8. Kapitel

Bereits das dritte Mal innerhalb von wenigen Tagen betrat ich das Polizeirevier auf der East Side, jedoch mit einem gänzlich anderen Gefühl in meinem Inneren. Statt der nagenden Unsicherheit und der Angst vor den Dingen, mit denen sie mich konfrontieren konnten, fühlte ich mich mutig und stark – sie sollten Angst vor den Dingen haben, mit denen ich sie konfrontieren konnte.

Nicht nur der Presseausweis, der an einem schwarzen Band um meinen Hals baumelte, verlieh mir dieses neuartige Gefühl. Es war auch das Wissen, dass ich endlich aktiv werden konnte und einen einflussreichen, mächtigen Mann wie Chad hinter mir hatte. Ich fühlte mich, als könnte ich etwas verändern. Zumindest konnte ich dafür sorgen, dass Alejandra Gonzalez Gerechtigkeit widerfahren würde in einem Land, das eigentlich für die Gerechtigkeit aller einstehen sollte, aber immer wieder das Gegenteil bewies.

Schnell schüttelte ich leicht meinen Kopf, um mein Gedankenkarussell zu stoppen. Das war nicht der Moment, um über Dinge nachzudenken, die ich allein nicht verändern konnte. Schon während der Collegezeit hatte Hayden mir stetig gepredigt, dass die Welt nicht erlöst werden konnte, außer natürlich von Superman, und, dass ich dies nicht zu meiner Aufgabe machen sollte. Ich sollte mich auf Individuen beschränken, die tatsächlich Erlösung brauchten – und genau das würde ich nun tun.

Mein Arbeitstag hatte sich hingezogen wie ein Kaugummi und ich hatte ohnehin nur einen Artikel zustande gebracht, warum Grün die neue Trendfarbe des Winters war und welche Prominenten diesem Trend schon folgten. Meine Gedanken waren während des Verfassens nur darum gekreist, wie ich dieses Gespräch gestalten wollte und welche Informationen ich daraus ziehen musste, um weiterzukommen. Man konnte also sagen, dass ich perfekt vorbereitet war.

Ein leichtes Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, als ich an dem Tresen ankam und die Frau dahinter höflich begrüßte. Fast schon in Zeitlupe hob sie ihren Kopf und ich erkannte, dass es dieselbe Frau war, die auch schon bei meinem ersten Besuch am Empfang gesessen hatte.

„Die neue Haarfarbe steht Ihnen", lobte ich die mittelalte Frau, die sich daraufhin mit einer Hand durch die nunmehr braunen Haare fuhr und mir tatsächlich ein aufrichtiges, freundliches Lächeln zuwarf. Eigentlich war ich kein Mensch, der den Leuten gern Honig um den Mund schmierte, doch in einigen Situationen kam man damit erstaunlich weit.

„Vielen Dank! Was kann ich für Sie tun?" Ich war nicht erstaunt, dass ihr Auftreten nun tatsächlich viel netter war, als ich es in Erinnerung hatte.

„Ich bin noch einmal wegen des Mordes an Alejandra Gonzalez da, dieses Mal allerdings aus beruflichen Gründen." Nachdem ich die Worte ausgesprochen hatte, nahm ich das Band mit dem Presseausweis ab und schob ihn über den Tresen. Während sie ihn ansah, fuhr ich fort.

„Ist Detective Collins eventuell zu sprechen? Es geht auch ganz schnell, ich habe nur ein paar kurze Fragen." Mit einem knappen Nicken schob sie mir den Ausweis wieder zurück, den ich mir sofort wieder umlegte.

„Ich schaue, was ich tun kann. Einen Moment bitte, Miss Dubois."

Nur wenige Minuten später saß ich mit einer dampfenden Tasse Tee vor mir an einem Glastisch, der nahezu den gesamten Raum, in dem ich mich befand, einnahm. Der Boden war aus weiß-meliertem Marmor, während alle Wände aus Glas bestanden, wobei diese natürlich mit einer Milchglasfolie versehen waren, um vor neugierigen Blicken zu schützen. Lediglich durch die Fensterfront, die nahezu so beeindruckend wie die in Chads Büro war, konnte ich Außeneinflüsse aufsaugen. Ich beobachtete den Strom an Autos, die vielen Menschen, die stets auf die nächsten Grünphasen  warteten und das Bürogebäude gegenüber, wo in immer mehr Büros das Licht ausgeschaltet wurde.

Obwohl die Sonne bereits untergangen war, war es dank der vielen Laternen taghell draußen. Ich konnte nicht verhindern, darüber nachzudenken, was wohl in einem so gut beleuchteten Industriegebiet passiert wäre. Das Licht ließ die Menschen vorsichtiger werden; rief ihnen ins Bewusstsein, dass jederzeit irgendwer jede einzelne Bewegung beobachten konnte. Ob Alejandra Gonzalez dann noch am Leben wäre? Ich nahm mir vor, später einen Beschwerdebrief an den Bürgermeister der Stadt zu schreiben.

„Miss Dubois." Hastig wandte ich meinen Blick von der pulsierenden Innenstadt ab und sah zu der Person, zu der die tiefe, beruhigende Stimme gehörte. Definitiv nicht Detective Collins. Fast hätte ein entrüstetes Schnauben meinen Mund verlassen, doch in der letzten Sekunde beherrschte ich mich. Schließlich wollte ich dem Pressesprecher, zumindest vermutete ich, dass er das war, nicht gleich vor den Kopf stoßen. Mit Freundlichkeit kam man im Endeffekt immer weiter, als mit einem aufbrausenden Auftreten.

