4.4 ~ Dem Feuer entrissen


I hear the roar of a big machine.Two worlds and in between. Hot metal and methedrine. I hear empire down. ♪♫ (The Sisters of Mercy – Lucretia My Reflection)



Einfangen und auf Spur bringen. Ein eigentlich todsicherer Plan. Doch dazu hätte ich erst einmal wissen müssen, wo sie steckt. Denn wie schon das Strafgericht feststellte: Wo kommen wir da hin, wenn jeder ein- und ausgeht, wie er will? Ein Szenario, das ich mir lieber nicht vorstellen wollte, denn das hätte ja bedeutet, dass es Lucy irgendwie geschafft haben musste, die Hölle zu verlassen. Uns alle zu ghosten, das wär's ja gewesen – konnte ich mir aber nicht vorstellen. Oder hoffte es zumindest. Bestimmt hatte sie sich irgendwo versteckt und hielt uns alle zum Narren. Aber wo?

Bei den Zornigen im Fünften Kreis? Oder bei den Selbstmördern im Siebten? Was ich für gar nicht so abwegig hielt, bei dem stumpfsinnigen Plan, den Schlüssel zu klauen, den sie sich (aus welchen Gründen auch immer) in ihrem hübschen, aber inzwischen immer eigensinnigeren Köpfchen zusammengetüftelt hat; ohne an die

Folgen zu denken, die ich jetzt ausbaden durfte, und zwar alleine.

Du hast es verkackt!

Der große Teamplayer war ich noch nie, sonst wäre ich vor meinem Absturz nie so weit gekommen, aber wie ich es auch drehte und wendete – nun ging kein Weg daran vorbei: Ich musste mich wohl oder übel mit Sisyphos kurzschließen. Der würde zwar feixen, weil er jetzt schon wieder Besuch bekam, dem er seine Überlegenheit demonstrieren konnte. Griechischer Gott hin oder her, er konnte noch froh sein, dass man ihn ungeschoren gelassen hatte.

Okay, er hatte dafür nun mich an der Backe. Ob ihn das fröhlicher stimmte? Vielleicht glaubte er ja, dass es sich bei den ihm zugeteilten Dämonen, die ihm nach und nach entkamen, um eine ganz neue Teufelei handelte, die auf Kosten des Herrns über das Pandämonium ging. Wer hätte da nicht alles zum Hinschmeißen und Davonlaufen gefunden?

Leider hat das Bild einen gewaltigen Sprung: Es gibt nur einen Schlüssel. Den einen – und den hat Lucy. Ich weiß ja nicht, ob sie es weiß, aber hat jemand dieses Artefakt in seinem Besitz, ist damit alles möglich.



„Kommen Tiere in die Hölle?" wiederholte Sisyphos nachdenklich, während er sich umständlich aus seinen Ketten wickelte und sich am Kopf kratzte. „Aber das wäre ja völlig absurd".

Absurd? No shit, Sherlock!

Dass der Kerl aber auch immer genau das aussprechen musste, was ich dachte! Fehlte nur noch, dass er wissen wollte, ob sie zu viel Camus gelesen hätte. Etwas, das ich ausschließen konnte. Hatte sie Zugang zu Büchern? Wohl kaum. Aber ich verstand, warum er so viele Fragen stellte. Dabei hatte doch ich ihn interviewen wollen. Denn wenn es ums Groteske ging, war ich genau hier richtige. Gab es doch nichts irrwitzigeres, als einen Felsbrocken tagtäglich einen Berg hinauf zu rollen, nur um diesen wieder nach unten trudeln zu sehen und gleich darauf wieder ganz von vorn anfangen zu müssen.

„Wenn du mich fragst", kam er nach endlosem Mäandern durch seinen ellenlangen Fragenkatalog zu einer Antwort, auf die ich längst hätte selbst kommen können und die absurderweise als einziges annähernd Sinn ergab.

„Versuch's mal bei den Ketzern im Sechsten Kreis."



Bei den Ketzern, im Sechsten Kreis der Hölle? Tolle Wurst! Was sollte ich da? Irgendjemand verarschte mich hier doch ganz gewaltig. Warum sollte ich nicht zwei Etagen tiefer, zu den Verrätern? 

Lustlos schlurfte ich durch die endlosen Gänge. Tür reihte sich an Tür. Wie Beichtstühle, dachte ich und gab den Versuch, sie zu zählen, sehr bald auf. Die oben an ihnen angebrachten Nummern konnte ich nicht entziffern, bei all dem Weihrauch, der in Zeitlupe durch die Luft waberte. Überhaupt verlief die Zeit hier anders, und ich beglückwünschte mich insgeheim selbst, dass ich nicht dazu verdammt war, endlich aufgerufen zu werden wie die armen Seelen, die auf den an der Wand aufgereihten Bänken ausharren mussten, bis sie endlich an die Reihe kamen. Ihre frustrierten Blicke und die Tickets mit den Nummern, die sie am Anfang gezogen haben mussten, sprachen Bände.

Trotzdem war ich auch nicht zu beneiden, denn ich musste unwillkürlich an die Suche nach der Nadel im Heuhaufen denken. Doch anders als Normalsterbliche hätte ich den ganzen Haufen einfach kurzerhand abgefackelt, doch ich spürte, dass mir Tricks nicht weiterhelfen würden. So sehr ich auch die Rädchen unter meiner hörnerverzierten Schädeldecke zum Glühen brachte, ich kam zu keinem Ergebnis. Entnervt ließ ich mich auf einen freien Platz fallen.

