18. Kapitel

Noch während die grauen Stahltüren hinter Justin Clearwater fast schon einladend langsam zufielen, öffnete ich entschlossen Gregors Tür und verließ somit die schützende Wärme. In dem Bruchteil einer Sekunde, in dem ich mein Auto verriegelte, war mein dunkler Mantel bereits durchnässt und meine schwarzen Haare klebten an meiner Haut. Ich hoffte nur, dass meine Make-Up so wasserfest war, wie die Werbung es versprach – wenn ich aussah, wie ein verdammter Waschbär wäre es vermutlich noch schwerer, ihn dazu zu bringen, seine eventuelle monströse Identität zu offenbaren.

Überprüfend warf ich einen kurzen Blick in den Seitenspiegel und stellte erleichtert fest, dass noch kein Anzeichen von verschmierter Schminke vorhanden war. Damit dies so blieb, wandte ich mich hastig der High-School zu und ging mit großen Schritten auf diese zu, zeitgleich hielt ich meine freie Hand schützend über meinen Kopf. Mit der anderen umklammerte ich nach wie vor mein Pfefferspray. Mein Puls beschleunigte sich und in meinem Kopf spielten sich im Schnelldurchlauf Worst Case Szenarien ab, die alle mit einem weiteren Körper in dieser dunklen Gasse endeten. Meinem Körper. Aber daran durfte ich nicht denken; ich musste fokussiert bleiben. Mit viel Glück würde ich am Ende diesen Tages wissen, wer für all das Leid von Alejandra Gonzalez, ihrer Tochter und schlussendlich auch von mir verantwortlich war.

Und in diesem Moment gab es nichts Wichtigeres für mich, als dies herauszufinden.

Ich legte meine Hände auf den kühlen Eisenbügel der Türen und atmete tief durch. Die Kälte verteilte sich in meinem ganzen Körper, betäubte sämtliche Gefühle und ließ die Gedanken zumindest für den Moment verstummen. Bevor ich es mir also doch noch anders überlegte, öffnete ich schwungvoll die Tür und flüchtete vor dem gnadenlosen Regen ins Innere der Schule.

Meine hochhackigen Schuhe hinterließen ein klackendes Geräusch auf dem ranzigen Linoleumboden, was ein furchteinflößendes Echo in dem menschenleeren Flur erzeugte. Der fast schon gespenstische Widerhall jagte eine Gänsehaut über meinen gesamten Körper und brachte mich dazu, meine Schritte noch weiter zu beschleunigen. Selbstverständlich wusste ich genau, wo sich das Büro des Schulleiters befand – auf der Webseite der Schule konnte man einen digitalen Rundgang durch die Schule machen.

Schneller als mir lieb war, hatte ich das Vorzimmer erreicht. Unter dem argwöhnischen Blick der Sekretärin betrat ich dieses, ging auf ihren Schreibtisch zu, löste meinen verkrampften Griff um das Pfefferspray und legte beide Hände auf der Stuhllehne vor mir ab. „Guten Morgen", begrüßte ich die Dame, bemüht, ihr mein bestes Lächeln zu schenken. Zaghaft erwiderte sie das Lächeln, ehe sie sich ihre Hornbrille höher auf die Nase schob und sich räusperte.

„Wie kann ich Ihnen helfen? Sie sehen nicht aus, wie eine Schülerin." Sie kicherte über ihre eigene Bemerkung und der Höflichkeit halber lachte ich auch kurz auf. Dann setzte ich zu einer Antwort an, über die ich den gestrigen Abend sehr viel nachgedacht hatte. Da Chad mir den Presseausweis abgenommen hatte, gab es nur eine Möglichkeit: Hoffen, dass das Ego des Schulleiters größer war als seine Vernunft. Die Chancen standen relativ gut.

