2.6 ~ Nemesis (Das Schicksal in Person)

You'll never know who'll you meet on your way to the top, you'll probably see them again when your fame starts to drop. ♪♫ (Amy MacDonald – This pretty face)



Man sieht sich immer zweimal im Leben?

Eigentlich ist mir dieser abgedroschene Spruch, den Ella ab und zu bringt, bis jetzt sowas von egal gewesen. Schließlich laufe ich an der Uni jeden Tag den gleichen Leuten über den Weg, da sieht man sich zwangläufig zweimal. Oder auch mehrmals. Und mal ganz ehrlich: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass man irgendwann eine Urlaubsbekanntschaft von früher trifft? Vor allem dann, wenn man nicht vierzehn Tage im All-Inclusive-Hotel auf Malle oder Ibiza war sondern auf einer Rundreise durch Montenegro oder Albanien? Busreisen können ja so spannend sein, doch getroffen habe ich danach von meinen Mitreisenden nie wieder einen. Tja, Schwein gehabt... so dachte ich jedenfalls.

Wie gesagt, bis jetzt.

Doch da es für alles ein erstes Mal gibt, soll ich genau jetzt erfahren, welch tiefere Bedeutung der Spruch für mich tatsächlich hat. Denn das Universum vergisst nie und pfuscht dir dann ins Handwerk, wenn du es wenigsten gebrauchen kannst. Nur heißt meine Nemesis nicht Urlaubsbekanntschaft sondern Speed-Dating, und wenn ich könnte, würde ich die Zeit zurückdrehen.

Vermutlich hört sich das ziemlich wirr und verrückt an, aber in genau diesem Stil fahren meine Gedanken Achterbahn, als ich auf dem Weg nach draußen unfreiwillig Zeuge werde, wie sich die Tür zu ausgerechnet dem Raum öffnet, von dem wir uns laut Margo in einem weiten Radius fernhalten sollten, damit wir den anderen Kandidaten, denen wir erst in der Show gegenüberstehen sollen, nicht schon vorher begegnen.

Denn dann wäre der Überraschungseffekt dahin, und das wollen wir doch sicher nicht, oder?

Oh ja, ich habe ihre Worte vom Anfang, die mehr wie eine unterschwellige und unausgesprochene Drohung klingen, noch sehr wohl im Ohr. Allerdings hat die gute Margo nicht damit gerechnet, dass eine ihrer Kandidatinnen aus der Reihe tanzen könnte und diese Kandidatin ausgerechnet ich bin. Theoretisch hätte sie auf alle Eventualitäten vorbereitet sein müssen – also auch darauf, dass meine Nerven inzwischen zu viel von dem ganzen Theater haben und mit dem entsprechenden Nachdruck nach Nikotin schreien. Ein Schrei, der nach außen hin ungehört bleibt, aber mich dazu treibt, den Frisierumhang abzuwerfen und die „heiligen Hallen" der Maske zu verlassen.

Nichts wie raus ins Freie, und zwar geradewegs durch den nächstbesten Ausgang, höre ich es rufen, aber immer schön in der Nähe des Geschehens bleiben...

Sagte ich etwas von auf alle Eventualitäten vorbereitet sein? Vielleicht hätte ich nicht zu doll auf Margo zeigen sollen, denn wenn du mit einem Finger auf jemanden deutest, zeigen drei von deinen anderen Fingern gleichzeitig auf dich. Probiert es aus, ihr werdet ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis kommen (und dabei spielt es keine Rolle, ob ihr den Daumen zu Hilfe nehmt oder nicht). Wie auch immer das mit dem, was dreifach zu einem zurückkommt, gemeint war – jetzt bin ich diejenige, die genau wie Margo kurz davor steht, ihre Fassung zu verlieren.

Denn es hatte einen Grund, warum ich in der Maske bleiben sollte. Irgendein Fehler im System hat dafür gesorgt, dass der Stylist, der für die andere Hälfte der Kandidaten zuständig ist, ausgerechnet in einem Raum in der Nähe vor sich hin werkeln muss, oder besser gesagt: vor sich hin gewerkelt hat. Denn jetzt ist er derjenige, der genau wie ich ein dringendes Bedürfnis verspürt haben muss und die Maske für die Herren verlässt, die ich ja an Bennys Stelle am anderen Ende des Studiolabyrinths eingerichtet hätte.

Dass sie jetzt dort ist, wo sie ist und mir Gelegenheit gibt, hinein zu linsen, war so garantiert ebenfalls nicht vorgesehen. Nur mal kurz gucken – schadet ja nicht, rede ich mir meine Neugier schön und erkenne gleich darauf, dass dies ein Fehler war. Ein riesiger Fehler. Einer von der Sorte, die einem schlechte Träume und einen erbsengroßen Knoten im Magen beschert.

Denn dieses Tattoo, das aus dem schwarzen Rollkragen des Typen auf dem Frisierstuhl heraus lugt, würde ich unter Hunderten wiedererkennen.



Ein schwarzes Schlangentattoo.

Es windet sich vom Hals, unterhalb des linken Ohrläppchens beginnend, über das rechte Schlüsselbein und verschwindet am Rückenausschnitt des weißen Tank-Tops, als mein Speed-Dating-Partner aufsteht und sich die Lederjacke lässig über die Schulter wirft, um zum nächsten Tisch zu wandern. Normalerweise habe ich für solche von sich überzeugten Bad-Boy-Verschnitte nur wenig übrig, besonders für solche, die glauben, dass es besonders cool rüberkommt, wenn sie drinnen die Sonnenbrille aufbehalten.

