5.2 ~ Zeit, dass sich was dreht
♫ ♪ Stellst dich in den Sturm und schreist (ich bin hier, ich bin frei). Alles, was ich will, ist Zeit (ich bin hier, ich bin frei) ♪♫ (Juli - Perfekte Welle)
Leon hält so dicht wie möglich beim Haus und stellt den Motor ab. „Warte hier!"
Na, der war gut. Auch wenn die Strecke bis zur Tür nur kurz ist - glaubt er allen Ernstes, ich könnte mit der Verletzung noch große Sprünge machen? Ich weiß zwar nicht, warum er zuerst die Haustür aufschließen und danach den zusammenklappbaren Rollstuhl aus dem Kofferraum holen möchte, aber die kurze Verschnaufpause ist genau das, was ich jetzt brauche. Gut, dass ich endlich zu Hause bin.
Leons krampfhafte Versuche, mich in ein Gespräch zu verwickeln, waren mehr als unangenehm. Besonders nachdem ihm aufging, dass ich nicht nur wegen der von Pillen unterdrückten Schmerzen überhaupt nicht zum Reden aufgelegt war und er krampfhaft einen auf Alleinunterhalter gemacht hat, wohl um mich vom Grübeln abzulenken.
Dann spiel halt wieder diese verdammte ‚Perfekte Welle', hätte ich fast von mir gegeben und konnte mich gerade noch zusammenreißen. Was kann der arme Kerl dafür, dass ich jetzt den Salat habe? Anstatt an ihm sollte ich meinen Frust an dem Typen, der mich gefoult hat, auslassen. Aber was würde das bringen? Mildernde Umstände, weil ich mich gerade im Ausnahmezustand befinde? Leider kann ich über diesen völlig missglückten Joke nicht einmal lächeln. Ich sollte den Pausenknopf drücken, bevor ich jetzt schon durchdrehe.
Sei lieber froh, dass diese mehr beschissene Fahrt ein Ende hat.
Doch ich merke nicht nur, wie ich mich wiederhole. In mir macht sich ein ganz komisches Gefühl breit, wenn ich nur dran denke, was mich im Haus erwarten könnte. Ich sehe schon, wie ich meine Erschöpfung vorschiebe, um mich unter der Bettdecke zu verkriechen. Blödes Kopfkino. Es lässt sich nicht anhalten, auch nicht, als Leon die Tür auf meiner Seite öffnet und mir in den Rollstuhl hilft. Der ist plötzlich ganz merkwürdig drauf, so als hätte mein Schweigen auf ihn abgefärbt. Oder hat er jetzt auf einmal die Taktik geändert? Aber warum.
Jetzt bin ich es, der Leon zum Reden bringen würde, habe aber keinen Dunst, wie. Also sage ich immer noch kein Wort, obwohl ich am liebsten schreien würde. Denn wie lautete die Frage von vorhin nochmal?
Das kann nicht noch schlimmer werden? Wirklich nicht?
Die Antwort kann ich bis hier riechen, aber ich will sie nicht hören. Und auch nicht sehen oder fühlen.
„Warte hier... dauert nur zwei Minuten."
Was er nur immer mit seinen zwei Minuten hat! Keine Ahnung, was er da drinnen treibt, aber wenn er denkt, dass ich wie bestellt und nicht abgeholt im Freien stehenbleibe, hat er sich geirrt. Spätestens jetzt beglückwünsche ich mich dafür, dass ich darauf geachtet habe, ein fast barrierefreies Haus zu mieten. Die winzige Schwelle vor dem Eingang macht mir zwar etwas zu schaffen, und ich muss ordentlich Schwung nehmen, doch dann bin ich endlich drinnen und kann hören, wie Leon die Stufen hochpoltert. Ja, natürlich - darauf hätte ich ja auch gleich kommen können: Er ist nach oben gesaust, um alles, was ich für diese Nacht und eventuell auch die nächsten beiden brauchen könnte, zusammenzusuchen. Und ins Wohnzimmer zu bringen.
Waschzeug, frische Klamotten, Bettwäsche... Mit dem Rolli komme ich ja wohl kaum die Treppen ho-
Was zum??!!!
Hätte ich doch bloß die Finger vom Lichtschalter gelassen, denn die gerade erst installierten LED-Lichter sind gnadenlos.
Im Wohnzimmer direkt vor mir sieht es aus, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte. Ich bin entsetzt, doch nicht für lange, denn ein ohrenbetäubender Krach von oben reißt mich aus meiner Schockstarre. Leon! Und er knallt nicht nur mit den Türen, er staucht jemanden zusammen, und zwar vom allerfeinsten.
„Sag mal, geht's noch?!" gefolgt von einem „Ihr hab sie ja wohl nicht mehr alle!"
Ihr? Ich muss mich verhört haben, denn eigentlich dürfte Vivien gar nicht hier sein. Sitzt sie nicht um diese Zeit noch in ihrem Büro oder trifft sich mit ihren Kollegen zur Teambesprechung für ihr neues Projekt? Irgendwo in mir meldet sich leise ein Glöckchen. Rot glühend. Warum sonst würde mir plötzlich so heiß?
Hat sie sich am Ende wieder mal ihren nervigen Bruder eingeladen und der schmeißt hier gerade eine Party? Das sähe diesem Idioten ähnlich. Was allerdings Leon überhaupt nicht ähnlich sieht, ist sein Erstarren mitten auf der Treppe mit kalkweißen Knöcheln, die sich um das Geländer krallen.
„Wie jetzt? Du bist schon drin?"
Nun weiß ich hundert Pro, dass hier etwas komplett faul ist, denn Fragen nach dem Offensichtlichen kommen von ihm nur in der absoluten Ausnahmesituation. Und die ist.... Jetzt!!!? Houston, wir haben ein Problem.
