es krächzend von einem Schatten, der von einem anderen scheinbar an die Wand gepresst wurde, doch vielleicht trug dieser Eindruck, denn der dunkle klebrige Nebel des Vergessens versuchte ständig nach mir zu greifen. Die Stimme gehörte jedoch eindeutig Elfe, auch wenn sie in der Luft zu schweben schien. Ein wütendes Knurren kam von dem Schatten, der bei ihr stand. Ich kannte dieses Geräusch leider nur zu gut, denn zu oft hatte ich es schon am eigenen Leibe spüren müssen, wie es durch Haut und Muskeln glitt, bis es schließlich in den Knochen hartnäckig sitzen blieb und sie zum Vibrieren brachte. Das war eindeutig Damian. Ein scheinbar sehr erzürnter Damian, aber trotzdem war ich froh, dass er hier bei mir war.
„Darf ich dir einen Rat geben, so von Genie zu Genie? Du solltest Damian eventuell nicht noch weiter reizen, sonst werden wir wohl nicht länger intelligente Gespräche auf höchstem Niveau führen können und du hast noch nicht einmal Avengers angeschaut, weswegen du kein Recht hast zu sterben." Das eben war eindeutig wieder Einstein, selbst wenn ich seine Stimme nicht erkannt hätte, hätten die wenigen Worte genügt um zu identifizieren, wer von der wilden Truppe gesprochen hatte.
„Da muss ich zustimmen", brummte Bär zu meinem Erstaunen, wieso war auch er hier? Und wo genau war hier eigentlich? Ein Flugzeug? Waren wir nicht eben dabei gewesen wegzufliegen, als ...
Erneut zuckten Blitze des Schmerzes durch meinen Verstand und unterbanden jeden weiteren sinnvollen Gedankengang. Dafür gewöhnten sich endlich meine Augen langsam an die Helligkeit.
Als hätte Damian mein Erwachen erst jetzt wirklich begriffen, eilte er in dem Bruchteil einer Sekunde zu mir. „Polarfuchs? Vermagst du es, mich zu verstehen? Du darfst nicht wieder in die Bewusstlosigkeit abgleiten, deine Anwesenheit wird hier verlangt!"
„Stimmt Füchslein, sonst geht unser schönes Theaterstück den Bach runter, schließlich bist du unsere Hauptdarstellerin. Es wäre wirklich Schade um die ganze Fassade. Es ist wirklich eine gute Falle, das kann ich bezeugen." Ich kannte diese Stimme, doch schon lange hatte ich sie nicht mehr vernommen. Die giftgrünen Augen leuchteten mir selbst aus dem schwarzen Fleck, der das Gesicht sein musste, entgegen und ich hätte schwören können, dass sich auch die eine oder andere Sommersprosse durch die Dunkelheit hindurch gewunden hatte.
"Schlange?" Meine Stimme war nicht mehr als ein klägliches Krächzen, doch ich war sehr stolz auf mich, dass ich wenigstens dies zu Stande gebracht hatte.
„Wie ich leibe und lebe." Kurz verschwand einer der funkelnden grünen Edelsteine, die so stark an die grünen Giftfrösche im tropischen Urwald erinnerten, als habe Schlange mir zugezwinkert.
Ein zweites Mal sammelte ich meine Kräfte und konzentrierte mich ganz auf den Raum. Endlich entstand ein zwar etwas verzerrtes Bild, doch es reichte fürs erste aus. Alle waren hier. Schlange, Bär, Elfe, Einstein, Damian und zu meinem Erstaunen auch Stephan. Er nickte mir freundlich zu, doch seinen Blick aus seinen strahlenden Augen wandte er sofort wieder besorgt Elfe zu, die sich an seiner Schulter abstützte, während sie mir frech zu grinste und nach Luft rang. An ihrem Hals waren eindeutig rote Würgemale zu erkennen.
„Damian!", versuchte ich ihn wütend zurechtzuweisen. Ich hatte mir das Ganze mit dem schwebenden schwarzen Fleck also doch nicht eingebildet. Meine Stimme versagte allerdings bereits bei der ersten Silbe.
