14. Kapitel
Nachdenklich betrachtete ich die braune Papiertüte, die Hayden mir gestern Abend wortlos überreicht hatte. Darin befand sich, gut verschlossen in einer Plastikphiole, das Sperma des Mörders – doch ich verschwendete keinen Gedanken an den ekelerregenden Inhalt, der bisher mein bester Hinweis war. Stattdessen stellte ich mir immer wieder eine einzige Frage: War es das wert gewesen?
Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so lange nicht mehr mit Hayden gesprochen hatte. Sie war meine beste Freundin, meine Familie, mein Zuhause. Und ich hatte es in einem Anflug von grenzenloser Ignoranz geschafft, sie zu vertreiben. Am schlimmsten war jedoch das Wissen, dass ich meinen Fehler vermutlich niemals wiedergutmachen konnte. Zu sehr hatte ich sie verletzt, in dem Moment, in dem ich ihren verstorbenen Bruder zur Sprache gebracht und gegen sie verwendet hatte.
Sie musste mich hassen.
Ich tat es ja selbst.
„Ist alles in Ordnung bei dir, Sophia?" Die schrille Stimme von Theresa riss mich aus meinen hoffnungslosen Gedanken. Schnell blickte ich von der Tüte zu meiner Schreibtischnachbarin, die zurückgelehnt auf ihrem Drehstuhl saß und gerade dabei war, eine rote Strähne ihres langen Haares zu flechten. Ich kannte sie lange genug, um zu wissen, dass sie wie immer auf den neusten Klatsch und Tratsch aus unserem Büro aus war und wahrscheinlich hoffte, eine dementsprechende Antwort von mir zu erhalten.
„Alles bestens. Weißt Du, wann Chad aus seinem Meeting kommt?" – „Ich sage es dir, wenn du mir verrätst, was in dieser Tüte drinnen ist. Den ganzen Tag lässt du sie schon nicht aus den Augen, als wäre es ein wohlbehüteter Schatz. Ist es Schmuck? Dein Lieblingsessen, zubereitet von deinem neuen Liebhaber?" Genervt seufzte ich auf und begann bereits, meine Frage zu bereuen. Dennoch interessierte mich die Antwort weiterhin brennend und wenn jemand sämtliche Termine von Chad kannte, dann war es Theresa.
Ich wägte kurz meine Optionen ab, ehe ich mich für die Wahrheit entschied. „Es ist Sperma. Wann kommt Chad aus seinem Meeting?" Meine Kollegin verzog angewidert ihr Gesicht und ich wusste, dass morgen sämtliche Gerüchte die Runde machen würden, was mir herzlich egal war.
„Ich denke-" Weiter kam sie nicht, da im nächsten Moment Chad das Großraumbüro betrat. Mit großen Schritten und einer penibel geraden Körperhaltung, die jeden im näheren Umkreis einschüchterte, lief er auf sein Büro zu. „Ich denke jetzt", sagte die Rothaarige noch, doch ich beachtete sie schon nicht mehr. Ich war bereits aufgesprungen und lief auf Chad zu, der mich mit einem freundlichen Lächeln bedachte.
„Neuigkeiten?" Ich nickte, folgte ihm in sein Büro und schloss die Glastür hinter uns, ehe ich mit der Tüte in meiner Hand herumwedelte. „Willst du raten, was darin ist?", fragte ich ihn, während ein plötzliches Gefühl der Euphorie in mir aufkam. Ich war so verdammt nah dran, den Fall zu lösen, für Gerechtigkeit zu sorgen und meinen Lebenstraum zu verwirklichen.
„Kekse sind es mit Sicherheit nicht." Hektisch ließ ich mich auf dem Sessel gegenüber von Chad nieder und hielt ihm das Beweismittel hin. Ohne zu zögern, griff Chad nach der Tüte und öffnete sie, um einen kurzen Blick hineinzuwerfen. Nur wenige Sekunden später ließ er sie fallen, als hätte er sich verbrannt und ich war froh, dass sich das Sperma sicher verstaut in der Phiole befand.
„Ist es das, was ich denke?", fragte Chad und betrachtete mit weit aufgerissenen Augen die Tüte, die nun auf dem Schreibtisch lag. Seine Stimme zitterte leicht, was vermutlich eine verständlichere Reaktion auf den Inhalt war, als mein Grinsen, das sich weiterhin ausbreitete.
„Ja. Das ist das Sperma des Mörders." – „Oh Gott."
Ich zuckte bloß mit den Schultern, während Chad aufstand und begann, vor der gläsernen Fensterfront auf- und abzulaufen. Es dauerte einige Momente, bis er sich gefangen hatte. Schließlich blieb er jedoch hinter seinem Stuhl stehen, legte seine Hände auf die Lehne und beugte sich zu mir vor.
„Ich will gar nicht wissen, wie du da herangekommen bist. Wirklich nicht, Sophia. Aber bitte sei vorsichtig. Ich möchte dich weder in einer Leichenhalle identifizieren noch deine Kaution bezahlen. Verstanden?" Er betrachtete mich eindringlich und zum ersten Mal seit ich sein Büro betreten hatte, verschwand mein Grinsen und das aufputschende Gefühl der absoluten Euphorie. Seine fast schon väterliche Strenge und Sorge berührten mich, gleichzeitig nervten sie mich aber auch. Warum schien niemand daran zu glauben, dass ich auf mich aufpassen konnte?