„Ich bin Sophia Dubois, Reporterin bei der Daily Detroit. Wie jedes Jahr schreiben wir einen Artikel über die engagiertesten Schulleiter, die wirklich etwas bewegen wollen, in Detroit und Umgebung. Ich hatte gehofft, Direktor Clearwater ein paar wenige Fragen zu stellen." Mit jedem Wort erhellte sich die Miene meines Gegenübers weiter, bis sie am Ende fast so aussah, als würde sie mir um den Hals fallen wollen. Mein Plan ging tatsächlich auf.

„Mister Clearwater steht Ihnen mit Sicherheit gern zur Verfügung. Endlich weiß Ihr Chef mal zu schätzen, was wir hier leisten! Jedes Jahr wieder müssen wir einen Artikel über irgendwelche feinen Pädagogen von Privatschulen lesen. Die wissen doch gar nicht, wie schwer der Job an einer staatlichen High-School ist. Wurden Sie schon mal mit einem  Messer angegriffen?" Die Sekretärin seufzte, dann drehte sie sich zu ihrem Computer, der definitiv noch aus dem letzten Jahrzehnt – wenn nicht sogar schon aus dem letzten Jahrhundert – stammte und rückte sich abermals ihre Brille zurecht.

Ohne eine Antwort meinerseits abzuwarten, fuhr sie nach wenigen Augenblicken fort. „Hm, also am besten vereinbaren wir nun einen Termin. Wie sieht es nächste Woche bei Ihnen aus, Miss Dubois?" Das Lächeln auf meinen Lippen fror ein, während mein Herzschlag für einen Moment aussetzte. Nächste Woche? Das konnte ich nicht akzeptieren. Wenn ich auch nur noch eine Nacht den Leichnam von Alejandra vor mir sehen würde, müsste ich mich wahrscheinlich selbst einweisen.

„Ich, ähm, also", stammelte ich, was mir einen misstrauischen Blick einbrachte. Ich durfte mich nun bloß nicht verdächtig verhalten; wofür hatte ich diese Maskerade jahrelang trainiert, wenn ich sie nun im wahrscheinlich wichtigsten Moment meines Lebens nicht beherrschte?

Ich fuhr mir durch meine Haare und lächelte, ehe ich mit den Fingern in einem nervösen Rhythmus auf der Stuhllehne herumtrommelte. Vielleicht kam ich hier nicht als die starke Persönlichkeit rein für die ich mich hielt, aber eventuell kam ich mit Mitleid weiter.

„Um ehrlich zu sein, hatte ich gehofft, ihn heute sprechen zu können. Ich muss den Artikel bereits Freitagmorgen einreichen. Eigentlich wollte ich bereits am Montag hier anrufen, aber dann wurde meine Katze überfahren und... Bitte. Mein Vorgesetzter bringt mich um, wenn ich ihm den Artikel mit dem Interview nicht übermorgen hinlege."

Kurz befürchtete ich, das mit der Katze sei ein wenig zu viel gewesen, doch dann drehte sie den Bilderrahmen auf ihren Schreibtisch zu mir und ich entdeckte ein weißes Fellknäuel. „Glitter wurde auch einmal fast überfahren." Sie machte eine kurze Pause, in der sie das Foto nachdenklich betrachte. Dann warf sie mir ein mitfühlendes Lächeln zu und griff nach ihrem Telefon. „Nehmen Sie doch einen Moment gegenüber Platz. Ich schaue, was ich tun kann."

Mein Blick war starr auf die tickende Uhr über der Tür zum Büro von dem potenziellen Mörder gerichtet. Bereits seit einer Stunde wartete ich, doch immerhin hatte ich so die Gelegenheit, immer und immer wieder die Fragen durchzugehen, welche ich mir gestern überlegt hatte. Vorbereitung war schließlich alles und da die Sekretärin mich noch nicht herausgeschmissen hatte, ging ich davon aus, dass mein Gespräch irgendwann heute noch stattfinden würde. Außerdem hatte ich in meiner Schulzeit genug Erfahrungen gesammelt, was das Warten vor dem Direktorzimmer anging. Meist hatte ich – nach der Auffassung meiner damaligen Lehrer – unangebrachte Fragen gestellt. War es wirklich unangebracht, Dinge in Frage zu stellen?