Schweigend reichte mir Bär ein Glas Wasser. Ich wollte mich aufsetzen, um es dankbar entgegennehmen zu können, doch mein Körper machte mir einen Strich durch die Rechnung. Vor meinen Augen begann sich der gesamte Raum zu drehen und seltsam zu verzerren. Die Schatten wurden länger und wieder kürzer, die Kanten schienen sich auf einmal wie Schlangen zu bewegen und mein Magen fuhr so stark Achterbahn, dass er schließlich anfing zu rebellieren.
„Glaubt ihr wirklich, dass uns irgendeiner da draußen die Show von der eiskalten Füchsin abnimmt, wenn sie so grün im Gesicht ist? Ich meine wir könnten sie prima als Hulk verkleiden, aber als eine Frostbeule ohne Gefühle, dass bezweifle ich."
Einsteins Worte verbargen die Sorgen aller hinter einem ironischen Kommentar, doch selbst dieser konnte den Ernst der Lage nicht abschwächen. Schweigend betrachteten sie mich, während ich darauf wartete, dass der Raum endlich aufhörte, Gruselkabinett zu spielen. Erst als ich zumindest wieder einigermaßen das Gefühl hatte, mich nicht sofort übergeben zu müssen, griff ich dankbar nach dem Glas, das mir Bär immer noch geduldig hinhielt. Ich musste mich ganz darauf konzentrieren, meine Finger fest um das kalte Glas zu schließen und selbst dann schlug die klare Flüssigkeit im Inneren immer noch hohe Wellen. Doch nicht nur meine Hand zitterte wie Espenlaub, sondern absolut alle Muskeln spielten verrückt.
„Ach was, das Aussehen ist gar kein Problem", unterbrach Elfe das dumpfe Schweigen, das sich auf unsere Gemüter gelegt hatte wie schwarzer Rauch. „Ganz im Gegenteil, da sah ich schon um einiges schlimmer aus. Lasst mich mal und ihr werdet sehen, in ein paar Minuten sitzt vor uns Polarfuchs, die kalte unbarmherzige Kriegerin, jedenfalls vom Äußeren her." Stephan wollte sie zurückhalten, doch wie ein Wirbelwind wand sie sich ohne Probleme aus seinen Armen. Unter den Weiten ihres schwarzen Mantels zog sie eine gewaltige Tasche hervor, die zum Bersten gefüllt mit Kosmetikutensilien war. Als ich mich konzentrierte, erkannte ich, dass es sich bei dem Mantel um die Zeremonienkleidung handelte. Jeder der Anwesenden trug sie bereits. Elfes aber vor allem Einsteins waren um einiges edler geworden im Vergleich zu den groben Umhängen, die wir bei unserer Aufnahme bekommen hatten. Sie waren sogar silbern bestickt, wobei man bei Elfe eindeutig erkennen konnte, dass sie zu der einfacheren Mittelschicht gehören musste, Einstein jedoch scheinbar bereits an die Spitze aufgestiegen war. Zu meinem Erstaunen hätte er sich fast mit Stephans Kleidung messen können. Damians Mantel übertrumpfte natürlich alle. Er bestand mehr aus silbernen Stickereien aus verschlungenen Ornamenten als edlem schwarzen Stoff, doch war es trotzdem erstaunlich, wie schnell sich Einstein einen so hohen Rang erkämpft hatte. Schlange und Bär trugen beide schwarze Kampfmonturen. Sie glichen aufs Haar den Kleidungen der Wächter bei der Aufnahmezeremonie. Rasch warf ich einen Blick an mir selbst herab, bevor Elfe mir die ersten Schichten von Make Up ins Gesicht klatschen konnte. Anstatt des erwarteten schwarzen Mantels trug ich einen roten, der nicht von dem hellen Blut erzählte, dass aus kleinen Schürfwunden tropfte, sondern grausame Bilder von tiefen Fleischwunden und dunkelroten Blutströmen heraufbeschwor. Auf meiner Brust prangte ein schwarzes Schwert, welches von Rosenranken umschlungen war. Die Stacheln des dunklen Gewächses schienen die blutrote Farbe des Mantels zu trinken und schaurig schöne Blüten hervorzubringen.
