1.4 ~ Mädelsabend

Ein Hühnchen zu rupfen, das sagt sich so leicht. 

In der Vorstellung ist das immer so einfach. Woran ich jedoch nicht gedacht habe, sind die Skrupel, die sich heimlich, still und leise in meine Gedanken geschlichen haben, während ich mit Packen beschäftigt war. Schließlich lassen sich so viele gemeinsame Jahre der Freundschaft nicht einfach so beiseite wischen. Schließlich waren wir so gut wie unzertrennlich, und doch scheint es tief in mir etwas zu geben, was mich genau diese lange Zeit in Frage stellen lässt, kommen doch diese seltsamen Träume wie der mit dem Zonk nicht von ungefähr.

Wäre alles in Butter, müsste ich jetzt nicht dieses chaotische Kopfkino erleben. Aber wenigstens kann ich noch froh sein, dass meine Hirnwindungen nicht ständig die gleiche Vorstellung im Abenteuerland geben, denn sonst hätte mich der Eintritt längst den Verstand gekostet. Um es, mit einem an meine Situation angepassten Zitat von Ellas Lieblingsband auszudrücken. Dabei hätte ich schwören können, dass ich diese Zeiten ein für alle Mal längst hinter mir gelassen habe. Seit dem Abi, um genau zu sein.

Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer sehe ich jene Wochen wieder vor mir, an deren Ende sich meine Neigung zum Aufschieben böse zu rächen drohte, weil ich um ein Haar das Mündliche vergeigt hätte. Und warum? Weil ich dumme Nuss ja unbedingt beweisen wollte, zu welchen Leistungen mein ach so tolles Kurzzeitgedächtnis fähig war ? Und dass ich deshalb den Sartre zwei Tage vor der Französischklausur im Rekordtempo inhalieren musste? Natürlich zu Lasten der anderen Prüfungsfächer.

Wirklich, einen solchen Marathon empfehle ich niemandem, auch nicht, wenn dieser durch von der besten Freundin spendierten Nervennahrung in Form von XXL-Tüten voller Donuts unterstützt wird. Aber bekanntlich ist Einbildung auch 'ne Bildung, sonst hätte mir der Schlafmangel nicht so zugesetzt und ich nicht geglaubt, dass der Käse mit dem Abschlusszeugnis restlos gegessen gewesen wäre. Wo andere erst mal loslassen und den Sommer in vollen Zügen genießen konnten, fing es bei mir mit den völlig wirren Träumen an.

Stellt euch vor, ihr müsst durch die immergleichen Gegenden irren und könnt den Rückweg nicht finden. Im Nachhinein wundere ich mich selbst, warum ich so lange gebraucht habe, um zu erkennen, dass mein übernächtigter Zustand daran schuld war. Im Grunde war es Ella, die mit einer trockenen Bemerkung das Fiasko in einem Satz zusammenfasste.

„Du siehst den Wald vor lauter Bäumen nicht."

Da kannte sie mich wohl besser als ich mich selbst, denn niemand sonst hätte mit wenigen Worten auf den Punkt bringen können, dass es der wochenlange Dauerstress war, der nun mit Verspätung seinen Tribut forderte.

Und jetzt soll das Ganze von vorne losgehen? Die Zeiten sind vorbei? Von wegen! Mir schwant, wo das Problem liegen könnte, doch es ist wie mit dem rosa Elefanten mitten im Raum, dessen Existenz alle leugnen, obwohl ihn niemand übersehen kann. Und mein rosa Elefant heißt Ella – okay, vielleicht ist der Vergleich unglücklich gewählt, aber mir fällt gerade kein besserer ein, wenn ich an ihre kryptischen Andeutungen über die Monate denke, in denen sie wie vom Erdboden verschluckt war. 

Ich möchte mal den sehen, der zur Tagesordnung übergeht, wenn die beste Freundin spurlos verschwindet und dann plötzlich und unverhofft wieder auftaucht. Wer braucht da nicht erst mal Zeit zum Verdauen des Schocks? Was es allerdings für mich nicht leichter machte, war Ella und ihr seltsames Verhalten danach. Sich über ihr Verschwinden auszuschweigen, ist eine Sache, auf einem anderen Blatt aber stand die ganze Arie an Lobliedern, die sie auf ihren Herzallerliebsten sang und ihn mir als ihren Verlobten präsentierte. Shane hier, Shane da...