Schwefel, Donner und Blitz! Der Duft, den die Gestalt zwei Plätze von mir entfernt absonderte, trieb selbst mir die Tränen in die Augen. Ein olfaktorischer Angriff aus Patschuli und Vanille von der Seite – ja, hatte sich denn heute alles gegen mich verschworen? Praline und rote Beeren... kristallklare Schwingungen lieblicher Süße... geschaffen für die Ewigkeit... und durchzogen von zarten Strudeln aus Bergamotte?

Bergamotte... Moment mal! Das war doch genau das, was in dem sinnfreien Geplapper vorkam, das Lucy zuletzt immer öfter von sich gegeben hatte; wahrscheinlich in dem Glauben, es würde mich interessieren.

Es fiel ein Stern vom Himmel, und der war blau wie die Unendlichkeit.

Himmlische Facetten in Frucht? Kein Wunder, dass ich vor dieser engelhaften Zumutung floh wie das Pandämonium vor dem Weihwasser! Aber vielleicht war genau das die Lösung und ich musste einfach nur meine Nase einschalten anstatt mein Hirn oder andere Regionen meines durchtrainierten Körpers.

Folge dem zarten Duft von kristallklarer Luft – den feinen Aromen der Zitrusfrucht.



Und so führten mich die kaum noch wahrnehmbaren Moleküle tatsächlich an den Ort, wo sich Lucys Spur verlor: Die Bibliothek. Ein einzelnes rotes Haar, das an einem rostigen Nagel hängen geblieben war, genügte mir, um die chaotisch gestapelten Schwarten genauer unter die Lupe zu nehmen. Der Feudel, den sie zuletzt in den Händen gehabt haben muss, lag noch dazwischen und wies roten Farbabrieb auf. Was zum Henker hatte sie hier gemacht außer zu putzen? Haare und Farbreste, die ihr Nagellack hinterlassen hatte, waren jetzt die Indizien, nach denen ich suchen musste.

Nagellack in der Hölle? Wundern Sie sich nicht, auch wenn Sie das seltsam finden. Aber bei uns ist nichts unmöglich. Außer, man sucht sich einen Wolf nach etwas, von dem man nicht weiß, was es ist. Doch plötzlich... Da! Eines von den Büchern, die man zwischen all den doppelt und dreifach mit Vorhängeschloss gesicherten ledergebundenen Folianten gerne übersieht, weil sie so schön unauffällig sind. Klein, dünn und zerfleddert. Vermutlich eine Übersetzungshilfe von altaramäisch in Sanskrit oder noch komplizierteres, und winzige Partikel von Lucys Nagellack hafteten daran. Gespannt schlug ich das Pamphlet auf und erbleichte.

Welcher Dilettant dieses Machwerk auch immer verzapft hatte, er konnte unmöglich im Klaren darüber gewesen sein, was er damit heraufbeschworen hatte. Eine Grimoire handschriftlich zu kopieren, war schon nicht ohne, aber sich die Rosinen herauszupicken und Sprüche ohne Sinn und Verstand abzuschreiben, ohne das große Ganze zu erfassen? No way!

Mospleh Mospleh Mospleh... was, zum Henker? Ruft die Hörner? Oder der hier: 50 Wege, deinen Seelengefährten für immer in den Hades zu verbannen. Abergläubisches Hexengeschwätz. Was für ein Anfänger. Anleitung zum Herbeirufen einer Olfaktille. Was auch immer eine Olfaktille war, aber es ging noch weiter: Sicher mogeln ohne Folgen. Schön wär's. Der Golem – Anatomie und Wirkungsweise. Wie nützlich, wenn man sich vorm Putzen drücken wollte und...

Stop! Sicher mogeln ohne Folgen? Hoffentlich war es nicht das, wonach es aussah, denn wenn wir eines gar nicht gerne sahen, dann Lug und Trug. Nicht umsonst wurden Schriftstücke wie zum Beispiel über den Golem streng unter Verschluss gehalten. Und jetzt lagen hier Anleitungen, wie man bescheißt, offen herum. Mir schwante Übles. Hektisch schlug ich das Kapitel auf, an dem besonders viele rote Kratzspuren zu sehen waren.

Tu, was du willst – und sei's für nur eine Nacht!

Keine Ahnung, was daran nun so bahnbrechend war, dass es besonderer Aufmerksamkeit bedurfte, tat ich doch ständig, was ich wollte, ohne dass mir einer reinquatschte.

Ohne Konsequenzen!! Doch dazu darfst du...

Oooookay. Das war neu. Hier war ich zwar so gut wie mein eigener Herr, aber alles hatte Grenzen. Und je länger ich darüber nachdachte, glaubte ich zu wissen, wie Lucy diese Sammlung von Sprüchen für sich auslegte, vorausgesetzt, sie hatte sie überhaupt entdeckt.

... niemandem begegnen, der deinen Vornamen kennt.

Niemandem, der deinen Vornamen kennt! Aha. Lucy konnte inzwischen überall sein – das hatte sie ja geschickt eingefädelt. Inzwischen war ich fest davon überzeugt, dass sie den richtigen Moment abgepasst hatte, um sich davonzumachen. Doch wie? Es gab nur einen Weg in die Hölle, und der führte über Lucifer und seinen Sitz am Läuterungsberg. Jeder, der versuchte, sich an ihm vorbei zu schleichen, würde einen Alarm auslösen, der sich gewaschen hatte.

Es sei denn, sie hatte einen anderen Weg gefunden, knapp davonzukommen – also sprichwörtlich dem Feuer entrissen zu werden.



A/N: Verwendet habe ich für dieses Kapitel den Schreibprompt Nr. 4 von Mainalianda: „Du erhältst die Möglichkeit, eine Nacht lang alles zu tun, ohne Konsequenzen. Aber nur, wenn du niemandem begegnest, der deinen Vornamen kennt."








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