„Was zum...?", krächzte ich, doch Elfe ermahnte mich sofort: „Keine noch so kleinen Bewegungen! Ich vollziehe hier gerade ein Wunder! Das ist nicht einfach nur Schminken, das ist Kunst!"
Also schwieg ich, schielte jedoch mit meinen Augen zu Damian hinüber und verlangte stumm eine Erklärung. „Dein Körper befand und befindet sich leider immer noch im Zustand größter Gefahr, den Grund hierfür kennen wir immer noch nicht, doch wir können ihm nicht noch länger Zeit der Ruhe gewähren. In einer halben Stunde wird man von dir verlangen, die Hinrichtung auszuführen. Falls du dich wegen deiner Krankheit weigern solltest, wäre dies ein klares Zeichen von gewaltiger Schwäche. Ich weiß, ich verlange enorm viel, doch wenn du deine Position beibehalten willst, musst du in einer halben Stunde nach draußen, auf das dort aufgebaute Schafott steigen und die Hinrichtung vollstrecken." Seine grauen Augen musterten mich ernst.
Ich schluckte und ignorierte Elfes verzweifeltes Gezeter, darüber dass ich all ihre Bemühungen zugrunde richten würde, als ich nachfragte: „Was wird das Todeswerkzeug sein?"
„Die Enthauptung muss mithilfe dieses Schwertes ausgeführt werden." Damian ging auf eine Wand zu, wo ein Schwert abendländischer Herkunft lehnte. Es war ohne jegliche Verzierung und versteckte nicht hinter einer schönen Fassade den Grund für seine Existenz. Die zweischneidige Klinge blitzte blutdürstig auf, als Damian das Mordwerkzeug in die Hand nahm. Er hielt das mit weichem, schwarzen Leder gebundene Heft, locker in einer Hand, als hielte er nicht gerade ein unhandliches hochmittelalterliches Schwert, sondern einen eleganten Degen. „Dies ist ein Einhänder. Du wirst es jedoch mit beiden Händen greifen müssen, da deine Kräfte sehr stark unter deiner Krankheit und durch die Medikamente leiden mussten. Es kann gut sein, dass du wenig Gefühl in deinen Finger hast, doch es ist von höchster Dringlichkeit, dass du den Kopf richtig abschlägst. Es ist früher häufig passiert, dass der Schlag zu schwach geführt wurde. Du darfst auf keinen Fall die Kraft der Wirbelsäule unterschätzen." Er blickte mich ernst an und mir wurde allein beim Thema, jemanden den Kopf abzuschlagen, speiübel. „Ich muss dich vorwarnen. Der Verurteilte wird keinerlei verbundene Augen haben oder gar einen verdeckten Kopf. Das Ritual verlangt, dass du als erstes das Schafott betrittst. Zwei Soldaten werden den Gefangenen zu seiner Hinrichtung begleiten. Weiterhin verlangt es, dass du diesen Vorgang genau beobachtest. Man wird den Gefangenen direkt vor dich führen, wo er sich vor dir verbeugen muss, als Zeichen, dass er sein Urteil als gerecht empfindet. Die Soldaten werden dafür sorgen, dass er sich daraufhin hinkniet und seinen Kopf in die Mulde im erhöhten Sockel legt, danach wirst du hinter ihm treten müssen und sein Kopf genau hier mit diesen Schwert abtrennen." Damian berührte sanft mit der freien Hand eine Stelle hinten an meinem Hals. Mir wurde schon wieder übel.
Aus der Entfernung hörte ich Einsteins Stimme auf mich einstürmen: „Elfe, du musst die linke Seite noch ein bisschen verstärken, man kann unter der ersten Schicht noch die unnatürliche Hulkfärbung erkennen."Am liebsten hätte ich mich auf Einstein gestürzt. Wie konnte er jetzt noch so gelassen bleiben?! Auch reizte es mich in meinen Fingern, Damians Hand von meinen Hals zu schlagen, dabei war seine Berührung sehr vorsichtig und seine Augen glühten nur so vor Sorge. Tief durchatmend versuchte ich wieder Kontrolle über meine achterbahnfahrenden Gefühle zu bekommen. Woher kam nur auf einmal dieser ganze Zorn?
