5. Kapitel

Nervös klopfte ich mit meinen Fingern auf der kühlen, metallenen Oberfläche des Tisches, während mein Blick starr auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand gerichtet war. Es war bereits 7:30 Uhr – und Detective Manson war noch immer nicht aufgetaucht. Ich würde definitiv zu spät zur Arbeit kommen, doch das war nicht einmal der Hauptgrund für meine Anspannung. Ich wollte einfach nur, dass all dies endlich vorbei war.

Den ganzen gestrigen Tag hatte ich damit verbracht, über diese Frau nachzudenken. Ihr grauenvoller Anblick verfolgte mich; jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, und wenn es nur zum Blinzeln war, sah ich ihren zerstochenen Oberkörper vor mir. Vielleicht würde es aufhören, mich zu verfolgen, wenn ich dem Detective alles sagte, was ich wusste. Wenn ich die Verantwortung der Gerechtigkeit, die sie so sehr verdiente, an jemanden abgeben konnte. Ich schämte mich für diese egoistischen Gedanken, dennoch kehrten sie immer wieder zurück in mein Bewusstsein.

Im nächsten Moment riss mich das Knarzen der metallenen Tür aus meinen Bedenken. Schnell richtete ich meinen Blick aufmerksam auf den älteren Mann, der gemütlich in den Verhörraum schlenderte. Sein Hemd steckte zerknittert in seiner Jeans, die dem schlaksigen, glatzköpfigen Mann bestimmt zwei Nummern zu groß sein musste. Außerdem konnte ich an seiner dunkelblauen Krawatte einen längst getrockneten Kaffeefleck entdecken und fragte mich augenblicklich, ob dieser wohl für seine Verspätung verantwortlich war. Allerdings verwarf ich diesen Gedanken ebenso schnell. Detective Manson wirkte nicht wie jemand, den es sonderlich interessierte, ob da nun ein Fleck auf seiner Krawatte war. Er hatte also mit Sicherheit nicht versucht, ihn wegzuwischen.

Der Detective schloss die Tür zu dem Raum wieder und sofort schlug mir der ekelerregende Geruch von kaltem, abgestandenem Rauch in die Nase. Vermutlich war das eher der Grund für seine Verspätung.

„Ich bin Detective Collins und seit neustem zuständig für diesen Fall", erklärte er mir ohne eine Begrüßung, ehe er sich auf dem Holzstuhl gegenüber von mir niederließ. Verwundert zog ich meine Augenbrauen zusammen, während meine Gedanken rasten. Warum war Detective Manson nicht mehr zuständig?

„Was ist mit Detective Manson?", stellte ich meine Frage direkt. Mein Gegenüber spannte seinen Kiefer kurz an und ballte seine Hand, die vor ihm auf dem Tisch lag, zur Faust. Dann musterte er mich mit seinen grauen Augen, unter denen tiefe Augenringe erkennbar waren.

„Der Sack hat offenbar zu viel zu tun. Wie jeder hier." Seine Wortwahl überraschte mich, nicht jedoch die Aussage dahinter. Es war allgemein bekannt, dass die Unterbesetzung der Polizei einer der vielen Gründe dafür war, warum Detroit statistisch gesehen die gefährlichste Stadt in ganz Amerika war.

Als ich meiner Mutter damals erzählt hatte, in Detroit studieren zu wollen, hätte sie mich am liebsten zu Hause eingesperrt. Schließlich ließ sie mich jedoch mit dem Versprechen, einen Selbstverteidigungskurs zu machen und stets Pfefferspray bei mir zu tragen, gehen. Tatsächlich trug ich das Pfefferspray immer mit mir herum und nachdem es in meinem zweiten Jahr an der Wayne State University zu einer Gruppenvergewaltigung auf dem Campus gekommen war, hatte ich sogar einen Selbstverteidigungskurs belegt. Ich fühlte mich perfekt auf das Leben hier vorbereitet, so als wäre ich unbesiegbar. Doch seit ich diese Frau gefunden hatte, ahnte ich, dass das ein Irrtum war.