Zugegeben, schlecht sieht dieser Shane nicht aus, aber wegen eines Typen Familie und Freunde von heute auf morgen zu ghosten? Das würde mir im Traum nicht einfallen. Zugegeben, es gibt bessere Wortspiele, aber wenn's doch nun mal so ist...

Jetzt sitze ich, nur mit dem Nötigsten für das vor mir liegende und vom Sender gesponserte Wochenende in meinem Rollköfferchen verstaut, ganz weit außen und mustere die anderen, mit denen ich mir die Limousine teile, durch die dunkelgrünen Gläser meiner Sonnenbrille. Ist hier etwa Weibsvolk anwesend, kommt mir unwillkürlich eine Szene aus meinem Lieblingsfilm in den Sinn, denn der einzige Mann in dieser Luxuskarosse ist unser Chauffeur. Insgesamt sind wir zu fünft.

In die weichen Sitze aus weißem Leder gekuschelt, lauschen die beiden anderen „Mädels", die links von mir sitzen, gespannt der Produktionsleiterin Margo, die sich von ihrer Assistentin Jennifer ein Klemmbrett reichen lässt.

„So, anscheinend sind wir nun vollständig. Dann kann's ja nun losgehen."

Tessa und Lara, meine Mitstreiterinnen in der Jubiläumsausgabe der beliebten Spiel- und Datingshow zur allerbesten Sendezeit, schauen genauso ratlos drein wie ich, denn natürlich hat keine von uns einen Plan, was uns erwartet. Ob sie sich genau wie ich fragen, wozu der ganze Aufwand mit dem Cadillac nötig ist, wenn es auch ein Kleinbus getan hätte? Die Antwort soll uns Margo nicht lange schuldig bleiben.

„Es geht zwar erst morgen zur Generalprobe, aber wir feiern am Samstag die fünfzigste Ausgabe mit ganz besonderen Stargästen. Da darf ein zünftiger Mädelsabend schließlich nicht fehlen."

Mädelsabend.

Ich habe es gewusst. Irgendwo gibt es immer einen Haken, und der hier triggert mich ganz gewaltig. In dem Versuch, da wieder anzuknüpfen, wo wir so plötzlich unterbrochen wurden, kam Ella mit der Idee zu einem Mädelsabend – ganz „wie früher" und „um der alten Zeiten willen".

Warum ich mich habe breitschlagen lassen, obwohl ich keinen Schimmer hatte, was ich davon halten sollte? 

Vielleicht habe ich gehofft, dass sie endlich die Maske fallenlassen und damit herausrücken würde, was sie so lange in Down Under getrieben hat. Vielleicht hat ja auch unser  Café den Ausschlag gegeben: die weißgestrichenen Stühle im Shabby Chic... das rote Plüschsofa im hinteren Teil der Mokkaschnitte... und natürlich die legendäre Mokkatorte... schon beim Eintreten und dem damit zusammenhängenden vertrauten Klang der über der Tür hängenden Glöckchen wusste ich, dass etwas in der Luft lag. Mit allem hätte ich gerechnet, nur nicht damit, dass Ella ihre Lobhudeleien auf ihren Herzallerliebsten zum Anlass nehmen würde, im Lauf des Abends mit mir „Stell dir vor" spielen zu wollen.

„Stell dir vor" um der alten Zeiten Willen spielen? Ernsthaft? Doch dann hatte ich eine Idee. Im Geiste die Hände reibend, legte ich mir meine hypothetische Frage zurecht, doch dann kam mir Ella leider zuvor.

„Stell dir vor", begann sie mit nachdenklichem Blick, „du hast die Wahl: 100,000,000 Euro oder die wahre Liebe?!"

A/N: So, da hätten wir nun auch den letzten der Januar-Schreibprompts, an denen ich mich festgebissen habe. Er stammt von -Silencia_ und lautet: "Du hast die Wahl: 100.000.000 Euro oder die wahre Liebe?! Schon nach wenigen Stunden bereust du deine Entscheidung" - und daher habe ich ihr auch dieses Kapitel gewidmet.

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