Ich schwieg und ignorierte jeden der mich ansprechen wollte. Es war mir egal wie unhöflich es war. Ich würde mich später bei jedem Einzelnen von ihnen entschuldigen müssen, denn jeder gab sein Bestes, mich zu unterstützen, doch ich war nicht in der Lage auf Einsteins Kommentare, auf Bärs zugemurmelte Beruhigungen oder Schlanges sachliche Darlegung der Tatsachen einzugehen. Auch Elfe, die sich von Stephan einen Spiegel reichen ließ und mit ihren schlanken, tödlichen Finger ein wahres Wunderwerk vollbracht hatte, konnte ich nicht in die Augen sehen, geschweige denn ihr danken. Mein Gesicht wirkte wie ein aufgemaltes grausames Gemälde. Wunderschön, doch eiskalt. Elfe hatte die Farben weise gewählt und mir mit gekonnten Pinselstrichen ein verschlossenes tödliches Aussehen verliehen. Selbst auf Damians sanfte Zusprüche konnte ich nicht eingehen. Nur das blutrünstige Schwert schaffte es immer wieder meine Aufmerksamkeit zu fesseln. Jedes mordlustige Aufblitzen der Klinge schien mir zu verstehen zu geben, wie es sich freute endlich wieder das Blut seines Opfers schmecken zu dürfen.
„Es ist so weit." Damians Stimme war weich. „Wir müssen unsere Plätze einnehmen." Sanft streichelte er mir über meinen Kopf. Seine große Hand glitt bis zu meiner Wange und blieb dort ruhen wie ein sanftes Versprechen.
„Der Abschied ist nur von kurzer Dauer. Wir sehen Polarfuchs ja gleich wieder und danach darfst du erst einmal ruhen, dass verspreche ich dir." Elfe begriff die Situation sofort und drängte gemeinsam mit Stephan das restliche Team aus den Zimmer. Jeder von ihnen schien noch etwas sagen zu wollen, irgendwelche tröstende Worte lagen ihnen sicherlich auf den Zungen, doch ich würde es nicht verkraften, sie nun zu hören. Gott sei Dank war Elfe schnell genug und warf jeden einzelnen aus dem Raum. Keiner schaffte es rechtzeitig, seine Gefühle in Worte zu fassen und sie selbst schien es gar nicht versuchen zu wollen. Ihr letzter Blick, der für einen Moment auf mir ruhte, sprach jedoch Bände. Zu meinem Erstaunen erkannte ich in ihm Stolz, ein so unerwartetes Gefühl, dass ich aus meinem tranceartigen Zustand erwachte und sie genauer musterte. In ihren Augen lag eindeutig grimmiger Stolz, als sie sich verabschiedete. Heiße Flammen des Zorns flackerten um sie herum, doch ich erkannte, dass sie an mich glaubte und sich sicher war, dass ich sie alle nicht enttäuschen und die Aufgabe, so schwer sie auch war, erfüllen würde. Ich wusste nicht, ob der Zorn an der Situation lag, aus dem Grund, dass so etwas überhaupt geschehen musste oder gar weil sie auf sich selbst wütend war, da sie mir die Bürde nicht abnehmen konnte. Ich wusste es einfach nicht und wagte es auch nicht, sie danach zu fragen, als sie den Raum verließ.
Damian blickte ihr ebenfalls nach. „Sie hat angeboten, sich des Hochverrats mächtig zu machen und deinen Platz einzunehmen. Erst die Tatsache, dass der Betrug auf jeden Fall auffliegen würde, da ihr vollkommen anders riecht, hat sie zur Vernunft kommen lassen. Sie alle sind wirklich wahre Freunde." Ich nickte. Das waren sie, dass waren sie wirklich und jetzt läge es an mir, meinen Tribut für diese Freundschaft mit Blutgeld zu bezahlen.
„Ich weiß es ist schwer, doch schaffst du es aufzustehen?" Seine Stimme klang sanft, doch auch drängend und erinnerte mich wieder an den Ernst unserer Lage.
Die Medikamente, die immer noch mit jedem Herzschlag durch mein Blut pulsierten, benebelten
meinen Gleichgewichtssinn. Ich brauchte fünf ganze Minuten um wieder einigermaßen auf den Beinen stehen zu können und einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ein klarer Vorteil war, dass ich nicht weglaufen konnte und mit einem passenden Gesichtsausdruck konnte man diese langsame Gangart fast schon als Genugtuung und Lust für den grausamen Moment interpretieren. Damian glitt einen Schatten gleich mit mir in den Flur.