„Ich bin vorsichtig", erwiderte ich dennoch versöhnlich. Schließlich wollte ich noch etwas erreichen; ich konnte und wollte es mir mit meinem Chef nicht verscherzen. Chad nickte daraufhin erleichtert, ging um den Stuhl herum und setzte sich mit einer äußerst eleganten Bewegung hin.
„Gut. Wie kann ich dir nun behilflich sein? Du hast das mit Sicherheit nicht nur mitgebracht, um mich zu schockieren und um mir mein restliches Leben Alpträume zu bescheren." Schnell schüttelte ich den Kopf und suchte für einen Moment nach den richtigen Worten. Ja, was genau hatte ich eigentlich erwartet? Ein Teil von mir hatte vermutlich gehofft, er würde mir sofort eine Lösung präsentieren, wie uns diese Spur tatsächlich weiterhelfen konnte. Natürlich wäre das zu leicht gewesen.
„Naja, ich, also", begann ich, atmete einmal tief durch und fing mit neugewonnener Kraft von vorn an. „Ich hatte gehofft, dass du vielleicht jemanden kennst, der das Sperma analysieren kann. Eventuell sogar jemanden, der Zugriff auf gewisse Datenbanken hat", erklärte ich ihm meine Idee so vage wie möglich und hoffte, damit keine Grenzen zu überschreiten, obwohl ich dies ohnehin vermutlich schon längst getan hatte.
Chad schien einen Moment zu überlegen, ehe er wieder aufstand und zu der Bürotür lief. „Eventuell kenne ich jemanden, der das machen würde. Ich bin gleich wieder da." Damit ließ er mich in seinem Büro zurück und ich spürte, wie eine unheimliche Last von meinen Schultern abfiel. Ein unfassbares Gefühl der Erleichterung durchströmte jeden Winkel meines Körpers; kamen wir nun endlich weiter? Konnte ich nun, nach über einer Woche, endlich etwas bewirken?
Um mir die Wartezeit zu vertreiben, zog ich mein Handy aus meiner Hosentasche und öffnete Instagram. Noch war der Account online – wenn Jonathan Blake seine Drohung einhielt, dann würde er dies nur noch bis heute Abend sein. Ich scrollte also durch die unzähligen Nachrichten in der Hoffnung, doch noch etwas Brauchbares zu finden. Die meisten Nachrichten waren Beileidsbekundungen oder unterstützende Mitteilungen, die ich nur kurz überflog und dann wieder löschte.
Doch dann ließ eine Nachricht mich innehalten.
Für einen Moment setzte mein Herzschlag aus, während ich diese genaustens las. Sie kam von dem offiziellen Account von einem lokalen Nachrichtensender. Sie boten mir ein anonymes Interview an, welches in den Nachrichten ausgestrahlt werden sollte.
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Natürlich war es von Vorteil, wenn die mediale Aufmerksamkeit noch weiter zunehmen würde – umso größer war die Chance, einen guten Hinweis zu erhalten. Doch Chad hatte mich davor gewarnt, mit der Geschichte an die Presse zu gehen. Zwar erwähnte ich mit keinem Wort die schlampige Arbeit der Polizei, aber im Interview würden sie bestimmt genauere Informationen haben wollen, die ich ihnen nicht liefern durfte.
Außerdem würde meine Bewerbungsgeschichte für die Criminal dann kein exklusiver Bericht sein, sondern nur einer von vielen. Selbstverständlich ging es mir darum, den Mord an der armen Frau aufzuklären – aber ein kleiner, egoistischer Teil in mir wollte auch einen Eigenvorteil haben, in diesem Fall die perfekte Geschichte für die Zeitung. Das ließ ich mir nicht wegnehmen.
Mit der Spermaprobe war ich ohnehin nah dran, den Fall aufzuklären. Ich brauchte diese unterstützende Berichterstattung nicht. Bevor ich also noch länger darüber nachdachte, löschte ich die Nachricht unbeantwortet, ehe ich mir auch die weiteren Eingänge durchlas.
Andere Nachrichten, die mich innehalten ließen, waren nicht mehr dabei. Gerade als ich mit den Eingängen fertig war und mit den Benachrichtigungen beginnen wollte, öffnete sich die Bürotür wieder.
Sofort steckte ich mein Handy wieder in meine Hosentasche und betrachtete Chad, der ein leichtes Lächeln auf den Lippen hatte. Das war ein gutes Zeichen, oder? Spannung erfüllte die Luft und ich spürte, wie mein Puls in die Höhe schoss. Ich begann, meine Hände zu kneten, um die Anspannung ein wenig loszuwerden. Zeitgleich wartete ich darauf, dass Chad mir die hoffentlich guten Neuigkeiten verkündete. War es nun endlich soweit?
„Ein Freund von mir ist Forensiker in New York. Er schuldet mir noch einen Gefallen und wird die Probe analysieren. Allerdings kann er nicht staatsübergreifend arbeiten, sodass er nur feststellen kann, ob es eine Übereinstimmung in New York gibt."
Am liebsten wäre ich Chad um den Hals gefallen. Es war nicht viel, aber viel mehr als wir bisher erreicht hatten.
Bald hatte ich den Mörder.
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