1. Kapitel
Orientierungslos betrachtete ich die einzige Laterne, die die Hauptstraße spärlich beleuchtete. Bereits seit einigen Stunden war ich in dem verlassenen Gewerbegebiet unterwegs, das hauptsächlich aus leerstehenden, langsam verfallenden Fabrikhallen bestand. Ich suchte nach Informationen über den angeblichen Menschenhandel, doch ich hatte in all der Zeit keinen Anhaltspunkt gefunden. Die Prostituierten, denen ich vereinzelt begegnet war, wollten selbstverständlich nicht mit mir sprechen und ich war auch nicht Zeugin von verdächtigen Unterhaltungen, die im Schutz der Dunkelheit geführt werden konnten, geworden. Und nun fand ich nicht einmal mehr mein Auto. Das Gebiet war bekannt für den Straßenstrich und die seltsamen Gestalten, die hier teilweise herumliefen, sodass ich mein Auto in irgendeiner dunklen Gasse geparkt hatte. Aber in welcher? Die unzähligen Fabrikhallen erzeugten ein verfluchtes Labyrinth aus finsteren Gassen.
Frustriert drehte ich meinen Kopf in die eine und anschließend in die andere Richtung, ehe ich mich intuitiv entschied, nach links zu gehen. Jeder meiner Schritte hinterließ ein lautes Klacken, das die nächtliche Stille zerriss, und wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben bereute ich es, keine flachen Schuhe zu besitzen. Ich versuchte, das Geräusch auszublenden und dachte stattdessen darüber nach, wie die Nacht verlaufen war: Absolut enttäuschend. Mir war bewusst gewesen, dass ich nicht einfach den Straßenstrich betreten konnte und sofort Informationen über den Menschenhandel erhalten würde, den die Zuhälter laut Medienberichten hinter geschlossenen Türen betrieben. Doch ich hatte mir nicht vorstellen können, die ganze Nacht durch die Gegend zu laufen, ohne überhaupt eine nennenswerte Information zu erhalten.
Ich brauchte diese Informationen. Mein Vorgesetzter bei der VIP News hatte mir endlich ein Empfehlungsschreiben ausgestellt, das es mir ermöglichte, diese Redaktion zu verlassen. Schon seit meinem 13. Lebensjahr wusste ich genau, was ich werden wollte: Reporterin der Criminal, die wöchentlich über die aufsehenerregenden Kriminalfälle ganz Amerikas berichtete. Das Einzige, was mir noch fehlte, war ein solcher Bericht, den ich meiner Bewerbung beifügen konnte. Wie schwer konnte es schon sein, in der gefährlichsten Stadt Amerikas einen Kriminalfall zu finden? Es war auf jeden Fall schwerer, als ich vorher angenommen hatte.
Zu meiner rechten Seite tat sich erneut eine in Dunkelheit gehüllte Gasse zwischen den Hallen auf. Kurz kniff ich meine Augen zusammen, allerdings war es unmöglich, meinen dunkelblauen Fiat auszumachen. Daher legte ich eine Hand an das Pfefferspray, das ich in den Tiefen meines Wintermantels versteckt hielt, und verließ den Bürgersteig. Ich war erst wenige Schritte von der Hauptstraße entfernt, als ich nicht einmal mehr meine Hand vor Augen sehen konnte. Dennoch tat ich einfach einen Schritt nach dem nächsten, im vollen Vertrauen, mich ohnehin nicht noch mehr verlaufen zu können.
Ich ging einen weiteren großen Schritt vorwärts, als ich plötzlich an etwas hängen blieb. Fluchend stolperte ich nach vorn und konnte meinen Sturz gerade noch mit meinen Händen abfedern. Sofort spürte ich, wie sich eine dickflüssige Flüssigkeit um meine Hände legte und sich in meine Jeans sog. Es dauerte einige Momente, bis ich realisierte, dass es sich bei der Flüssigkeit unmöglich um den eiskalten Novemberregen handeln konnte, der sich auf die Straße gelegt hatte. Mein Puls beschleunigte sich und ich spürte, wie Übelkeit in mir aufstieg, während ich mich hastig aufrichtete. War ich wirklich in den Kadaver eines Tieres gefallen? Augenscheinlich verfolgte das Pech mich heute.
