Kapitel 10

Mit dem Juni kamen auch mehr Gäste. Das Wetter war grandios, wir hatten im Schnitt siebenundzwanzig Grad, Sonne pur. Mein kleiner Durchhänger war überstanden. Ich hatte ein paar Tage daran geknabbert, aber es hatte mir gutgetan. Ich hatte Erik vielleicht ein wenig zu schnell zur Seite gelegt. Die letzten Tage hatte ich oft über uns nachgedacht und war schließlich zu dem Schluss gekommen, dass ich ihn nicht mehr zurück wollte, allerdings auch nicht so lässig von ihm weg konnte, nicht nur wegen unserem Kind, dem es übrigens blendend ging, laut dem Arzt. Ich war ehrlich mit meinen Gefühlen umgegangen und konnte nun zugeben, dass er mir fehlte oder zumindest der Teil von ihm, der nur mir gehört hatte. Eine neue Ruhe hatte mich erfasst. Diese übertriebene Euphorie der ersten Wochen war gewichen, doch die Unruhe und die nachdenkliche Stimmung der letzten Tage lagen nun ebenfalls hinter mir. Eine neue Lässigkeit breitete sich in mir aus. Und das war gut so, denn der Job wurde nicht nur täglich stressiger, sondern auch verrückter.
,,Sie! Sie, kommen Sie doch bitte mal her!" Ich war kurz vor Feierabend noch einmal in Haus 201 gewesen, um mal wieder dem Boiler einen Schlag zu verpassen. Es war noch nichts passiert. Er setzte immer noch hin und wieder aus, leider jedoch nicht oft genug, dass endlich mal ein Techniker bestellt wurde. Auf dem Rückweg hatte mich eine sehr aufgebracht wirkende Frau zu sich auf die kleine Holzterrasse gewunken. Es dämmerte, aber es war noch hell genug, um alles zu erkennen. Besonders ihren zusammengekniffenen Mund. Ich kannte sie bereits, sie war gleich am Anreisetag unangenehm aufgefallen. Eine halbe Stunde, nachdem sie mit Mann und zwei Kindern, beides Teenager, das Haus bezogen hatte, hatte sie mich zu sich bestellt. Sie hatte mit ausgestrecktem Finger auf die Wand im Wohnbereich gezeigt, auf der leider ein paar Kugelschreiberstriche waren. Ich musste es dokumentieren, verlangte sie, damit man ihr nicht später die Schuld daran gab. Und bitte auch die kleine Macke in der zweiten Schublade, und wo ich gerade hier war, die Dusche würde nur spärlich Wasser führen. Ich dokumentierte, beruhigte und gab zu, dass es wahrscheinlich bei dem geringen Wasserdruck bleiben würde, nun, da alle Häuser belegt waren und einfach Unmengen Wasser verbraucht wurden.
,,Was kann ich für Sie tun?" ,,Sehen Sie hin!" Ihr ausgestreckter Zeigefinger deutete auf das Haus gegenüber. Ich sah hin. ,,Ja?" ,,Warten Sie. Jetzt! Da!" Ich wusste sofort, was sie meinte. Gegenüber brannte Licht hinter einem der Fenster. Ich wusste, dass es die Toilette war. Und nun sah ich, wie sich ein Mann erhob. Offensichtlich hatte er gerade auf der Toilette gesessen. Und ja, ich sah zweifelsfrei, dass es ein Mann war, trotz der Milchglasscheiben. Er stand da und nun begann er, sich umständlich den Hintern zu wischen. Ich kicherte. ,,Finden Sie das lustig?" ,,Nein." Ich biss mir auf die Unterlippe und schloss kurz die Augen, um mich besser konzentrieren zu können. ,,Immer macht er das. Wir sitzen hier beim Essen und er macht das. Meine Kinder sehen das." Sie schnaubte. ,,Haben Sie mit ihm gesprochen?" ,,Ich?" Die Empörung war aus jedem Wort zu hören. ,,Das ist doch nicht meine Aufgabe." Ich ahnte es. Meine war es ganz sicher auch nicht, aber genau darauf würde es hinauslaufen. ,,Kümmern Sie sich darum. Das ist eine Zumutung." Bei jedem anderen hätte ich gesagt, dass das nicht zu meinen Pflichten gehörte. Doch ich wusste, dass es mir bei ihr nichts bringen würde. ,,Und wenn Sie einfach wegsehen? Oder darüber, hm, lachen?" ,,Nein." Sie bebte richtig. Gleich würde sie abheben. Und mir danach das Leben schwer machen. ,,Ich werde mal mit dem Herrn sprechen." ,,Jetzt. Nicht mal, jetzt!"
