5.5 ~ Tessa allein zu Haus

I always feel like somebody's watching me and I have no privacy (oh, oh). I always feel like somebody's watching me, tell me is it just a dream? ♪♫ (Rockwell – Somebody's watching me)



„Wie ich es mir gedacht habe – es ist ein Virus", bestätigt mir Jamil zum zweiten Mal das, was ich längst schon befürchtet habe. „Am besten lässt du das Teil für die nächsten paar Tage da..."

Genau: Mein Laptop da lassen... Ich wusste es. Aber es soll noch besser kommen.

Aber wie soll ich denn den Auftrag zu Ende... Das ist der Super-GAU... schlagen meine Gedanken Haken wie Hasen auf der Flucht.

Damit war's das dann wohl. Jamil hat gut Reden. Er ist ja auch nicht auf jeden Auftrag angewiesen und hat die nächste Deadline im Nacken, so wie ich. Na gut, auch er hat Kunden, die tierisch stressen können, wenn sie ihr Handy nicht termingerecht abholen können. Aber in so einem Fall hat er seinen Job hinterher immer noch und muss nicht wieder bei Null anfangen. Verzweifelt beiße ich mir auf die Lippen. Ich war so kurz davor.

Was war ich naiv, als ich den ungeliebten Job an den Nagel gehängt und mich selbständig gemacht habe. Von zu Hause zu arbeiten und mir den Tag nach Belieben einteilen zu können, nicht mehr pendeln zu müssen und mir nie wieder Ärger mit dem Chef einzuhandeln, wenn mir S-Bahn mal wieder vor der Nase weggefahren ist? Träumt weiter!

Irgendwer hat mal gesagt: Selbständig heißt selbst, und das ständig. Wie wahr! Denn jetzt habe ich wortwörtlich einen Halbtagsjob: zwölf Stunden täglich und das auch am Wochenende, durchgearbeitete Nächte inclusive. Wer würde da nicht auf dem Zahnfleisch gehen? Kein Wunder, dass Jamil mir meinen Zustand so unverblümt aufs Brot schmieren musste.

„Aber jetzt mal unter uns – die paar Tage Auszeit würden dir auch nicht schaden."

Ich kann mir schon denken, was er mir gleich sagen wird: Schlaf dich richtig aus, geh an die frische Luft, denk mal nicht an die Arbeit...

Im Prinzip weiß ich, dass er es nur gut meint. Er kann ja nicht ahnen, was mir wirklich in den Knochen steckt.



„Ja, der Entwurf ist fertig. Ich komme damit morgen um neun bei Ihnen vorbei", versuche ich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Gar nicht so einfach, wenn am anderen Ende der Verbindung helle Aufregung herrscht, weil man beschlossen hat, den Erscheinungstermin des neuen Hafenkrimis vorzuverlegen.

Ottfried Ottensen aus dem schönen Hamburg, dem Tor zur Welt... ich müsste mich geehrt fühlen, dass ich für den Verlag von Mordkomplott Hafenkante nicht nur die Illustrationen zu den wichtigsten Kapiteln liefern, sondern auch den Einband gestalten darf.

Was war ich stolz wie Bolle! Hamburg mag ja das Tor zur Welt sein, lieber Kultautor. Aber Bremen hat immer noch den Schlüssel dazu. So dachte ich. Klingt super? Täte es im Prinzip auch, nur hatte ich da die Rechnung ohne die Belagerer gemacht, die versuchen, das Tor mit einem virtuellen Rammbock einzurennen. Denn inzwischen ist der angesagte Thrillerautor so angesagt, dass seine Fans auf BookTok Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt haben, damit endlich sein neuestes Werk auf den Markt kommt.

Wochen früher als geplant.