Für einen winzigen Augenblick überlegte ich, die Gasse einfach weiter entlang zu laufen und mir den Kadaver nicht anzuschauen. Doch mit dem nächsten Wimpernschlag wurde mir bewusst, dass ich zumindest die Stadtverwaltung informieren musste, damit die das Tier entsorgen konnten. Daher wischte ich mir die Hände an meinem roten Mantel ab, ehe ich die Hand vom Pfefferspray nahm und stattdessen in meiner anderen Manteltasche nach meinem Handy fischte. Als ich die kalte, ebene Oberfläche spürte, ergriff ich es und zog es heraus. Schnell schaltete ich es wieder an und stellte erleichtert fest, zumindest noch vier Prozent Akku zu haben.
Nachdem meine Augen sich an das blendende Licht, das von dem gesprungenen Display ausging, gewöhnt hatten, schaltete ich die Taschenlampe meines Smartphones an und leuchtete in die Richtung, in der ich das Tier vermutete. Doch es war kein Tier.
Eine erneute Welle der Übelkeit kam in mir hoch, während Gänsehaut sich über meinen gesamten Körper zog. Vor mir lag eine junge Frau, die leeren Augen vor Schock weit aufgerissen, eine riesige Blutlache um sich. Ich verlor jegliche Kontrolle über meinen Körper und bekam kaum mit, wie ich weiter nach hinten stolperte und schließlich hinfiel. Egal, wie sehr ich mich dazu zwang, ich konnte meinen Blick nicht von der Frau abwenden. Ihr Blut schien überall zu sein.
Es war nicht der erste tote Mensch, den ich jemals in meinem Leben sah. Aufgrund meiner Leidenschaft für Verbrechen hatte ich schon mehrere Leichen gesehen, allerdings war das die erste, die ich im echten Leben und nicht bloß auf Bildern sah. Es war das erste Mal, dass ich den metallischen Geruch des Blutes sowie den der langsam beginnenden Verwesung roch.
Würgend und mit zittrigen Händen öffnete ich meinen Wintermantel, der mit dem Blut der Frau besudelt war, und riss ihn mir vom Körper. Sobald ich meine Arme aus den Ärmeln befreit hatte, schleuderte ich ihn soweit wie es ging von mir. Augenblicklich spürte ich, wie sich der schneidende Wind durch meine dünne Bluse fraß. Ich verschränkte meine Arme vor der Brust, den Blick weiterhin auf die Leiche vor mir gerichtet. Mein Abendessen bahnte sich seinen Weg hoch, zeitgleich lief mir kalter Schweiß über die Stirn.
Die Lampe meines Handys beleuchtete noch immer das leblose Gesicht der Frau. Ihre Schminke war bereits verlaufen und ich fragte mich, wie lange sie wohl schon in dieser Gasse lag. Obwohl ich weiterhin mit meiner Übelkeit zu kämpfen hatte, überwog meine journalistische Neugier. Bevor ich richtig realisierte, was ich überhaupt tat, bewegte ich mein Handy. Der Lichtkegel wanderte zu dem Oberkörper der Frau und mir bot sich ein weiteres Bild des Grauens.
Ruckartig riss ich meinen Blick von der zerstochenen Brust. Ein wiederholter Schauer überkam mich und ich spürte den säuerlichen Geschmack in meinem Mund. Im nächsten Moment drehte ich meinen Kopf hastig neigend zur Seite, gerade noch rechtzeitig, um meinen Mageninhalt auf dem Boden neben mir zu verteilen. Tränen stiegen mir zeitgleich mit dem beißenden Gestank vom Erbrochenen in die Nase. Was für ein Monster tat sowas? Und war es vielleicht noch gar nicht weg?
Der Gedanke, der Mörder könnte noch hier sein, kam mir zum ersten Mal. Von der einen Sekunde auf die nächste waren meine Gedanken schlagartig klar. Ich kroch zurück zu meinem Mantel, holte das Pfefferspray heraus und stellte es neben mir ab. Sodann blickte ich auf mein Handy. Nur noch 2 %. Betend, dass der Akku noch ausreichen würde, wählte ich die Nummer des Notrufs. Es dauerte gefühlte Ewigkeiten, bis endlich jemand abnahm.
„Notrufzentrale Detroit, was ist Ihr Notfall?", meldete sich eine ruppige Männerstimme. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter, den ich nun erst bemerkt hatte, ehe ich einen kurzen, tiefen Atemzug nahm.
„Hier ist Sophia Dubois. Ich habe eine Leiche gefunden." Mehr brachte ich nicht hervor, denn ich sah vor meinem inneren Auge wieder die Brust der Frau mit den unendlich vielen Einstichstellen. Ob sie leiden musste?