Bitte lass es nicht das sein, was ich befürchte!
„Nein, das ist nur mein Geist, du Idiot!" gebe ich daher sarkastisch zurück, weil ich genau weiß, was gleich kommen, denn jetzt erst raff ich, was mich an dem Chaos in der Bude so gestört hat.
Roter Lack. Viviens Pumps.
Ihre verd*ähm*ten F...-Me-Pumps mit den Killerabsätzen. Daneben die Jacke - nicht ihre Größe. Meine auch nicht.
Auf dem Couchtisch eine halbvolle Weinflasche. Die Reste aus dem umgekippten Glas daneben tröpfeln träge vor sich hin und tränken den hellgrauen Vorleger. Normalerweise wäre Vivien der Schweinerei sofort mit Salz zu Leibe gerückt. Aber von ihr ist weit und breit nichts zu sehen.
Dafür aber zu hören.
Oh oh, so langsam sickert die Erkenntnis durch, doch nun bin ich derjenige, der Captain Obvious spielt, weil er sich weigert, die Wahrheit zu akzeptieren oder das Kind beim Namen zu nennen.
Zu spät!
„Äh, das ist nicht das, wonach es aussieht!" Das Gestammel von Vivien, die sich jetzt weiter oben ins Bild schiebt, ist filmreif - Kategorie B- oder C-Movie - und könnte geradewegs dem Drehbuch für einem ganz schlechten Erotikstreifen entstammen. Allerdings ohne den Achtzehn-Plus-Teil.
Ach ja, Vivien? Wonach sieht es unserer Meinung dann aus? Unserem Aufzug nach zu urteilen, waren wir wohl gerade bei Victoria's Secret shoppen.
Für mich hat sich wohl kaum so viel Mühe gegeben. Wer ist denn der Glückliche? Wie aufs Stichwort taucht die gesuchte Person auf. Diesmal bleibe ich nicht stumm, denn der Kerl, der seine tätowierten Unterarme um Viviens Taille schlingt, erfüllt jedes Klischee.
„Das kann nicht noch schlimmer werden, oder?"
Der Ausdruck von hellem Entsetzen in Leons Gesicht spricht Bände. Wer von euch wollte mich eigentlich verarschen? Vivien, die hier ganz offensichtlich mit einem Kollegen ihr „Team-Meeting" vom Büro erst in unser Wohnzimmer und dann in unser Schlafzimmer verlegt hat? Ich lach mich tot! Der Kollege? Vielleicht... Leon? Der mich nicht ins Haus lassen wollte, um die Sache zu vertuschen? Aber was hätte er davon?
„Ja, haltet ihr mich denn alle für bescheuert???!!!"
Der Druck, mit dem ich meinem Herzen Luft mache, lässt den Raum vibrieren und produziert ein Echo, das von allen Wänden gleichzeitig zurückgeworfen wird. Die unerträgliche Stille, die prompt einsetzt, wird nach gefühlten Minuten von einen Räuspern durchbrochen. Aber nicht von Leon.
„Ähm... Gib mir eine Minute. Dann erkläre ich's dir."
„Echt jetzt, Vivien? Was bitte gibt's da noch zu erklären? Ihr beide halbnackt..." Vermutlich erst, seit Leon da oben rumgekruschelt und euch auf frischer Tat ertappt hat. „Du willst mir nicht ernsthaft erzählen, ihr beide hättet euch nach dem anstrengenden Meeting zur Entspannung eine Runde Netflix reingezogen oder Schach gespielt!"
Oder Strip-Poker...
„Nur zehn Minuten früher, und ich hätte euer Gestöhne bis hier unten hören können!"
Inzwischen ist mir egal, ob jemand mein Schreien hören kann, denn jetzt, wo die Wirkung der Pillen nachlässt, kicken die Schmerzen mit voller Härte zurück und vereinen sich mit der Wut, die sich in den letzten Minuten immer höher aufgestaut hat, zu einer gigantischen Woge. Ich kann förmlich sehen, wie sie auf diesen Abschaum, der sich in unserem - nein, in meinem - Haus breit gemacht hat, zurollt und ihn mit Gewalt fortspült. Leider aber nur in meiner Fantasie.
Am liebsten würde ich auf jetzt irgend etwas eindreschen. Oder auf irgendwen. Doch dazu müsste ich erst mal an Leon vorbei, der den Treppenaufgang noch immer blockiert. Und selbst wenn die Treppe frei wäre - das Messer, das eine unsichtbare Hand durch mein Kniegelenk sticht, als ich den Fuß aufsetzen will, hält mich davon ab, den Rolli zu verlassen.
Scheiß Handicap!
Dafür sind aber noch meine Stimmbänder intakt. Zum Glück für die Bitch und ihren Lover!
„O kommt! Spart euch gefälligst eure Lügen - ich will nichts von euch hören. Von keinem von euch!" Verpisst! Euch! Einfach! „Raus mit euch! Jetzt!! Und zwar alle beide!!!"
A/N: Wer mich kennt, weiß, dass ich Schreibvorschläge nicht immer 1:1 umsetze, sondern sie gerne auseinandernehme und neu zusammensetze. Hier hat es den Schreibvorschlag Nr. 2 aus dem Mai von SteffiDa erwischt: „Das kann nicht noch schlimmer werden, oder?" „Ähm... Gib mir eine Minute." Abgezeichnet hat sich die Katastrophe bereits im letzten Kapitel, wo ich ihn nur zur Hälfte wiedergegeben habe.
PS: Über die Tücken von Sportverletzungen habe ich mich hier schlau gemacht: https://www.helios-gesundheit.de/magazin/news/02/fussballverletzungen/
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