6.2 ~ Kribbeln im Bauch
♫ ♪ Um die verschwundene Brille entstand eine Sage. Es hieß, man könne singen, wenn man sie trage. Viele Schurken waren deshalb hinter ihr her. Doch von denen trägt die Brille garantiert keiner mehr. ♪♫ (Die Ärzte - Buddy Hollys Brille)
„Probier deine Psychotricks gefälligst bei jemand anderem!" ist das Letzte, was ich von Jess höre, bevor sie das Gespräch hörbar aufgebracht abbricht und der Bildschirm meines Telefons schwarz wird.
Es dauert eine Weile, bis mich das monotone Tuten des Freizeichens aus meiner Erstarrung reißt. Was zur Hölle ist hier gerade passiert? Wenn ich gewusst hätte, dass ein simpler Videoanruf dermaßen eskaliert, hätte ich meiner Mitbewohnerin einfach nur eine WhatsApp-Nachricht geschickt oder sie auf normalem Weg angerufen, um ihr Glück zu wünschen. Aber nein, es musste ja unbedingt per Facetime sein.
Fieberhaft versuche ich, die Puzzleteilchen dessen, was gerade passiert ist zusammenzusetzen und drücke die geistige Rückspultaste.
Wie so oft, wischt auch diesmal Jess über den kleinen grünen Hörer und fummelt dann erst nach ihrer Brille. Eine Macke, die sie sich anscheinend während ihres Studiums angeeignet hat, da es einige aus ihrer Lerngruppe für eine gute Idee halten, die Lösungen, auf die sie gekommen sind, nicht einfach nur vorzulesen, sondern gleich in die Kamera zu halten. Wäre auf jeden Fall effektiver, aber darum geht es gerade gar nicht; schließlich möchte ich ja nur mit ihr sprechen und kein Plakat mit Alles Gute für nachher in die Höhe halten.
Doch dazu kommt es nicht. Kaum, dass sich Jess die Brille auf der Nase zurechtgerückt hat, werden ihre Augen vor Entsetzen tellergroß und sie erstarrt mitten in dem, was sie gerade tut. Erschrockenes Blinzeln, dann reißt sie sich das markante Gestell in Schwarz von der Nase. Hektisch fliegen ihre Blicke zwischen dem Bildschirm ihres Telefons und der Brille in ihrer Hand hin und her, bevor sie das eckige Kunststoffungetüm erneut aufsetzt und mich durch seine Gläser anstarrt.
Der Horror auf ihrem Gesicht fährt mir durch Mark und Bein, doch es ist ihre Stimme, die mir eine wahre Gänsehaut bereitet. Und das will bei einem Sukkubus wie mir was heißen.
„Äh....." kommt es von ihr metallisch verzerrt und mindestens zwei Oktaven höher als sonst aus dem Lautsprecher. „Wer... zum... Teufel... bist du?"
Am liebsten würde ich ihr mit einem genervten Was soll denn diese Frage? antworten, aber ein immer stärker werdendes Grummeln im Magen sagt mir, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Diese Brille... dieses Modell, das zur Zeit gefühlt jeder trägt - irgendetwas hat sie mit Jess gemacht. Und das gefällt mir ganz und gar nicht.
Vor allem ihre Reaktion, als ich anfangen will zu sprechen - dass Jess mir ins Wort fällt, habe ich bei ihr bisher nur selten erlebt. Und auch nicht, dass sie mir nun mein Studienfach zum Vorwurf macht.
„Hör auf damit, mich so anzusehen, als wäre ich reif für den Psychodoc."
Ach, tue ich das? Anscheinend habe ich meine Gefühle noch schlechter als sonst unter Kontrolle; sonst würde ich sie nicht anstarren, als säße mir ein Geist gegenüber. Schade, dass ich mein eigenes Gesicht nicht sehen kann. Dafür aber nehme ich ein Detail am linken Brillenbügel wahr, das mir bisher noch nicht aufgefallen ist, jetzt aber dafür umso deutlicher. Doch bevor ich Jess näher zu mir heranzoomen kann, schleudert sie mir den einen Satz entgegen, der mich im Zustand der größtmöglichen Verwirrung zurücklässt.
„Probier deine Psychotricks bei jemand anderem!"