„Wo sind Sie?", hakte der Telefonist nach und stellte damit eine verdammt gute Frage, die ich nicht so genau beantworten konnte.
„Am Straßenstrich im verlassenen Industriegebiet auf der East Side. Ich bin in einer Gasse." - „Sie müssen da schon ein wenig genauer sein."
Suchend blickte ich mich nach einem Anhaltspunkt über meinen genauen Standort um, doch die Dunkelheit war nach wie vor undurchdringlich.
Erneut spürte ich, wie Tränen meine Sicht verschwimmen ließen. Meine Kehle war wie zugeschnürt, nur ein leises Wimmern verließ meinen Mund. Ich wusste nicht, wo ich war. Warum konnte der Mann am anderen Ende der Leitung das nicht verstehen? „Sagen Sie mir, wo genau Sie sind", vernahm ich die Stimme des Telefonisten, der zunehmend genervter klang, als hielte er meinen Anruf für einen Scherz.
„Ich weiß es nicht", es war kaum mehr als ein Flüstern, weshalb ich einen weiteren tiefen Atemzug nahm und die Worte ein wenig lauter wiederholte. „Bitte, Sie müssen sich beeilen. Ihr Oberkörper ist völlig zerstochen. Vielleicht ist er-" Bevor ich meine Vermutung vollständig äußern konnte, ging mein Handy endgültig aus.
Blanke Panik erfasste mich. Verzweifelt drückte ich auf dem Display meines Handys herum, doch es blieb schwarz. Meine einzige Lichtquelle, meine einzige Verbindung zu anderen Menschen, war weg. Hoffentlich würde der unfreundliche Mann trotzdem zumindest einen Polizeiwagen ins Gebiet schicken. Doch wie sollten sie gerade diese Gasse hier finden? Erneut sah ich mich um, als mir die rettende Idee kam. Ich musste einfach wieder zur beleuchteten Hauptstraße zurück, damit sie mich sehen konnten.
Mein Herzschlag beschleunigte sich abermals, als ich mich mit den Händen langsam vom Boden hochdrückte. Für den Bruchteil einer Sekunde befürchtete ich, meine zitternden Beine würden nachgeben. Zu meinem Erstaunen hielten sie mein Gewicht jedoch. Vorsichtig ging ich den ersten, winzigen Schritt. Ich konnte es schaffen. So leise wie es mir mit meinen High-Heels möglich war, ging ich weiter. An der Stelle, an der nach meiner Erinnerung die Frau liegen müsste, hob ich mein linkes Bein und setzte es in einiger Entfernung wieder ab. Das rechte folgte, zeitgleich versuchte ich, den Gedanken zu verdrängen, gerade über eine Leiche gestiegen zu sein.
Unsicher ging ich weiter nach vorne, immer mit der Befürchtung, mit dem nächsten Schritt erneut über die Frau zu stolpern. Allerdings schienen immerhin meine Erinnerungen mich nicht im Stich zu lassen, denn ich schaffte es, die Gasse einige Minuten später ohne weitere Zwischenfälle hinter mir zu lassen.
Erleichterung durchströmte mich, während ich auf die Hauptstraße heraustrat. Ich warf einen überprüfenden Blick über meine Schulter, jedoch ließ sich das Grauen aus der Gasse von hier aus nicht erkennen. Der Weg hierhin hatte sämtliche meiner Kräfte verschwinden lassen, sodass ich mich auf den Bordstein setzte.
Meinen Blick hielt ich starr auf die Laterne gerichtet, die sich aus meiner Entfernung nur erahnen ließ. Gleichzeitig spürte ich, wie mein Puls sich beruhigte und das Adrenalin der vorherigen Momente, die sich wie Stunden angefühlt hatten, meinen Körper verließ. Nur spürte ich dafür die beißende Kälte wieder, die vom tosenden Wind und dem strömenden Regen nur noch verschlimmert wurde.
Ich zog meine Beine an meinen Oberkörper, legte meine Arme darum und bettete meinen Kopf auf meinen Knien, ohne das Blut auf meiner Jeans zu beachten. Kurz bereute ich, meinen Mantel in der Gasse gelassen zu haben. Nichts auf dieser Welt würde mich dazu bewegen, ihn wiederzuholen. Da erfror ich lieber.
Hoffentlich würde die Polizei bald auftauchen.
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