Nur gut, dass ich rechtzeitig einen Abzug mit den relevanten Kapiteln und ein Exposé des Bestsellers bekommen habe, inclusive Verschwiegenheitserklärung. Denn wenn auch nur ein Wort aus dem neuen Roman nach außen durchsickert, ist der Teufel los! Davon, dass aber genau Worte auch nach innen durchsickern könnten, haben sie jedoch nichts gesagt. Wie ging der Song nochmal? Words are weapons, sharper than knives... Manchmal braucht es das gar nicht – da reicht es schon, dass sie die blutigsten Szenen heraufbeschwören. Sicker, sicker... auf Umwegen in mein Hirn.

In tiefster Nacht, wenn alle schlafen, da streift der Killer durch den Hafen.

Schaudernd überfliege ich noch einmal die Worte, die Wladimir aus dem Telefonhörer entgegen kriechen. Eigentlich ein schlauer Zug von Ottensen, einen maroden Festnetzanschluss in der Baracke von Wladimir & Co. diesen Job übernehmen zu lassen. Mit einem I-Phone wäre diese Szene weniger effektvoll rübergekommen. Und trotzdem. Brrr... Es schüttelt mich, als ich vom Tisch mit dem Laptop aufstehe und das Licht ausschalte. Jetzt noch eine schöne, heiße Dusche, damit meine verkrampften Nackenmuskeln endlich die ersehnte Entspannung bekommen, und danach ein Glas Rotwein auf meinem Balkönchen mit Blick über die Dächer in unserem Stadtviertel.

Ja, so kann man den Tag ausklingen lassen.

Drüben im Westen neigt sich der Mond bereits als orangene Scheibe dem Meer aus Dächern zu, in dem sich vereinzelte Lichter wie winzige Leuchtbojen zeigen und wieder verglimmen. Bald schon wird er hinter St. Gertrudis niedersinken und ihren schlanken Kirchturm wie den düsteren Scherenschnitt eines überirdischen Relikts erscheinen lassen. Überirdisches Relikt? Ich höre mich ja schon genau so an wie die Stimme in den Horror-Romanen, für die ich die Cover entwerfe. Mich fröstelt. Höchste Zeit, dass ich endlich ins Bad und danach in meinen Bademantel komme.



Wüsste ich's nicht besser, würde ich auf einen Poltergeist tippen. Du liest eindeutig zu viele Horrorschinken, würde Jasmin jetzt sagen und Brüderchen ins gleiche Horn tuten. Natürlich ist es kein Poltergeist, doch der Horror, der diesen so typischen Klopfgeräuschen aus den Rohren der Wasserleitung folgt, könnte nicht größer sein. Dazu asthmatisches Pfeifen. Mir graust's, denn gleich ist es soweit: Kein warmes Wasser mehr, weil wieder irgend so ein Depp in einem der Stockwerke unter mir zu lange geduscht hat? Die Freuden einer Altbauwohnung im dritten Stock. Da wird einem doch so richtig warm ums Herz.

Natürlich nicht, was habt ihr denn gedacht?

Ich könnte auch weiterduschen und mir anschließend einen heißen Roman mit Eishockeyspielern oder anderen Sportlern auf Wattpad reinziehen, bis die Ohren und andere Regionen meines Körpers glühen, aber warum sollte ich? Der Tag war lang genug und das Geschehen würde meine Sinne nur unnötig anregen. Das Ergebnis wäre, dass ich nicht einschlafen könnte und morgen früh mit dem Aufstehen ein Problem hätte. Also stelle ich grummelnd das inzwischen nur noch lauwarm aus dem Brausenkopf strömende Wasser ab und greife nach dem bereitgelegten Frotteetuch. Was ich dann höre, lässt mich an meinem Verstand zweifeln.

Der kalte Hauch zur Geisterstund' – ein Pfeifen tut ihn dir gleich kund.

