7.2 ~ Hidden in plain sight *)


Es ist ein Brauch von alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör – Wilhelm Busch


Wenn ich nur wüsste, was in Benny gefahren ist. Erst die Aktion mit dem Kaffee im Meetingraum, jetzt sein Techtelmechtel mit der Assistentin. Dabei weiß er genau, dass wir uns solche Egotrips nicht leisten können. Keiner von uns. Und schon gar nicht so kurz vor der Show.

O wie gerne würde ich jetzt an den Fläschchen nippen, die uns unser heutiger Sponsor zu Werbezwecken zur Verfügung gestellt hat. Malerisch verteilt auf kleine Osterkörbchen, obwohl Ostern schon lange vorbei ist, dienen sie im Studio als Dekoration. Ich weiß, die kleinen Dinger sind nichts als Attrappen, aber trotzdem: nur ein winziges Schlückchen... Gut, dass sie nichts von meinem Geheimvorrat wissen, für den ich das ideale Versteck gefunden habe. Verborgen vor aller Augen: Eigentlich würden nur Amateure den Wandtresor mit einem billigen Kunstdruck tarnen, aber Profis waren nicht zu kriegen.

Und außerdem handelt es sich erstens bei dem davor hängenden Gemälde mit der wilden Highland-Schönheit in weiß-blauem Schottenkaro nicht wirklich um Kunst, sondern um die billige Variante von TEMU. Und zweitens wäre der Inhalt für jeden Einbrecher die Enttäuschung des Jahrhunderts. Ein Apfel und eine Super-Illu? Nee, ihr Lieben, wir sind hier doch nicht bei James Bond. Ersetzt das Klatschblatt durch das Kiez-Magazin und eine Flasche Eierlikör und es wird ein Schuh draus.

Quietsch quietsch ...

Schuh? Ich wusste, es war ein Fehler, die neuen Dinger ausgerechnet heute anzuziehen. Nicht dass sie drücken würden, aber das Geräusch meiner Sohlen bei jedem Schritt raubt mir den letzten Nerv und macht es mir unmöglich, mich zu konzentrieren. Dabei bin ich das Script schon x-mal durchgegangen und habe immer noch einen Hänger nach dem anderen. Wie ging nochmal die Ansage zu den Höllentropfen aus dem Pott? Höllentropfen... argh!

Was gäbe ich dafür, wenn ich heute Abend mein Glückshemd tragen könnte. Aber der einstimmige Beschluss lautete: „Der einzige Harry, den wir an diesem Abend im Hawaiihemd sehen wollen, ist Mr. Styles."

Aber der war ebenfalls nicht zu kriegen. Leider. Denn dafür haben sie jetzt diesen irischen Wunderknaben im rosa Hemd und braunen Anzug, der seinen nicht mehr ganz so aktuellen Hit singen darf. Und ich? Muss mit dem Vorlieb nehmen, was die schusselige Elvira für mich rausgesucht hat. Wir hatten zwar andere Pläne, aber wenn ich eines gelernt habe, dann dass sich Pläne schneller ändern als die Trends auf TikTok. Sonst stünde ich jetzt nicht hier ohne Brille. Mist. Wie soll ich denn jetzt erkennen, was auf den Karteikärtchen steht, die normalerweise jedes Mal vor der Show durchgehe? 

Ja, normalerweise, aber heute? Ich brauche unbedingt eine Lupe, dann könnte ich-

Eeeek!

Das Hämmern gegen die Tür dröhnt wie ein Kanonenschlag in meinen Ohren und lässt mich an die Decke gehen. Natürlich nicht wörtlich, aber trotzdem schlägt mein Herz so hektisch wie ein Duracell-Hase. Weiß der Teufel, wie ich es schaffe, mich gerade noch zu fangen und ein sich vor Schreck überschlagendes „Herein" von mir zu geben. Dass es mehr mit dem Quieken eines Schweins Ähnlichkeit hat, scheint Christopher, mit dem ich nun überhaupt nicht gerechnet habe, jedoch nicht zu stören. Schon will ich ihn insgeheim dafür loben, dass er wenigstens den Anstand hatte, nicht einfach die Tür aufzureißen und in meine Garderobe zu poltern, da fällt mein Blick auf seine Nase – oder besser gesagt, auf das, was er auf ihr trägt.

Soll das ein Scherz sein? Komisch nur, dass ich darüber überhaupt nicht lachen kann. Besonders nicht, wenn man mit meinen Sachen Unfug treibt und aus Jux ausprobieren will, ob einem so ein Gestell überhaupt steht. Ja ja, ich weiß – das Modell ist neuerdings total angesagt; vor allem bei karrieregeilen Möchtegerns wie diesem Damon, den sie uns erst vor ein paar Tagen aufgedrückt haben und von dem niemand weiß, warum wir ihn überhaupt an der Backe haben.

