4.5 ~ Zum Nobiskrug
♫ ♪ Making love with the devil hurts. Times are changing. ♪♫ (Thirty Seconds to Mars – Walk on Water)
Tu, was du willst – für nur eine Nacht?
Mag ja sein, dass bei uns die Zeit anders verläuft, da Lucy aber schon länger verschwunden war, konnte ich meine Hoffnung, sie hier unten doch noch irgendwie aufzuspüren, endgültig begraben. Diese berühmte eine Nacht war nämlich nach meiner Einschätzung schon lange vorbei. Und so, wie Lucy seit unserem letzten Stelldichein drauf gewesen war, konnte ich die Möglichkeit, dass sie unser Reich der Finsternis schon lange verlassen hatte, nicht mehr von der Hand weisen. Und damit brauchte ich bei denen da oben im Pandämonium gar nicht erst antanzen. Die würden mich doch glatt zu der gleichen Strafarbeit wie Lucy verdonnern, mit Sisyphos als Oberaufseher – eine Vorstellung, bei der es mich gruselte. Aber welche Chance hatte ich? Ratlos blickte ich mich zwischen den staubigen Schwarten um, ohne Ergebnis. Mutlos setzte ich mich an die grobgezimmerte Tafel, auf der sich die von Lucy in die Hände genommenen Bücher zu schwindelerregenden Türmen stapelten. Am Ende meines Lateins, ließ ich meinen Oberkörper auf die Tischplatte sinken und vergrub meinen von Verzweiflung geplagten Schädel in den ineinander verschränkten Armen. Bloß nichts hören, bloß nichts sehen...
Irgendwo in einer der hinteren und schlecht beleuchteten Ecken raschelte eine Maus.
Eine Maus... Seit wann denn das? Und dann noch in der Bibliothek! Wenn es nicht so traurig gewesen wäre, hätte ich darüber doch glatt gelacht. So viel zu Lucy und ihrer Frage, ob Tiere in die Hölle kommen können. Doch nachdem Lucy den eigentlich streng geheimen Schlüssel entwendet hatte und anscheinend ihrer Meinung nach ohne Konsequenzen fröhlich durch die Weltgeschichte spazierte, wunderte mich gar nichts mehr. Ohne Konsequenzen? Vielleicht für sie – aber bestimmt nicht für den Rest von uns.
Denn wenn es ein unumstößliches Gesetz gibt, das immer und überall gilt (egal wo), dann das: Nichts bleibt ohne Folgen. Vielleicht erklärte das mein Gefühl, dass die Welt, wie ich sie kannte, allmählich immer deutlichere Risse bekam, durch die nach und nach Anomalien einsickerten. Anomalien wie jene, in die sich Lucy offenbar zu verwandeln begonnen hatte. Irgendetwas hatte das empfindliche Gleichgewicht zwischen Paradies, Reich der Finsternis und der Irdischen Ebene dazwischen gestört und wenn dieser Entwicklung niemand Einhalt gebot, dann...
Nein, das willst du dir nicht ausmalen! Auch nicht die Strafe, die dich erwartet. Und erst recht nicht, dass du derjenige bist, der diese undankbare Aufgabe erledigen muss. Denn wenn du versagst, dann sind wir alle geliefert.
Mit diesem Wissen konnte ich jetzt erst recht nicht zurück nach oben. Es gab nur einen Weg: den gleichen, den Lucy genommen hatte. Doch den musste ich erst noch finden.
Haare, Nagellackspuren, kaum wahrnehmbare Duftmoleküle... Erkaltende Fährten! Hätte ich gewusst, dass Lucys vermeintliche Cleverness ihre Grenzen hatte, wäre ich ihnen nicht so verbissen nachgejagt. Dann wäre ich ganz cool geblieben und hätte nicht an mir selbst zu zweifeln begonnen. Hätte ich von Anfang an auf mein Bauchgefühl gehört, hätte ich gleich darauf vertraut, dass Lucy ihrer Selbstüberschätzung einen Fehler machen würde und der ausgerechnet auf die denkbar unwahrscheinlichste Weise ans Licht kommen würde.
Eine Maus.
Oder besser gesagt, das Papier, mit dem das Tierchen, von dem ich immer noch nicht wusste, wie es in die tiefsten Tiefen der Hölle geraten war, vor sich hin raschelte. Nestbau in der Bibliothek? Ganz schlechte Idee. Oder war das Absicht und irgendjemand hoffte, dass die Sammlung ketzerischer Schriften dadurch schneller zerlegt wurde? Da ich dieses Rätsel ohnehin nicht lüften würde, verwarf ich den Gedanken auch gleich wieder und konzentrierte mich lieber darauf, den vierbeinigen Übeltäter auf frischer Tat zu erwischen, und tatsächlich, kaum spürte das graue Nagetier die Erschütterung meiner Schritte auf dem knarrenden Dielenboden, ließ es das Corpus Delicti fallen und huschte unter das nächste Regal. Stirnrunzelnd hob ich den angenagten Pergamentfetzen auf und betrachtete die Farbspuren in verdächtigem Rot, wurde aber aus den vielen aneinander gereihten Wörtern, die auch noch alle mit dem gleichen Buchstaben anfingen, nicht so richtig schlau.
Houdinis Hort haarsträubender Handbücher. Was sollte das sein? Ein geheimer Ableger dieser Bibliothek? Eine Sammlung von Schriften des Wahnsinns? Oder aber...
Ein Buchladen. Echt jetzt? Wo, zur Hölle, sollte der sich in der Hölle befinden?
Denk nach, Damon, denk nach.