Kurz musterte ich den Mann, der die Glastür leise hinter sich zuzog. Sein dunkelblauer Anzug war erkenntlich maßgeschneidert und seine braunen Locken saßen perfekt. Auf seiner Nase thronte eine Brille mit einer Größe, die sogar Clark Kent stolz gemacht hätte. Ob Hayden ihn schon kennengerlernt hatte? An mehr konnte ich nicht denken, während meine Augen über seine kantigen Gesichtszüge glitten.

„Mein Name ist Jonathan Blake. Ich bin der Pressesprecher dieses Reviers." Während ich mich beherrschen musste, um nicht laut aufzulachen, stand ich auf und ergriff seine Hand für einen kurzen Augenblick. Er hieß auch noch wie der Vater von Clark Kent – Wenn ich das meiner besten Freundin, der ich all das Wissen zu verdanken hatte, erzählte...

„Sophia Dubois. Aber das wissen Sie offensichtlich schon."

Noch während ich sprach, nahm ich wieder auf dem gepolsterten Stuhl Platz. Der Pressesprecher setzte sich gegenüber von mir hin und entblößte mit einem strahlenden Lächeln seine perfekten Zähne. Dieses Mal schnaubte ich tatsächlich auf – natürlich hatte das skandalumwobene Polizeirevier einen Pressesprecher, der aussah, wie ein junger Gott.

„Was kann ich für Sie tun, Sophia?" Ich schob endgültig all meine Gedanken an Hayden beiseite und lenkte meine Konzentration zurück auf meine eigentliche Mission.

„Ich nehme an, man hat Ihnen schon gesagt, warum ich mit Ihnen sprechen will." Er nickte bestätigend und lehnte sich ein wenig in seinem Stuhl zurück, während ich meinen Rücken durchstreckte und somit kerzengerade saß. Es gab mir ein Gefühl der Stärke. Vielleicht war Jonathan Blake gut. Ich war besser.

„Sie wissen, dass Sie eine Verdächtige sind, oder? Ich bin nicht befugt, Ihnen Informationen zu geben, durch die Sie Ihre Spuren verwischen können." Nur durch eiserne Selbstdisziplin, die mir vor wenigen Augenblicken schon einmal gefehlt hatte, gelang es mir, nicht die Augen zu verdrehen. Im Gegenteil: Ich setzte das freundlichste Lächeln auf, das ich angesichts der Situation zu Stande bringen konnte.

„Detective Collins erwähnte, dass auf der Kleidung von Alejandra Gonzalez Sperma gefunden wurde. Mit der offenbar erfolgten Analyse der Flüssigkeit bin ich also entlastet und somit nur eine Journalistin, die zum Allgemeinwohl Informationen über den Sachstand haben möchte. Wo ist Detective Collins eigentlich?" Ich stellte die Frage, die mir so brennend auf der Zunge lag, so beiläufig wie möglich und hoffte weiterhin, er würde mir ebenfalls noch mehr zu dem gefundenen Sperma erzählen. Auch, wenn ich dies eigentlich am wenigsten wissen wollte. Ob Alejandra vor ihrem Tod, oder möglicherweise sogar danach, vergewaltigt wurde?

Eine Gänsehaut zog sich über meinen Körper und Übelkeit stieg in mir auf. Normalerweise hatte ich mit übel zugerichteten Leichen kein Problem – solange ich nicht direkt über sie fiel –, aber bei sexueller Gewalt hörte es bei mir auf. Damit Jonathan Blake nichts davon mitbekam, zog ich mir die Ärmel meiner zuvor hochgekrempelten Bluse wieder herunter und ich versuchte beinah krampfhaft, an etwas anderes zu denken.

Das wissende, zugegebenermaßen umwerfende Lächeln meines Gegners holte mich mit einem Schlag vollständig zurück in diese Situation. Offensichtlich war er nicht so dumm, wie ich es mir erhofft hatte. Oder ich war nicht so schlau.

„Ich erzähle Ihnen bestimmt nichts über die Analyse. Aber mir ist es tatsächlich erlaubt, mit Ihnen über Detective Collins zu reden. Es ist leider so, dass er viele Fälle hat, die aufgrund des Tathergangs Priorität genießen. Dort erachten wir die Verdächtigen als weitaus gefährlicher. Daher hat er den Fall abgegeben und wir wählen momentan aus, bei wem der Fall die verdiente, ungeteilte Aufmerksamkeit bekommt."

Bei seinen Worten spürte ich lodernde Wut in mir aufkommen. Wie konnten sie den Täter als nicht gefährlich einstufen?

„Diese Worte können Sie nur mit Ihrem Gewissen vereinbaren, weil Sie die Leiche nicht gesehen haben. Wenn Sie die unzähligen Einstichstellen gesehen hätten, würden Sie das nicht sagen. Der Täter ist ein Monster." Die Worte verließen meinen Mund, bevor ich darüber nachgedacht hatte. Ich hatte mich, wieder einmal, von meinen Gefühlen übermannen lassen. Was war bloß los mit mir? Durch die Offenbarung meiner Schwäche hatte ich diese Runde des Kampfes verloren.

Ehe ich den Versuch unternehmen konnte, meine unüberlegten Worte durch irgendetwas auszugleichen, blickte ich in die stechend grünen Augen des Pressesprechers und hielt augenblicklich inne. Zu meiner Überraschung spiegelte sich ein Mitgefühl in ihnen, das ich nicht erwartet hätte.

„Ich kann und werde Ihnen nichts über den Fall und den Stand der Ermittlungen sagen. Aber ich weiß, über welche Verkehrskamera man den Bereich des Straßenstrichs einsehen kann." Am liebsten wäre ich dem Mann um den Hals gefallen, doch stattdessen schrieb ich mir nur die Bezeichnung der Kamera, die er aus der Akte in seiner Hand ablas, eifrig auf.

Offenbar würde mich mein nächster Weg zur Stadtverwaltung führen.

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