„Ich werde dich bis zu der Tür geleiten, die du später durchschreiten musst. Warte dort bitte einen winzigen Moment, sodass es mir möglich ist, noch rechtzeitig auf meinen Platz zu gelangen."
Ich nickte. Zu mehr war ich nicht mehr imstande. Mit jedem Schritt, der mich den Todesglocken näher brachte, trug ich eine neue Schicht aus Eis auf meine wahren Emotionen auf, sodass eine Maske entstand, hinter der ich mich verschanzen konnte, wie auch mein wahres Gesicht vollkommen hinter Farben verborgen lag und mir ein gefährlich schönes Aussehen geliehen hatte. Tödliche Ruhe war das Grundgerüst für meine Maske. Auf diesem baute die eiskalte, kalkulierte Wahrheit auf, dass mir niemand von den Würmern dort draußen etwas anzutun vermochte. Mit der Sicherheit, dass ich bei keiner mir gestellten Aufgabe versagen würde und mit dem letzten Anstrich des Glaubens, eine furchterregende klebrige Schicht, die kein noch so großer Regenschauer wegzuwaschen vermochte, war meine Fassade perfekt. An dem Glauben, dass ich dazu befugt war, das Urteil auszuführen, dass kein anderer das Recht hatte, mich aufzuhalten, dass dies Gerechtigkeit sei, die allein Damian und mit ihm auch ich vertrat, hielt ich fest, während meine Schritte immer präziser durch den Gang hallten.
Die Tür war mit einem Mal vor mir. Sanft, als sei es ein Geschenk von unschätzbaren Wert, legte Damian mir mein Schwert in die Hand. Ich blickte auf meine Waffe und die mit ihr verbundene Aufgabe hinab. Es war nur ein Schlag. Eine winzige Minute, ein Bruchteil einer Sekunde, mehr nicht. Damian nutzte den Moment und hauchte mir einen sanften Kuss auf die Stirn. Er war leicht wie der Segen, den er mir damit zu schenken schien. Dann verschwand er ohne ein Wort. Mein Blick wanderte von meinem gefühllosen Begleiter in meiner Hand zu der Tür. Sie schien aus so altem Holz und Eisen zu bestehen wie das Gesetz, das ich nun ausführen würde, doch nicht ein winziger Spalt war in ihr. Keine Ritze zwischen den einzelnen Holzbrettern existierte, durch die ein noch so kleiner Lichtschein hindurch schlüpfen konnte.
Einen winzigen Moment wartete ich noch, bevor ich meine Hand ausstreckte, die Klinge nach unten drückte und die Tür mit einem kleinen Fußtritt öffnete.
Aus den Chroniken der Tagwandler - Ein Bericht eines Ratsmitglied:
Es ist gelungen! Das Experiment war von Erfolg gekrönt! Ein wahres Wunder ist geschehen, auch wenn es kleiner ist, als wir alle gehofft hatten. Das Licht der gleißenden Sonne ist für mich immer noch tödlich, doch ist es mir nun vergönnt, zum ersten Mal einen Sonnenaufgang oder Untergang mit eigenen Augen zu erleben. Der Anblick ist unbeschreiblich. Ich kann nun verstehen, warum die menschlichen Dichter so stark von diesem Naturphänomen angezogen werden und die schönsten Texte über dieses verfassen. Das ich das Wunder selbst miterleben durfte, lässt die unerträglichen Schmerzen, die ich nun und in diesem Moment empfunden habe, als fast nichtig wirken. Unsere gebildetsten Leute sind der Meinung, die Sonnenimmunität noch zu steigern, indem man den Vorgang des Ausblutens wiederholt oder gar beim ersten Mal den Vampir noch weiter auf die Schwelle des Todes treibt, doch keiner ist sich sicher, welche Auswirkung ein so enormer Eingriffe in unser Dasein mit sich bringen könnte. Es scheint jedoch endlich eine Hoffnung für uns zu bestehen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top