Obwohl, je länger ich drüber nachdenke, desto komischer benehmen sich alle um mich herum in den letzten Tagen. Als hätte mich jemand auf dem Kieker und würde nur darauf warten, dass ich einen Fehler mache. Wie passend, dass ich meine Brille verlegt hatte. Oder hat jemand von oben krumm gemacht und sie beiseite geschafft? Um anschließend einen Mystery-Controller oder wie sich die Heinis aus dem Qualitätsmanagement heutzutage schimpfen, auf mich anzusetzen; nur um mir mit dieser Aktion einen reinzuwürgen? Das würde ihnen ähnlich sehen.

Aber jetzt auch noch Christopher? Euer Ernst jetzt? Mit was haben sie unseren Fahrer bestochen? Oder war der von Anfang an Teil ihres Plans? Wofür auch immer... obwohl ich es mir denken kann.

Ja, guck ruhig so, als könntest du kein Wässerchen trüben, aber ich habe dich durchschaut, mein Freund.

Mit dieser Stimme im Hinterkopf, drehe ich meinem Geheimversteck den Rücken zu und mustere ihn, bevor ich ihn mit „Schicke Brille, aber ich glaube, das ist meine" empfange. Huch! Das kam anscheinend jetzt schärfer raus, als ich eigentlich wollte, aber vielleicht habe ich ja Glück und er hat den Sarkasmus gar nicht bemerkt. Aber wie auch immer und so unangenehm mir die ganze Situation auch ist, da muss ich jetzt durch und wieder die Kontrolle bekommen.

„Vielen Dank fürs Bringen – aber ab jetzt übernehme dann wohl ich", ringe ich mir halbwegs bei Sinnen ab.

Ob er gemerkt hat, dass ich ihn einfach nur möglichst schnell loswerden wollte? Wundern würde es mich nicht.

„Und nun, verehrtes Publikum, unterbrechen wir für eine kleine Pause mit unserem heutigen Sponsor. Meine Damen und Herren, wir präsentieren Ihnen: Breckenfelder Höhlentropfen. Die beerenstarke Kräuterspezialität aus dem schönen Ruhrgebiet. Wohl bekomm's!" – oh ja, mit diesen neuen Gläsern laufen meine Vorbereitungen wie geschmiert.

Noch nie haben Ablesen und Auswendiglernen so gut geklappt wie heute. Obwohl der letzte Satz mehr gekrächzt rüberkam. Ob es etwas ausmacht, wenn ich meine Stimme vor der Show nochmal richtig öle? Wenn ich mein Wundermittel richtig dosiere, merkt kein Schwein etwas.

Nur fünf Schritte bis zum Tresor beziehungsweise dem billigen Druck, der davor hängt. „Highland Beauty" – der Name ist Programm. Jedenfalls dachte ich das, denn die Frau auf dem Bild hat eher Ähnlichkeit mit Esmeralda aus dem „Glöckner von Notre Dame" als mit der dunkelhaarigen Schottin, die ich in Erinnerung habe. Nur dass die Schönheit hier eine weiße Corsage trägt und einen roten Fetzen Stoff in den Haaren hat. Was zum Henker... Rot und Weiß? Das sind doch genau die Farben, die mich seit Tagen verfolgen. Farben wie dieser Schatten, den ich plötzlich nur zu deutlich vor mir sehen kann, obwohl er in meinem Augenwinkel aufgeblitzt ist und das auch nur für Bruchteile von Sekunden.

Das ist der Moment, in dem es Klick macht.



Es ist einer dieser Abende, an denen du eigentlich mit dir und der Welt zufrieden sein könntest. Beim Sender haben sie noch eine Staffel von „Geld oder Liebe – der Dating Pool" bewilligt, nachdem mein Team und ich die brillante Idee hatten, ein tatsächliches Schwimmbecken, gefüllt mit Luftballons in die letzte Spielerunde einzubauen. Oder war es quietschgelber Wackelpudding? So richtig erinnern kann ich mich zu dem Zeitpunkt nicht mehr. Kein Wunder, nach dem dritten Flens. Oder waren es vier? Auch egal, denn was ich noch in Erinnerung habe, sind die Gummistiefel. Anscheinend konnte sich jemand bei der Farbe „Quietschgelb" gar nicht mehr einkriegen vor Begeisterung.

Au ja, wir steigen um auf Signalfarben.

Sozusagen als Kontrast für das triste Beige, an dem sie alle zur Zeit einen Narren gefressen haben? Ich sollte mir wirklich den Sarkasmus verkneifen, der sich in letzter Zeit bei mir immer stärker bemerkbar macht. Vielleicht ist ja tatsächlich was dran an dem Ratschlag, den mir mein Assistent gerade am Tag davor noch gegeben hat. Besser wär's.

Versuch doch einfach mal, das Positive zu sehen anstatt alles immer nur ins Lächerliche zu ziehen.

Das Positive. So wie das Geträller, äh pardon, der Gesang der Amsel im Hollerbusch an der nächsten Straßenecke. Der Gesang der Amsel...

Welche Amsel? Da ist nichts als Stille.

Und plötzlich fröstelt es mich, trotz der frühlingshaften Temperaturen.



A/N:  *) Kurze Erklärung zur Überschrift: „Hidden in plain sight" bedeutet so viel wie „verborgen in aller Öffentlichkeit", auch wenn ich Harrys Garderobe nicht gerade als öffentlichen Ort bezeichnen würde.







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