Wenn man mit Menschen zu tun hat, die immerzu mit Ausrufezeichen sprechen, hat man keine Chance, das war eine der ersten Lektionen im Hotelgewerbe gewesen. Drüben wurde das Licht gelöscht, kurz danach ging das auf der Veranda an. Ich nickte knapp und machte mich auf den Weg. ,,Hallo." Der Mann war Mitte 50, schätzte ich. Im Haus rumorte es, wahrscheinlich seine Frau. Er hatte einen Teller in der Hand, auf dem Muffins waren und den er umständlich abstellte. ,,Hallo." Ich lächelte und versuchte, entspannt zu wirken. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sich drüben etwas regte. Ich wurde überwacht, ganz offensichtlich. ,,Ich wollte nur nachfragen, ob alles in Ordnung ist bei Ihnen?" ,,Klar. Alles bestens. Wollen Sie eines?" Er nahm ein Törtchen und hielt es mir entgegen. Ich dachte an die Szene, die ich gerade beobachtet hatte und dass er ziemlich schnell hier draußen gewesen war. In der Toilette gab es kein Waschbecken, dazu müsste er erst ins Bad auf der anderen Seite des Containers. Ich schüttelte entschieden den Kopf. ,,Na, Sie können sich das doch leisten!" Er wedelte auffordernd mit dem Gebäckstück. ,,Das ist nett, aber nein. Ich wollte, wie gesagt, auch nur fragen ..." Er hatte das Muffin zurückgestellt und leckte nun genüsslich einen Krümel von seinen Fingern. Ich wich ein wenig zurück. ,,Nun, dann ist ja alles gut. Einen schönen Abend noch." Ich war schon halb die Stufen hinunter, als ich sah, wie meine Auftraggeberin hinter dem Verandageländer kauerte und herüberspähte. Blöde Kuh, dachte ich und drehte mich noch einmal um. ,,Übrigens", ich verschärfte mein Lächeln, um ihm und vor allem mir das Unbehagen zu nehmen. ,,Ich würde noch gerne auf etwas hinweisen. Die Fenster hier sind alle nicht wirklich blickdicht. Es kommt immer wieder vor, dass wir darauf angesprochen werden. Es wäre also eine Überlegung, einfach die Sonnenschutzrollos auch abends unten zu lassen." ,,Das stört mich nicht." Der Typ lachte. Dann sah er kurz nach drüben. Immer noch kauerte die Frau total unauffällig hinter dem Geländer. ,,Sieht doch jeder gleich aus, oder? Und wen es stört, der soll halt wegsehen." Ich nickte. Was sollte ich auch sagen? Ja, jeder sieht ähnlich aus, doch deine spezielle Technik ist einfach zu sonderbar? Niemand will das so genau sehen? ,,Das war's schon. Ich muss weiter. Schönen Abend." Ich hatte kein besonders schlechtes Gewissen, als ich schnell davoneilte. Ich spürte die Blicke in meinem Rücken, spöttische des Herrn und misstrauische der Dame gegenüber. Ich hatte den Auftrag aufgeführt, immerhin. Aber ich wusste instinktiv, dass sich nichts ändern würde. Er hatte nicht einen Moment peinlich berührt gewirkt, wie ich das erwartet hätte, sondern fast so eine Art Freude darüber empfunden. Menschen gibt’s, dachte ich. Die beiden würden noch eine Woche miteinander auskommen müssen und ich nahm mir fest vor, einen großen Bogen um beide zu machen.

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