Doch der unheimliche Windzug kommt nicht davon, dass ich die Balkontür offen gelassen habe oder noch irgendwo anders ein Fenster klafft. Es ist mehr ein innerliches Frösteln, das meine Nackenhärchen dazu bringt, sich senkrecht aufzustellen. Schön haben wir die Zwischentitel verinnerlicht, liebe Tessa, kriecht es sarkastisch durch meine Gehirnwindungen, dabei ist mir so gar nicht nach unangebrachtem Spott zumute. Ach, hätte ich doch nur kalt weitergeduscht. Das wäre so viel besser als dieses spindeldürren Finger aus Eis, die versuchen, unter meine Schädeldecke zu gelangen.

Stop! Halt! Wie paranoid ist das denn? Seit wann gerate ich so leicht in Panik?

Ja, seit wann? Es dauert eine Weile, bis mein Hirn den vermeintlichen Poltergeist analysiert und in seine Bestandteile zerlegt hat. Asthmatisches Pfeifen? Ha! Jetzt, wo ich Badtür aufreiße und mit dem Erstbesten bewaffnet bin, das ich mir schnappen konnte, kann ich die hohen Töne ganz deutlich hören. Sie dudeln eine Melodie, die mich an die Duschszene in Psycho erinnert und verdächtig nach dem Instrument klingt, mit dem Inspector Barnaby eingeläutet wird. Nur, dass kein Messerstecher vor der Tür steht oder gar der Inspektor höchstpersönlich, sondern sondern eine körperlose Stimme singend durch den Raum schwebt.

In tiefster Nacht, wenn alle schlafen, da streift der Killer durch den Hafen.



Mit der Pinzette als Verlängerung meines ausgestreckten Arms und allein in meinem Wohnzimmer dem vertonten Gesang des gerade von mir illustrierten Kapitels lauschend, muss ich für einen heimlichen Beobachter ein ziemlich dämliches Bild abgeben. Das gerade von mir illlustrierte Kapitel... was zum?!

Werde ich beobachtet und jemand war hier, um mich und das Manuskript auszuspionieren? Hat sich einer der Nachbarn in das Programm gehackt und war nun so dreist, den Anruf des Todes, den Wladimir erhält, in einen Song umzuwandeln? Oder wollen sie das noch gar nicht erschienene Werk Ottensens für Netflix adaptieren und das ist bereits der Soundtrack dazu?

Oder bilde ich mir das alles nur ein?

Langsam löse ich mich aus meiner Erstarrung und folge dem Wimmern des munter weiter vor sich hin spielenden Theremins, das aus einer ganz bestimmten Richtung kommt. Lauter und lauter tönt das Gejaule, bis ich endlich am Sideboard mit meinem Plattenspieler und den Lautsprechern angekommen bin. Warmes Umgebungslicht in rot, orange und lila empfängt mich pulsierend in einem schaurigen Kontrast zu den kalten Klängen, die mein Eishockeypuck, wie ich den Sprachassistenten insgeheim nenne, auf mich einströmen lässt.

Aber das ist doch... Woher weiß sie...

Überzeugt, dass ich mein Laptop ausgeschaltet habe, drehe ich mich ruckartig nach rechts und erbleiche beim Anblick des offenen Schreibprogramms und dem Hintergrundlicht, das sich farblich dem des dudelnden Assistenten angepasst hat.

Ich habe keine Ahnung, warum die beiden Geräte glauben, miteinander flirten zu müssen oder welche Synapsen hier miteinander fehlverdrahtet wurden, aber jetzt hilft nur noch rohe Gewalt, als ich das Laptop komplett runterfahre und dem durchgedrehten Puck den Strom abdrehe – begleitet von einem martialischen Schrei, der die Nachbarn aus dem Schlaf reißen würde, wenn sie denn da wären.

Fahr zur Hölle, Alexa!



A/N: Es geht voran, aber schleppend, denn ich bin, was die Schreibprompts angeht, immer noch im Mai. Für diese Rückblende habe ich mir Prompt Nr. 6 von MiaLucius ausgesucht: Du hörst nachts jemanden singen. Aber du bist allein zuhause.


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