Ja, wo? Ich konnte mir nur noch einen Ort vorstellen, auch wenn das bedeutete, dass ich das Unaussprechliche aussprechen musste. Geh da hin, wo du die armen Schweine antriffst, die wegen ihrer Völlerei dort gelandet sind - in der Gasse, deren Name längst in Vergessenheit geraten ist; genauer gesagt in einem Gasthaus, das man am besten meidet, wenn einem sein Verstand lieb ist: dem Nobiskrug.
Eigentlich hieß es ja Zum Nobiskrug, aber damit nahm es der Wirt nicht so genau. Worauf er aber besondere Sorgfalt legte: Wer einmal drin war, kam so schnell nicht wieder raus. Und dass alle, die zum Besuch seine Etablissements verdammt wurden, auch ja bei ihm eintrafen und nicht durch die umliegenden Läden in dieser obskuren Gasse abgelenkt wurden.
Wie zum Beispiel einen Buchladen, wie den hier, den Lucy auf einem Zettel notiert hat, bevor sie diesem zu ihrem Pech verlieren musste.
Houdinis Hort haarsträubender Handbücher
Was für ein Ramschladen! Beklemmend eng und untergebracht in einem alten Häuschen, das um die tausend Jahre auf dem Buckel haben muss und scheinbar von einem irren Stadtplaner zwischen zwei windschiefe Gebäude gequetscht wurde, gähnt mich ein dunkles, verstaubtes Schaufenster an, in dem ein unbeschreibliches Chaos herrscht.
Habe ich von dieser verwinkelten Gasse eigentlich etwas anderes erwartet? Alles an dieser wenig einladend wirkenden „Buchhandlung" scheint mir zischend Bleib weg zuzuflüstern. Bröckelnde Ziegel mit der Farbe von geronnenem Blut atmen mir ein bösartiges Hau ab! entgegen, doch so leicht lasse ich mich nicht ins Bockshorn jagen. Was kann mir so eine einsturzgefährdete Klabuchte schon anhaben? Sie wird ja wohl nicht ausgerechnet dann über mir zusammenstürzen, wenn ich die Klinke runter drücke. Denn wenn Lucy sich in diesen Laden, der sich auf obskure Ratgeber zu spezialisiert haben scheint, hinein getraut hat und der noch immer auf seinen wackeligen Fundamenten steht, dann sollte das für mich doch ein Klacks sein.
Das habe ich aber auch nur gedacht.
Denn wie so oft in letzter Zeit, habe ich nicht mit dem Unwahrscheinlichen gerechnet. Und das soll mir zum Verhängnis werden. Mal wieder.
Doch zuerst geschieht nichts, als ich nach der rostigen Klinke greife und auf unerwarteten Widerstand stoße. Fast so, als versuchte ich, in einen Tresorraum einzudringen, bewegt sich die ungewöhnlich schwere Tür nur millimeterweise vorwärts und gibt nur einen Spalt frei. Gerade so breit, dass ich es schaffe, mich durch ihn hindurch zu quetschen und einen Blick in den Verkaufsraum zu werden. Kaum bin ich drin, gibt die Tür auf wundersame Weise nach und bringt ein winziges Silberglöckchen hoch über meinem Hörnern zum Bimmeln.
„Kundschaft!" schallte es hämisch kichernd durch den Raum. Mich darüber wundernd, dass die koboldhafte Stimme von oben zu kommen scheint, lege ich meinen Kopf in den Nacken und erblicke verdutzt Regale, die sich in scheinbar unendliche Höhen erstrecken. So hoch hat das Haus von außen doch gar nicht ausgesehen. Doch es wird noch merkwürdiger, denn wie aus dem Nichts taucht ein Gnom hinter seinem Tresen auf. „Sie wünschen?"
Dabei wirkt er, als wäre das Zusammensuchen der benötigten Ware für ihn eine ganz besondere Zumutung, die er am liebsten einem Gehilfen überlassen würde, wenn er denn einen hätte. Kein Wunder, bei den sich schier ins Endlose erstreckenden Regalen voller Bücher, bis hinauf an die Decke. Vielleicht musste er schon so manchen Kilometer auf seinen krummen Beinchen hin und her laufen, bis die pingelige Kundschaft zufrieden war.
Dennoch denke ich mir bei dem Schnarren, das der Alte auf mich loslässt, dass das durchaus auch freundlicher gegangen wäre. Leiser übrigens auch, denn die Lautstärke, mit der er mich anblafft, ist nicht normal. Schwerhörig ist der Kerl also auch noch, muss ich feststellen, als ich bei ihm mit meiner Frage, ob ihn eine rothaarige Dämonin mit ihrem Besuch beehrt hat, auf taube Ohren stoße. Na schön, stellen wir die Frage eben ein zweites Mal, also gehe ich einen beherzten Schritt auf ihn zu.
Ein Schritt zu viel, wie ich entsetzt feststellen muss, denn augenblicklich verändert sich der gesamte Laden. Die Buchregale noch immer vor Augen, lösen sich Marmorboden und Wände um mich herum auf und ich finde mich im Freien wieder.
Aber nicht in einem von trüben Straßenlaternen in oranges Licht getauchten Industriegebiet, was ich ja noch verstanden hätte, sondern auf einer Wiese voller Korn- und Glockenblumen, über die sich ein blauer, schäfchenwolkenübersäter Himmel spannt.
A/N: Ja, bin ich denn bei einer Schnitzeljagd? Genauso komme ich mir vor, bei dem Versuch, die angefangenen Fäden halbwegs sinnvoll zu verknüpfen. Geholfen hat mir dabei der Schreibvorschlag von Parluene23: „Du betrittst einen alten Buchladen und hörst das kleine Glöckchen über der Eingangstür bimmeln, aber als du einen weiteren Schritt hineinwagst, stehst du plötzlich auf einer Wildblumenwiese"
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