Detective Collins räusperte sich, womit er mich gedanklich wieder zurück in diesen Raum holte. Meine volle Aufmerksamkeit lag nun wieder auf dem Grauäugigen, der mich vollständig desinteressiert ansah.

„Ich muss Sie darüber informieren, dass dieses Gespräch aufgezeichnet wird." Mit einem Kopfnicken deutete er auf die Kamera, die von der Decke herunterhing und direkt auf mich ausgerichtet war. Ich hatte sie schon beim Betreten des Raumes entdeckt, dennoch sah ich sie mir noch einmal an. Im Gegensatz zu vorhin leuchtete nun ein roter Punkt auf der Kamera, was mich schlucken ließ.

Auch wenn ich nicht so introvertiert wie Hayden war, fühlte ich mich hinter den Kulissen deutlich wohler.

„Miss Dubois, was haben Sie in dieser Nacht in einer solchen Gegend gemacht? Sie wollten es sich wohl kaum von einer Nutte besorgen lassen, oder?" Sein Gesicht war so ausdrucklos wie vorher, trotz seiner abfälligen Frage, die mich abermals ziemlich überraschte. Während mein Puls sich beschleunigte, versuchte ich irgendeine menschliche Regung in seinen Gesichtszügen zu entdecken. Vergebens.

„Ich war da", begann ich, während ich versuchte, meine langsam auflodernde Wut im Keim zu ersticken, „um an Informationen über die illegalen Geschäfte im Zusammenhang mit der Prostitution zu kommen." Der Detective lachte kurz auf und jagte damit eine vom Ekel hervorgerufene Gänsehaut über meinen gesamten Körper.

„Wieso? Sind Sie sowas wie die selbstauserkorene Retterin der Frauen und Unterdrückten? Wollen Sie Sheriff spielen?" – „Nein. Ich bin Journalistin und bin auf der Suche nach einer Geschichte, die ich bei der Criminal einreichen kann. Ich träume seit meinem 13. Lebensjahr davon, bei dieser Zeitung zu arbeiten", erklärte ich ehrlich.

Mit einem Grinsen lehnte sich der Detective auf dem Stuhl zurück, ohne dabei seinen Blick von mir zu nehmen. „Dann ist es ja ein besonders schöner Zufall, dass sie direkt über eine Leiche gestolpert sind." Die Richtung, in die das Gespräch verlief, ließ eine säuerliche Übelkeit in mir aufsteigen. Das nannte er einen besonders schönen Zufall?

„Ich würde nicht-", fing ich an, wurde jedoch im nächsten Moment unterbrochen.

„Man hat Ihren blutverschmierten Mantel neben ihr gefunden. Das Sperma, das auf den Klamotten sichergestellt wurde, entlastet Sie momentan. Aber meiner Meinung nach ist Sperma auf den Klamotten einer Nutte nicht selten. Sind Sie die Mörderin, Sophia?"

Für eine Sekunde verkrampfte sich alles in mir und ich spürte, wie kalter Schweiß über meine Stirn lief. War ich wirklich eine Verdächtige? Allerdings war es nicht einmal das, was mich am meisten schockierte. Es war die Art, wie abfällig und verachtend er über diese tote Frau sprach und langsam wurde mir bewusst, dass ihr hier vielleicht doch nicht die Gerechtigkeit zuteilwurde, die jedes lebende Wesen auf diesem Planeten verdiente.

„Natürlich habe ich sie nicht umgebracht", antwortete ich mit entrüsteter Stimme, was sein Grinsen noch breiter werden ließ.

„Okay. Sie dürfen gehen." Perplex öffnete ich meinen Mund, um etwas zu sagen, doch mein Kopf war wie leergefegt. Der Glatzköpfige erhob sich von seinem Stuhl und machte eine auffordernde Handbewegung in Richtung der Tür. Ich erhob mich ebenfalls, als endlich Wortfetzen in meinen Gedanken auftauchten.

„Sie haben mich noch nicht einmal gefragt, ob ich etwas gesehen habe." Detective Collins, der seine Hand bereits auf die Türklinge gelegt hatte, stoppte in seiner Bewegung und sah mich an.

