- IV -
„Liebes, so kann es doch nicht weitergehen", sagt Marisol gerade und ich stopfe noch den letzten Bissen ihres leckeren Nudelauflaufs in mich hinein. Einfach himmlisch! Für einen Moment schließe ich genussvoll die Augen, dann sehe ich sie ernst an.
„Was soll ich denn machen, Marisol? Es interessiert doch keinen, was mit mir passiert. Sogar das Jugendamt hat weggeschaut!"
Ich fühle mich von unserem sogenannten ‚Fürsorgesystem' so verarscht, dass in meinen Worten mehr Bitterkeit mitschwingt als beabsichtigt.
Und wenn ich mir Marisol so ansehe, geht es ihr ähnlich. Ich erkenne deutlich die Wut und Verzweiflung hinter ihrer ruhigen Fassade. Auch Zuneigung für mich, Mitgefühl und Schuld sind in ihrem Blick zu finden – und Resignation. Diesen Gefühls-Cocktail kenne ich bereits. Es nagt seit Jahren an Marisol, dass sie nichts an meiner Situation ändern kann.
Natürlich könnte ich etwas tun – weglaufen und auf der Straße leben zum Beispiel. Aber das ist keine echte Option. Denn ich will weiter zur Schule gehen, studieren und einen guten Job bekommen. Ich will mein Leben auf die Reihe kriegen. Und das geht schlecht, wenn ich obdachlos bin.
Plötzlich sitzt Marisol kerzengerade auf ihrem Stuhl und wirkt ganz aufgeregt, während sie mich mit leuchtenden Augen anschaut. In ihrem Blick kann ich tatsächlich einen Funken Hoffnung erkennen. „Pauline, du könntest dich vom Gericht mündig erklären lassen!" Sie sieht so optimistisch aus und freut sich sichtlich über ihre Idee.
Doch ich schüttele nur den Kopf. „Ich bin erst dreizehn, Marisol. Niemand wird mich mündig sprechen. Erst recht nicht, wenn Dad nüchtern zur Verhandlung kommt und wieder alle um den kleinen Finger wickelt. Wenn ich das versuche und es schiefgeht, prügelt er mich sicher tot."
Darüber habe ich doch selbst schon nachgedacht. Ich habe es bestimmt tausendmal in meinem Kopf durchgespielt. Aber ich bin immer wieder zum gleichen Ergebnis gekommen: Das Risiko ist zu groß.
Ich sehe, wie auch das letzte bisschen Hoffnung aus Marisols Zügen verschwindet und will gerade ein paar aufmunternde Worte sagen, als wir laute Stimmen über uns hören. Irgendwas spielt sich im Flur vor der Wohnung ab, in der mein Dad schon schon seit Stunden säuft.
Marisol und ich tauschen alarmierte Blicke und springen gleichzeitig auf. Schnell laufen wir zur Wohnungstür, um zu erfahren, was da los ist. Marisol öffnet sie einen Spaltbreit, damit wir die Worte auch verstehen können.
„POLIZEI! AUFMACHEN! WIR WISSEN, DASS SIE ZU HAUSE SIND!"
Ängstlich drehe ich mich zu Marisol und sie sieht genauso beunruhigt aus wie ich. Dann wird oben die Tür eingetreten und es entsteht ein lautstarker Tumult. Mein Dad scheint sich zu wehren, beschimpft die Beamten. Kurz darauf höre ich, wie ihn ein Polizist genervt anschnauzt: „Beruhigen Sie sich endlich, Haynes! Wir sind hier, um Ihnen mitzuteilen, dass wir die Leiche Ihrer Frau gefunden haben. Sie wurde nie als vermisst gemeldet, obwohl es seit sieben Jahren kein Lebenszeichen mehr von ihr gibt. Sie verstehen sicher, dass wir einige Fragen ..."
Der Rest des Satzes wird vom Rauschen in meinen Ohren verschluckt. Das kann nicht sein ... Ich schwanke, spüre noch Marisols Hand an meinem Arm, dann knicken meine Beine weg. Alles wird dunkel.
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