Doch, o Wunder - der hier nahm doch tatsächlich die Ray Ban ab, als er sich kurz nach Beginn der Veranstaltung mir gegenüber am Tisch niederließ. Ob ich die erste war, für die er das tat oder er gerade erst den Saal betreten hatte, änderte an der Sache im Prinzip nicht viel. Speed-Dating, diese grandiose Idee stammt von Lucy. Wie grandios, dazu komme ich noch – jetzt aber erst mal hübsch der Reihe nach.

Als erstes fielen mir an Julian seine Augen auf. Goldbraun, eigentlich mehr eine Mischung aus Haselnuss- und Bernsteinfarben, und mit einem schmalen Kranz um die Iris, den man erst dann wahrnimmt, wenn man genauer hinsieht. Und da ich aus Gewohnheit den Dingen auf den Grund gehe und gerne einen näheren Blick riskiere, wenn es sein muss...

Langer Rede kurzer Sinn: es musste. Gegenseitig vertieft in die Augen des jeweils anderen, hätten wir doch glatt die Trillerpfeife verpasst. In die pustete der Leiter dieser Veranstaltung aus Leibeskräften hinein, um lautstark zu verkünden, dass „wir Turteltäubchen" uns nun trennen mussten, weil jemand neues im Anmarsch war. Oh, wie ich dieses nervige Geräusch hasste. Am liebsten hätte ich den Typen mit dem Band, an dem dieses Instrument aus der Hölle hängt, erwürgt – natürlich nicht in real, sondern nur bildlich.

Aber ich habe mich zu früh aufgeregt. Nicht immer bedeutet aus den Augen auch aus dem Sinn. Denn so, als ob sich wie in Donnie Darko ein unsichtbares Band aufbaut, das uns miteinander verbindet, stehlen sich unsere Blicke während der folgenden fünfundvierzig Minuten immer wieder zueinander und lassen den anderen Jungs und Mädels in diesem sechsundzwanzigköpfigen Dating-Pool keine Chance. 

Und am Ende sind es dann Julian und ich, die ihre Telefonnummern austauschen, um sich für ein weiteres Date zu verabreden. Die Gesprächsfetzen, die ich von dieser Veranstaltung noch im Gedächtnis habe, lassen auf mehr hoffen. Mag sein, dass sich hier schon der erste Fehler versteckt hat, aber der Zug ist längst unterwegs und niemand kann ihn stoppen. Der Knoten wächst.



Fehler Nummer Zwei: Beim eigentlichen Date dem Gin Tonic stärker zusprechen als beabsichtigt. Inzwischen weiß ich selber, dass es idiotisch war zu glauben, dass ein vom Barkeeper gemixter Longdrink dabei hilft, die Zunge zu lösen. Und alles nur, weil man unbedingt wieder an das Gespräch vom Speed-Date so schnell wie möglich anknüpfen möchte.

Nerds unter sich, die auf einer Wellenlänge schwimmen.

Auch wenn es im Nachhinein keine Rolle mehr spielt, wer von uns mit dem Blödsinn angefangen hat – Julian und ich hätten es bei dem einen belassen und der Getränkekarte keine Beachtung schenken sollen.

KI, Mikrochips... Inspiriert von immer abenteuerlicheren Mixturen, führt unser gemeinsames Brainstorming zu Ideen, die mit Fortschreiten des Abends immer fleißiger sprudeln – ja, ich spüre geradezu, wie sie fließen. Ein Fluss, der immer schneller fließt und unsere letzten Reste an Verstand mitreißt, bis mein Kopf nicht mehr hinterher kommt.

Sensoren... Irgendwann beugt sich Julian verschwörerisch zu mir herüber und raunt mir Worte zu, die eher in einen Sci-Fi-Thriller passen als in eine Cocktailbar mit drei Dutzend Sorten Gin-Cocktails auf der Karte. Implantate... Eine Idee, auf die Julian beim täglichen Training mit seinen tierischen Schützlingen gekommen ist. Wie hat er sich nochmal ausgedrückt? Nur langsam kehrt die Erinnerung in Bruchstücken zurück: eingesetzt in die Probanden und so winzig klein, dass sie sich nahtlos in deren Hirnstrukturen einfügen... und da ihre Träger sie ohnehin nicht spüren...

„Und wovon träumst du, Jess?"

Plötzlich macht sich der Knoten in meinem Magen nur zu deutlich bemerkbar. Walnussgroß, um das Kind beim Namen zu nennen. Was, um Himmels Willen, habe ich ihm bloß in meinem benebelten Zustand anvertraut?

Ich habe keine Ahnung, aber eines weiß ich genau: Von jetzt auf gleich war Julian Geschichte, hat sich nicht mehr gemeldet, ist abgetaucht. Gestern noch geghostet – und heute plötzlich sitzt er hier? Das Muster wiederholt sich. Erst Ella, dann Julian... Bei dieser Erkenntnis verstärkt sich der Druck in meinem Magen auf unangenehme Weise und mir wird mit einem Mal eiskalt.

Denn mit einem hat Ella recht, das weiß ich jetzt: Man sieht sich immer zweimal im Leben!



A/N: Gerade noch rechtzeitig vor den März-Themen, habe ich es geschafft, den letzten Schreibprompt aus dem Februar in die Handlung einzubauen („Der Protagonist und der Tiertrainer offenbaren sich gegenseitig ein Geheimnis" von Weltentaenzerin_2).

Das Zitat vom Anfang des Kapitels ist übrigens diesem Song entnommen:

https://youtu.be/Ph7-BeEQW4Y


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