4. Kapitel
Kalter Regen prasselte erbarmungslos auf mich herunter und legte sich wie eine zweite Haut auf meine nackten Arme. Die Dunkelheit um mich herum war undurchdringlich; ich konnte nicht einmal meine zitternden Hände, die ich direkt vor mein Gesicht hielt, erkennen. Ich stolperte einige weitere Schritte nach vorn und mit einem Mal war die Dunkelheit verschwunden. Ganz deutlich erkannte ich nun das rote Blut der toten Frau, das sich unlängst mit den Pfützen auf dem Boden vermischt hatte. Die Frau selbst wirkte seltsam farblos, fast wie in einem alten Schwarz-Weiß-Film.
Obwohl alles in mir sich dagegen sträubte, ging ich weiter auf den leblosen Körper zu. Zu meinen Füßen hatte sich ein reißender Fluss aus Blut gebildet, der stetig drohte, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dennoch schaffte ich es, die Frau zu erreichen. Mit einem flauen Gefühl im Magen betrachtete ich das Gesicht der Frau, das zu einer angsterfüllten Fratze verzogen war. Ihre dunkle Schminke auf dem bleichen Gesicht war verlaufen und das dunkle Haar haftete durchnässt an ihrem Körper. Es verlieh ihrem Aussehen etwas geisterhaftes.
Langsam beugte ich mich über die Frau, musterte die tiefen, unzähligen Einstichstellen, die ihren Oberkörper zierten. Ihre letzten Sekunden auf dieser Erde mussten grauenvoll gewesen sein. Ich näherte mich ihrem Gesicht ein weiteres Stück, sodass meine Nasenspitze beinah die ihre berührte, als sie mit einem Mal ihre Augen öffnete. Sie waren blutrot.
„Sophia!"
Schweißgebadet schreckte ich hoch und sah direkt in Haydens dunkle Augen, die mich besorgt ansahen. Hastig setzte ich mich auf, während mein schnellschlagendes Herz sich anfühlte, als würde es jede Sekunde aus meiner Brust springen.
„Es ist alles gut, Sophia", redete Hayden mit beruhigender Stimme auf mich ein und fuhr mir mit ihrer Hand durch meine tiefschwarzen Haare, die an meiner Haut klebten. „Das war bloß ein Alptraum, was völlig normal ist. Du bist in deiner Wohnung. Alles ist gut. Atme."
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte. Geräuschvoll stieß ich diese aus, während mein Blick durch den Raum um mich herum glitt. Alles in diesem Zimmer wirkte so vertraut: Die dunkelgrünen Vorhänge, die die Sonne selbst im Hochsommer abschirmten, der riesige Kleiderschrak aus dunklem Ebenholz und die sternenförmige Lampe an der Decke. Ich befand mich in meinem Schlafzimmer und nicht mehr in der dunklen Gasse.
Langsam beruhigte mein Herzschlag sich und ich spürte, dass sich meine Lungen wieder viel leichter mit Luft füllten. Auch das Zittern meiner Hände, das ich kaum wahrgenommen hatte, nahm ab.
„Wie spät ist es?", fragte ich meine beste Freundin, die nun vom Bett aufstand und die Vorhänge aufzog. Sofort fluteten die Sonnenstrahlen das Zimmer und vertrieben damit die Kälte, die ich in meinem Inneren fühlte.
„Gleich ist es zwei Uhr. Der Detective erwartet dich also demnächst." - „Und erwartet dich keiner?", hakte ich nach. Anders als ich hatte Hayden kein Wochenende, sondern zwischendurch einige freie Tage.
„Doch, aber ich konnte zum Glück spontan die Spätschicht übernehmen. Ich muss also erst in einer Stunde auf dem Revier sein." Wie selbstverständlich, öffnete die Dunkelhaarige meinen Kleiderschrank und zog eine rote Bluse sowie eine schwarze Stoffhose heraus, die sie mir im Anschluss zuwarf.