„Haben Sie denn etwas gesehen?" – „Nein", erwiderte ich kleinlaut.

„Dann können Sie mir nichts sagen, was von Bedeutung wäre. Sie müssen verstehen, dass wir hier einen sehr engen Terminkalender haben und es gibt nun einmal wichtigere Fälle als der einer Hure, die noch nicht einmal als vermisst gemeldet wurde." Damit verließ er den Raum und ließ die Tür offen, um mir zu signalisieren, dass auch ich gehen sollte. Jedoch blieb ich wie angewurzelt stehen. Was stimmte mit diesem Detective nicht?

Meine anfängliche Hoffnung, das Gewicht des Schicksals der Toten nicht mehr auf meinen Schultern tragen zu müssen, hatte sich vollends in Luft aufgelöst. Momentan kam es mir so vor, als wäre ich die Einzige, der es überhaupt wichtig war, was mit ihr geschehen war, welches Monster das angerichtet hatte. Irgendwas musste ich für sie tun.

„Miss Dubois, Sie müssen den Raum nun verlassen." Die unfreundliche Frau, die gestern bereits hinter dem Tresen gesessen hatte, stand mit einem Mal vor mir. Ihre ergrauten Haare hatte sie heute zusammengebunden und ihr Mund war zu einem grimmigen Strich verzogen.

„Tut mir leid", murmelte ich bloß, ehe ich wie ferngesteuert aus dem Verhörraum stolperte.

Da meine Zeugenaussage schneller gegangen war, als ich erwartet hatte, betrat ich das Büro der VIP News noch pünktlich. Mit eiligen Schritten steuerte ich direkt auf meinen Schreibtisch in dem Großraumbüro zu, um meine Sachen abzulegen.

„Guten Morgen, wie war dein Wochenende?" Wie ein Geier stürzte sich Theresa, meine Kollegin mit dem Schreibtisch neben meinem, auf mich. Sie liebte Klatsch und Tratsch; ob es nun um Prominente oder um das Leben ihrer Kollegen ging, war dabei völlig unerheblich. Normalerweise gab ich der Rothaarigen kurze, freundliche Antworten, doch heute fehlte mir dazu die Zeit.

Ich hing meinen Mantel über meinen Bürostuhl, stellte meine Tasche unter dem Tisch ab und lief dann ohne ein weiteres Wort zu meiner Kollegin zu dem mit Glaswänden abgeschirmten Büro von Chad. Ohne zu klopfen, trat ich ein und spürte sofort seinen sorgenvollen Blick auf mir. Vermutlich ahnte er bereits, dass etwas nicht stimmte. Es war nämlich nicht meine Art, einfach frühmorgens in sein Büro zu stürmen.

„Dir auch einen guten Morgen, Sophia. Setz dich doch erst einmal." Er deutete auf den gepolsterten Ledersessel, der vor dem Schreibtisch stand.

Schnell ging ich zu dem Stuhl und ließ mich darauf nieder. Kurz fiel mein Blick auf das Bild, das auf seinem Schreibtisch stand: Chad, der mit seinem Ehemann in die Kamera lächelte. Um sie herum saßen die sechs Hunde der beiden, die allesamt nach Herr der Ringe Charaktern benannt waren. Es vermittelte mir ein Gefühl von Frieden und Normalität, sodass ich spürte, wie es mir langsam gelang, richtig durchzuatmen. Das erste Mal, seit ich die Polizeistation verlassen hatte.

„So, was ist los?" In seiner Stimme lag eine Wärme, die im nächsten Moment meinen Körper durchflutete. Ebendiese Wärme brachte mich schließlich dazu, ihn von all den Geschehnissen des vergangenen Wochenendes zu erzählen. Ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen, hörte er mir zu. Mit jedem Wort, das ich sagte, verkrampfte sich seine lockere Körperhaltung mehr.

Chad wollte der Menschheit nicht nur helfen; er wollte sie verdammt noch einmal retten.

Und vielleicht war er genau derjenige, den ich brauchte, um etwas zu bewirken.

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