5.1 ~ Ausgeknockt
♫ ♪ If depth of feeling is a currency then I'm the man who grew the money tree. ♪♫ (XTC - Mayor of Simpleton)
„Stell dir vor, es hat geklappt!"
Hä? Was soll geklappt haben? Ratlos und mit offenem Mund starre ich Leon an, der mich wie ein Bündel Uranbrennstäbe anstrahlt und aufgeregt durch den Flur tänzelt, kaum dass ich ihm nach seinem Sturmklingeln aufgemacht habe. Aber schön, dass mein bester Kumpel sowohl meine Frage als auch mein Stirnrunzeln ignoriert und mich kommentarlos stehenlässt. Also stütze ich mich seufzend auf meine Krücken und schubse die Tür ins Schloss, die er offen gelassen hat. Im Schneckentempo drehe ich mich um und humpele ihm ins Wohnzimmer hinterher.
Irgendwann werde ich meine Antwort schon bekommen, aber ob ich aus ihr auch schlau werde, steht auf einem anderen Blatt. Ich weiß, dass er mich nicht gerade für den Hellsten hält. Das hält Leon jedoch nicht davon ab, kryptische Andeutungen zu machen, denn darin war er schon immer groß. Und so, wie er gerade drauf ist, fürchte ich, dass er mich diesmal noch länger als sonst im Dunkeln tappen lässt. Wenn ich ihn jetzt nicht festnagele, springt er noch bis Weihnachten wie ein Flummi bei mir durch die Bude.
Bitte lass mich nicht dumm sterben.
Und das Wunder geschieht. Als ob ihm jetzt erst aufgegangen wäre, wie sehr mich seine Ratespielchen inzwischen nerven, stoppt er seinen Freudentanz von jetzt auf gleich und starrt mich über seine Brille hinweg an, als ob ich wirklich nicht mehr alle Latten am Zaun hätte.
„Na, das hier!" räuspert er sich. Wow! Wenn das mal nicht eine kurze, knackige Ansage ist! Fast hätte ich ihm ja gratuliert, dass er sich damit gerade selbst übertroffen hat, da zieht er einen Wisch aus seiner Hosentasche, der so verknittert ist, dass man glatt auf die Idee kommen könnte, er hätte darauf geschlafen. Auf dem Ding, das er mir unter die Nase hält, hat jemand die Worte „Geld oder Liebe der Dating Pool" quer über eine Skyline gedruckt.
Cooles Design, aber was soll ich damit? Ich habe immer noch keine Ahnung, was er von mir will. Erst beim Hinweis auf eine obskure Jubiläumsausgabe, den ich erst sehe, als Leon seinen Daumen von dem Flyer nimmt, klingelt es bei mir. Eine Datingshow - ach was! Dass sich Leon für so einen Käse interessiert oder gar bei so etwas mitmachen will, ist ja was ganz neues. Oder habe ich irgendetwas verpasst?
„Iiiiiiiiiiich?" kommt es in gespieltem Erstaunen von ihm zurück. Anscheinend muss ich laut gedacht haben. „Nee.... Du!"
Was - ich? Och nö, wie kommt er denn bloß auf so eine Schnapsidee? Doch dann durchzuckt mich ein Ach du Sch*** .
Gut, dass ich bereits vorher schon Halt an der einzigen freien Wand in meinem Wohnzimmer gefunden habe, sonst wäre ich jetzt wegen der Übelkeit, die als Welle auf mich zurollt, mitsamt meinen Krücken umgekippt und läge jetzt K.O. auf dem Boden. Welle? Sagte ich Welle? Schwerer Fehler, denn das Gefühl, das die aus dem Nichts über mich hereinbrechende Erinnerung bei mir auslöst, so zu bezeichnen, wäre die Untertreibung des Jahres. Tsunami trifft es eher.
♪ Das ist die perfekte Welle, das ist der perfekte Tag... ♪
Wo ist der Aus-Knopf für die Ironie, wenn man ihn braucht? Schon beim Einsteigen in Leons Karre hätte ich darauf bestehen sollen, dass er eine andere CD einlegt. Aber ich war ja mal wieder der gutmütige Depp, dem das vor ihm liegende Training wichtiger war. Zu wichtig. Lass dich einfach von ihr tragen, denk am besten gar nicht nach... Ach ja? Den Ratschlag hätte ich früher gebrauchen können, denn das hätte mir an diesem Tag so einiges erspart. So fixiert, wie ich auf das Training war und deshalb nicht in der Lage, meinen Kopf abzuschalten, konnte das nur auf Krampf hinauslaufen.
Doch so verbissen, wie ich in den letzten Wochen trainiert hatte, weil ich wusste, dass sich heute alles entscheiden würde, konnte ich mir jetzt keinen Fehler erlauben. Zu viel stand einfach auf dem Spiel, als dass ich den Wissensvorteil, den ich den anderen gegenüber hatte, nicht auch zu meinem eigenen Karrierevorteil genutzt hätte.