„Du solltest also nicht trödeln, wenn wir dein Auto vorher abholen wollen." Sie schloss meinen Kleiderschrank wieder, ehe sie mir ein Lächeln zuwarf.
„Ich mach uns noch schnell etwas zu Essen." Sie ging auf die Schlafzimmertür zu und legte gerade ihre Hand an die silberne Klinke, jedoch hielt ich sie in letzter Sekunde auf.
„Hayden?" Mit einem fragenden Ausdruck drehte sie sich um und musterte mich mit zusammengekniffenen Augenbrauen.
„Du bist die Beste." Ein verschmitztes Grinsen schlich sich auf ihr Gesicht und mit einer eleganten Handbewegung warf sie sich ihre braunen Locken über die Schulter.
„Das weiß ich doch." Damit verließ sie das Zimmer und nicht zum ersten Mal dankte ich einer höheren Macht dafür, dass Hayden in mein Leben getreten war. Nur sie konnte es schaffen, mir nach solch einem Erlebnis das Gefühl von Normalität zu vermitteln.
Unsicher stand ich mit abgeschaltetem Motor in dem Parkhaus des Polizeireviers auf der East Side und trommelte mit meinen Fingern auf dem Lenkrad herum. Dank der Helligkeit hatten wir Gregor, mein Auto, schneller gefunden, als ich gehofft hatte. Für Hayden war es gut, denn ihr war es so gelungen, noch pünktlich zu ihrer Schicht zu erscheinen. Doch ich war noch nicht bereit, dem Detective gegenüberzutreten und mich mit Dingen konfrontieren zu lassen, die das Bild der Frau wieder vor meinem inneren Augen entstehen ließen. Aber irgendwann musste ich es tun.
Um noch ein wenig Zeit zu schinden, griff ich nach der Papiertüte auf dem Beifahrersitz und packte das Sandwich aus, das Hayden zu Hause geschmiert hatte. Eigentlich verspürte ich nach wie vor keinen Hunger, jedoch musste ich irgendwann etwas essen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Ich biss in das Sandwich hinein und spürte sofort eine unfassbare Übelkeit in mir aufkommen, sodass ich es schnell zurück in die Tüte stopfte, die anschließend wieder auf dem Sitz landete.
Es brachte alles nichts.
Ich atmete einmal tief durch, ehe ich die Autotür öffnete. Hastig stieg ich aus, verriegelte Gregor und schritt zu der Tür, die in das Treppenhaus des Reviers führte. Ab und zu hatte ich Hayden von der Arbeit abgeholt, doch hatte ich das Revier dafür niemals betreten. Daher blieb ich vor dem Fahrstuhl erst einmal stehen und musterte die Informationstafel. Offenbar gab es hier vier verschiedene Ebenen und ich entschied mich dafür, zunächst ins Erdgeschoss zu fahren, das als Empfang und Verhörräume betitelt war.
Mit einem weiteren tiefen Atemzug betätigte ich den Knopf. Zu meiner Überraschung schien der Aufzug nur darauf gewartet zu haben, denn wenige Sekunden später öffnete sich die Tür vor mir. Ich trat ein, drückte den Knopf für das Erdgeschoss und versuchte, die nervtötende Musik auszublenden. Mit einem Ruckeln, das in mir nicht gerade Vertrauen erweckte, setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Zeitgleich stieg in meinem Inneren die Nervosität. Als Journalistin stellte ich ständig irgendwem Fragen, doch ich mochte es nicht, wenn man mir Fragen stellte. Besonders, wenn ich auf diese keine Antworten hatte.
Mit einem Pling öffnete sich die stählerne Tür wieder und ich reckte mein Kinn. Unmittelbar fühlte ich mich sicherer. Sodann trat ich heraus und ging mit großen Schritten auf einen Tresen zu, der relativ mittig im Raum stand. Die Frau dahinter beobachtete jede meiner Bewegungen und musterte mich eingehend, ehe sie sich ein Lächeln abrang, das nicht freundlich wirkte. Es waren nicht allzu viele Leute hier und auch stand niemand an dem Tresen, sodass ich vermutete, sie gerade aus einer Pause gerissen zu haben.