Das Geräusch einer sich öffnenden Tür riss mich aus meinen Erinnerungen. Augenblicklich richtete ich meinen Blick auf den Mann, den ich des Mordes beschuldigte. Er trug einen billigen, schwarzen Anzug, der ihm mit Sicherheit eine Nummer zu klein sein dürfte. Dennoch war sein Erscheinungsbild sehr ordentlich und das Lächeln auf seinen vollen Lippen war nahezu ansteckend. Sah so ein Monster aus?

„Kommen Sie doch in mein Büro, Miss Dubois. Es tut mir wirklich leid, dass Sie so lange warten mussten, doch ich hatte eine wichtige Konferenz." – „Ach, das macht doch nichts. Ihre Arbeit hier ist sehr wichtig", erwiderte ich wie aus der Pistole geschossen, während ich mich von dem Stuhl erhob und in sein Büro trat. Er schloss die Tür hinter mir und sofort spürte ich ein unangenehmes Ziehen in meiner Magengegend. Mein Brustkorb fühlte sich an, als würde ein tonnenschwerer Stein darauf liegen und ich spürte, wie sich Schweiß auf meiner Stirn sammelte.

„Setzen Sie sich doch. Geht es Ihnen gut? Sie sehen so blass aus. Soll Rachel Ihnen ein Wasser bringen?" Seine Frage verneinte ich schnell, darum bemüht, meine Stimme möglichst normal klingen lassen. Dann ging ich zu seinem Schreibtisch und ließ mich auf dem Stuhl davor nieder, der genauso aussah wie der draußen. Um mich ein wenig zu beruhigen, begann ich, den Raum zu mustern und jedes noch so winzige Detail zu erfassen. Die Bücher im Regal an der Wand waren nach Farbe sortiert, der Computer schien nicht so alt wie der von Rachel zu sein und direkt vor mir stand dieses typische Klappschild mit dem Namen des Schulleiters. Das einzige ungewöhnliche an diesem Büro war wohl der grüne, sehr flauschig aussehende Teppich. Vielleicht musste er sich tagsüber schlafen legen, weil er nachts Prostituierte jagte?

„Ich bin erstaunt, dass Sie mich für diesen Artikel in Betracht ziehen. Normalerweise werden die staatlichen Schulen ignoriert, dabei sind wir diejenigen mit den Problemkids. Wir sind die, die für eine bessere Zukunft sorgen, indem wir ihnen noch so viel mehr als bloßes Wissen mit auf den Weg geben. Hier in Dearborn sieht es mit Sicherheit noch besser aus als in der Stadt, dennoch...", erklärte er mit fester Stimme, die beinah vor Stolz triefte. Sprach ein Monster so?

Ich löste meinen Blick von der Einrichtung und musterte stattdessen Justin Clearwater. Seine dunkle Haut, die ebenso dunklen Haare und die braunen Augen, die gleichzeitig Güte und Wärme ausstrahlten. Nichts an ihm machte mir Angst und dennoch zitterte ich am ganzen Körper. Im Endeffekt stand die Chance, einen Mörder vor mir zu haben, 50:50.

„Was haben Sie denn für Fragen, Miss Dubois?"

Ich öffnete meinen Mund, um die erste, sorgfältig vorbereitete Frage zu stellen. Doch mit einem Mal war mein Kopf wie leergefegt. Immer mehr Schweißperlen rannen über meiner Stirn und ich krallte mich mit meinen Händen im Mantel fest, in der Hoffnung, er würde das Zittern so nicht wahrnehmen.

Dann stellte ich die erste Frage, die mir in den Sinn kam.

„Haben Sie Alejandra Gonzalez getötet?" 

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