Psychotricks, die ich probiert haben soll... bei Jess? Auch wenn sie damit vermutlich, ohne es zu wissen, ins Schwarze getroffen hat, wie kommt sie darauf? Und wieso gerade jetzt? Nein, dieses Kribbeln im Bauch wie von tausend unter Strom stehenden Ameisen darf ich nicht ignorieren. Bis heute Abend warten? Zum Teufel mit meiner Eintrittskarte und dem Backstage-Pass, mit dem sie mich erst eine Stunde vor der Show reinlassen. Ich muss es irgendwie schaffen, schon jetzt reinzukommen und rausfinden, warum Jess so ausgerastet ist.
Jess zu finden, habe ich mir auch einfacher vorgestellt. Dabei waren die GPS-Daten, die mir ihr Handy aus dem Backstage-Bereich angezeigt hat, eindeutig.
Ich wusste, dass ich dort nicht so ohne weiteres hineinkommen würde und ich meinen Charme bei den richtigen Leuten spielen lassen musste, damit der ein oder andere ein Auge zudrückte und „mich nicht gesehen" hatte. Darüber, dass Jess inzwischen sonstwo sein konnte, bis ich endlich da war, hatte ich mir keine Gedanken gemacht, schließlich ist die neue App auf meinem Handy der neueste Schrei und würde mir ihren Standort als gelbes Pünktchen anzeigen.
Dass mir jedoch ausgerechnet ein Funkloch ungeahnte Steine in den Weg legen würde, stand nicht auf meiner Agenda. Zuerst bewegt sich das gelbe Pünktchen noch stetig in die Richtung, in der die Garderoben befinden müssten, dann fängt es verdächtig an zu flackern, bis es komplett von meinem Display verschwindet.
So ein Mist, was soll das denn jetzt? fluche ich vor mich hin und schüttele mein Handy verärgert in der Hand hin und her, als ob es dadurch besser würde und das Pünktchen wiederkäme. Genervt schnaubend schaue ich von meinem Telefon hoch und finde mich vor einer Halle wieder, die einem Flugzeughangar auffallend ähnlich sieht. Ein zugegeben nicht ganz so üppig dimensionierter Unterstellplatz, wie für kleine Privatflugzeuge oder Hubschrauber, aber auf jeden Fall ideal für Aufnahmen, die mehr Platz als ein Studio erfordern oder für Außenwetten wie bei „Wetten, dass..?".
Nanu, Jess wird doch nicht etwa? wundere ich mich, als ich den Punkt ganz in der Nähe wieder aufleuchten sehe und sich gleichzeitig etwas in dem Halbdunkel des geöffneten Hangars zu bewegen scheint. Jess? Aber warum sollte sie? Falls ich auf diese rhetorische Frage wirklich eine Antwort erwartet habe, wird mir diese kaum gefallen, denn tatsächlich löst sich aus dem schmutzig grauen, fast schon schwarzen Hintergrund, aus dem rote Lichter aufblitzen, eine Gestalt. Eine Gestalt, die mir nur zu vertraut ist. Doch es ist nicht Jess. Es ist Damon.
„Überraschung! Ich bin zurück von den Toten! Ist das nicht aufregend?"
Wie bitte - wovon träumt er nachts? Allein schon, wie er den Teil mit den Toten betont, kann nur eines bedeuten: Damon muss endgültig den Verstand verloren haben. Und mit diesem Irren habe ich mich einst eingelassen? Schön blöd. Und was noch viel blöder ist? Zu glauben, ich wäre ihn endlich los. Aber was habe ich nach der Aktion auf dem Rastplatz auch anderes erwartet...
Da habe ich mir ja schön was vorgemacht. Aber dass er mir so kommt? Er glaubt also, ich würde sein Auftauchen aufregend finden. Aufregend - aha! Fragt sich nur, für wen: für ihn oder für mich? Aber bitte schön - ich kann auch anders. Nämlich dafür sorgen, dass er mehr Aufregung bekommt, als ihm lieb ist.
Aber zuerst muss ich wissen, was er mit der Brille und vor allem mit Jess angestellt hat.
A/N: Auch im Juni haben mir einige Prompts so richtig gut gefallen. Den Anfang machen Nr. 1 („Hör auf damit, mich so anzusehen, als wäre ich reif für den Psychodoc. Probier deine Psychotricks bei jemand anderem!") und Nr. 2 („Überraschung! Ich bin zurück von den Toten! Ist das nicht aufregend?") von SteffiDa.
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