Ich meine: Ein Typ, der sich mit 24 Jahren noch immer als Linksaußen in einem durchschnittlichen Verein in der Regionalliga dumm und dämlich rennt! Wer würde da nicht jede Chance auf einen Ausweg aus der Sackgasse ergreifen, und sei sie auch noch so klein? Denn was unseren TSV betrifft, habe ich meine eigene Meinung. Einen Verein aus der vierten in die dritte Liga zu führen, das klingt zuerst einmal nach einem Plan. Und was diesen angeht, so war unser Trainer von Anfang an Feuer und Flamme, doch der hätte vorgesehen, dass wir unsere Allerwertesten hochkriegen, um das breite Mittelfeld, in dem wir schon seit Jahren herumkrebsen, mit Bravour zu verlassen. Darin waren wir uns von Anfang an einig. Man hätte Coach Reinhardt jedoch verraten können, dass dies auf zwei Arten möglich ist.
Dreimal dürft ihr raten, auf welchem Weg sich unser Team gerade befand.
Doch anscheinend hatte sich unser drohender Tabellenabstieg noch nicht zu dem extra für heute einbestellten Scout herumgesprochen. Oder dieser hatte längst Wind davon bekommen und dennoch an seinem Plan nichts geändert, weil er davon überzeugt war, einem schlummernden und noch nicht entdeckten Talent zu begegnen - und zwar mir.
Adieu TSV Schabernack, bye-bye Regionalliga Südwest
Den Elfmeterpunkt fest im Blick, dribbelte ich gekonnt den Ball an der gegnerischen Viererkette vorbei und stürmte auf den Strafraum zu, als gäbe es kein Halten mehr. Da grätschte mir von rechts jemand volle Kanne rein und riss mir die Beine weg. Ich sah rot. Als nächstes Sterne. Und dann für lange Zeit... nichts mehr.
Bye-bye Talentscout, adieu Sportkarriere.
Jedenfalls für sechs Wochen, wenn nicht sogar noch länger. Zeit, dass sich was dreht? Vergiss es. Das einzige, was sich hier dreht, ist die Decke des Sanitätsraums, an die ich wie betäubt starre. Ein übler Kreuzbandriss ist der Grund dafür, dass Dribbeln, Kicken und Sprinten für mich bis auf weiteres gestrichen sind und ich mich intensiver Physio und Ausdauertraining im Wasser erfreuen darf. Allerdings erst nach der OP.
Wann die sein wird? Leider hat Coach Reinhardt darauf auch keine Antwort, genauso wenig wie auf die Frage, wie er sich die kommenden sechs bis neun Monate vorstellt. Das ist laut dem von ihm zitierten Gesundheitsmagazin nämlich die sogenannte „optimale" Rehabilitationszeit. Optimal? Reinhardt ist ja vielleicht lustig! Der tut ja so, als wäre die Bedeutung dieses Urteils von einem Weltuntergang so weit entfernt wie der Nordpol von der Antarktis. Aber er steckt ja auch nicht in meiner Haut. Den Karrierepush, den ich mir mit dem Besuch des Talentscouts erhofft habe, kann ich jedenfalls vergessen. Der ist in für mich unerreichbare Ferne gerückt und somit Schnee von gestern.
Das kann nicht noch schlimmer werden, oder?
Jetzt bloß nicht reden. Was zum Teil wohl auch an dem Krankenhausgeruch um mich herum liegt, der mir das Gefühl gibt, dass es mir jeden Moment hochkommt. Also lasse ich es zu, dass mich Leon und Michi, einer unserer Verteidiger, gemeinsam ins Auto setzen, um mich nach Hause zu bringen. Damit ich mich in meinem eigenen Bett auskurieren kann, wie mein Kumpel sich ausdrückt. Außerdem ist ja auch noch Vivien da. Vivien? Ach, wenn er wüsste! Ich kann jetzt schon riechen, wie meine Süße reagieren wird.
Ja, ja, jetzt, wo es dir beschissen geht, da bin ich auf einmal wieder gut genug, Jetzt denkst du wieder an mich! Aber wo warst du, als ich dich gebraucht habe?
Nachdem ich sie wegen des vielen Trainings in der letzten Zeit so vernachlässigt habe, könnte ich ihr so eine Reaktion nicht mal übelnehmen. Kein Wunder, dass mir die Aussicht auf so ein „Gespräch", wie wir sie übrigens schon öfters hatten, meine Eingeweide wie ein Stein zusammendrückt und mir deshalb kotzübel ist.
Aber vielleicht liegt es ja auch an den Medikamenten, mit denen sie mich zugedröhnt haben, damit ich nicht vor Schmerzen an die Decke gehe.
A/N: Wer befürchtet hat, dass die anderen Kandidaten in der Versenkung verschwunden sind - keine Sorge, ich habe sie nicht vergessen. Nach und nach trudeln sie hier wieder ein.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top