Ich stellte mich direkt vor sie und schenkte ihr ein höfliches Lächeln, das vermutlich ebenso unecht wirkte, wie das ihre. „Guten Tag, was kann ich für Sie tun?", fragte sie fast schon gelangweilt nach und richtete ihren Blick von mir ab und auf ihren Bildschirm.
„Ich bin Sophia Dubois. Ich habe in der vergangenen Nacht eine Leiche gefunden und soll nun eine Aussage machen", erklärte ich sachlich. Die Empfangsdame nickte daraufhin und tippte etwas in ihrem Computer ein.
Ich konnte das. Ich wollte diese Aussage nun dringender als vorher machen. Nur so konnte ich der Frau helfen, Gerechtigkeit zu erfahren. Es war meine Pflicht.
Mit diesen Gedanken gelang es mir endlich, meine Nervosität vollends loszuwerden. Ich war bereit.
„Haben Sie Ihren Ausweis dabei?", fragte sie im nächsten Moment und ich fischte meine Geldbörse aus den Tiefen meiner Jackentasche. Schnell zog ich meinen Ausweis heraus und schob ihn der mittelalten Frau zu, dessen blonden Haare langsam ergrauten. Sie griff danach, bevor im nächsten Moment ein kritischer Ausdruck auf ihr Gesicht trat. Mit den Fingern fuhr sie über das eingeprägte Wappen, dann sah sie wieder zu mir.
„Sie sind Ausländerin?" - „Ich komme von der anderen Seite des Flusses. Wollen Sie auch meine Aufenthaltsgenehmigung?"
Tatsächlich war mir dies bei Behördengängen schon öfters passiert. Ich war in Windsor aufgewachsen, eine kleine Stadt in Kanada, die man vom Flussufer aus erkennen konnte. Dennoch begegneten mir einige Leute anders, wenn ich meinen kanadischen Pass vorlegte. Wie sie wohl erst auf Leute reagierten, die bespielsweise aus Mexiko oder afrikanischen Ländern kamen? Bei dem Gedanken wurde mir schlecht, doch ich versuchte, diese beiseite zu schieben. Schon früh hatte ich erkennen müssen, dass ich die Welt nicht retten konnte.
„Nein, alles gut Miss Dubois. Das war nur eine Frage", redete sie sich heraus und reichte mir meinen Pass zurück.
„Für den Fall ist Detective Manson zuständig. Leider ist er gerade mit einem wichtigerem Fall beschäftigt und daher nicht im Hause." Das war ja wohl ein Scherz. Erst schaffte er es nicht zum Tatort und nun war er schon wieder nicht da. Natürlich wusste ich, dass die Polizei in Detroit unterbesetzt war, insbesondere im Hinblick auf die vielen, schwerwiegenden Verbrechen. Dennoch hatte ich kein Verständnis für den Detective, der zumindest für diesen Fall nie Zeit zu haben schien.
„Wann ist er wieder da? Ich kann warten", unternahm ich einen Versuch, das alles doch noch hinter mich zu bringen. Jetzt wo ich schon einmal hier war, wollte ich es nur erledigen.
„Er kommt leider erst spätabends wieder herein", erklärte mir die Dame und fing wieder an, irgendwas auf dem Computer nachzusehen. „Können Sie sonst morgen früh vorbeikommen? So gegen 7 Uhr?" Da ich wusste, dass es keine andere Chance gab, nickte ich bloß.
„7 Uhr passt super. Aber wenn Detective Manson dann nicht da ist-" - „Er wird da sein", versicherte die Dame mir, wieder mit dem anfänglichen Lächeln. Ich bedankte mich noch bei ihr, dann drehte ich mich um und verließ das Revier wieder, während ich mich langsam fragte, warum das Leben dieser Frau offenbar weniger wert war als das von anderen.
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