Die Verzweiflung

Die eisblauen Augen blickten sie an. Mara war überrascht, dass der Fremde ihr ohne Schwierigkeiten seinen Namen offenbart hatte. Aus irgendeinem Grund war er ihr die letzten Wochen ein Rätsel gewesen und sie ging davon aus, dass er seine Identität geheim hielt. Die seltsamen Begegnungen, in denen sie sich nur flüchtig getroffen hatten, waren kein Zufall gewesen. Das war Mara mittlerweile bewusst.

Kiran schien ihre Pause zu bemerken. „Ist mein Name denn so schrecklich?" Ein abfälliger Ton schwang in seiner Stimme mit.

Mara riss sich zusammen und zwang sich, ihre Worte mit Bedacht zu wählen. Sie wollte ihn nicht verärgern. „Keines Wegs. Ich war nur überrascht, dass du mir deinen Namen anvertraust. Kiran ist ein schöner Name."

Nun war es an Kiran eine kurze Pause einzulegen, bevor er weitersprach. „Ich kann mir vorstellen, wieso du so denkst", seufzte er und fuhr sich mit der linken Hand durch seine schwarzen Haare. Seine Augen wanderten Richtung Decke, so als würde er über seine gesagten Worte nachdenken. Mara bemerkte, dass der Mann vor ihr eine gewisse Unsicherheit ausstrahlte. Bevor sie der Gefühlsregung weiter nachgehen konnte, senkte Kiran seine Hand und ein gleichgültiger Ausdruck kehrte in sein Gesicht zurück. „Wie ich bereits gesagt habe, bin ich hier, um deine Wunden zu versorgen. Zeig mir deine Handgelenke."

In seiner Stimme war die gewohnte Kälte zurückgekehrt. Mara blickte neben sich. Kuronirokiani saß neben ihr und beobachtete die Situation. Mit einem kleinen Nicken signalisierte die Geisterschwinge, dass Mara den Worten des Mannes Folge leisten sollte. Mara hob ihre Hände und hielt sie Kiran hin.

Nacheinander betrachtete Kiran die Verletzungen und öffnete das kleine Gefäß. Ein beißender Geruch stieg in die Luft und Mara verzog angewidert ihren Mund. Ihr kam die Frage auf, was für eine Salbe das war. Dennoch blieb Mara still und beobachtete, wie Kiran die Salbe auf ihre offenen Wunden auftrug. Die Berührung seiner Hände war sanft und behutsam. Die Tinktur kühlte ihre Haut und die Schmerzen an ihren Handgelenken nahmen ab.

Als Kiran mit dem Auftragen der Salbe fertig war, stellte er das Gefäß auf den Boden und griff unter seinen Umgang. Mara spürte, wie sich Kuro neben ihr anspannte. Seine Befürchtungen auf einen Angriff wurden nicht erfüllt, als Kiran zwei weiße Verbände hervorholte.

Vorsichtig umwickelte er ihre Handgelenke mit dem Verbandsmaterial. „Das sollte fürs Erste genügen", sagte er und stand von seiner selbstgemachten Sitzgelegenheit auf. Ein weiterer Tritt auf dem Boden ließ den Erdhocker wieder verschwinden. Daraufhin drehte Kiran sich zur Zellentür um.

„Ich danke dir", sagte Mara und sie beobachtete, wie der Mann aus ihrer Zelle trat und sie hinter sich wieder schloss. Plötzlich kam ihr ein Gedanke und sie stand auf. Mit wenigen Schritten war sie an der geschlossenen Zellentür. „Halt", rief sie Kiran hinterher. Kiran blieb mit dem Rücken zu ihr gewandt stehen.

„Weiß dein Meister, dass du hier bist und mich behandelst?"

Es war eine simple Frage, aber aus der gegebenen Antwort konnte Mara abschätzen, ob sie Kiran vertrauen konnte oder nicht.

Der Schwarzhaarige blieb einen Moment stehen, ohne sich zu ihr umzudrehen. Gespannt wartete Mara ab, doch die Antwort blieb aus. Kiran setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, wieder in Bewegung und verließ das Kellerverlies. Stille kehrte ein und Mara drehte sich mit einem leichten Lächeln auf den Lippen zu Kuro um. Vielleicht waren sie doch nicht so allein, wie sie zu Beginn angenommen hatten.

Die Zeit verstrich und Mara verlor jegliches Gefühl, ob es soeben Nacht oder Tag war. Kuronirokiani schien es genauso zu ergehen. Die Geisterschwinge lag neben Mara auf der Pritsche. Dadurch, dass ihre geistige Verbindung brüchig war, blieb Mara nichts anderes übrig, als Kuro einfache Fragen zu stellen, die er mit einem Kopfnicken oder Kopfschütteln beantworten konnte. Ihre Gespräche waren einseitig und die meiste Zeit schwelgten sie in stiller Übereinkunft. Dennoch versuchte Mara ihr Bestes, die Einsamkeit aus der Zelle zu vertreiben. Sie erzählte ihrem kleinen Freund unter anderem, dass sie Kiran bereits mehrere Male in der Stadt gesehen hatte. Kuro hörte ihr aufmerksam zu und schien über ihre Worte überrascht zu sein.

„Das erste Mal war es nur ein flüchtiger Moment. Kurz bevor wir das erste Mal bewusstlos wurden, fuhren Thomas und ich vom Grundstück der Rids. Ich sah Kiran an einer Laterne stehen, wie er zu dem Grundstück blickte. Nach einem kurzen Wimpernschlag war er wieder verschwunden. Damals war ich mir nicht sicher, ob es nur ein Trugbild war, aber als ich ihn einen Tag später in der Bibliothek erkannte, zweifelte ich bereits an dem Trugbild."

Mara verfluchte sich insgeheim. Bereits zu dieser Zeit hätte ihr der Gedanke kommen müssen, dass Kiran sie aus einem bestimmten Grund beobachtete. Doch da zeigte sich erneut eine ihrer Schwächen. Egal wie seltsam eine Situation war, Mara versuchte immer das Beste daraus zu erkennen. Selbst jetzt konnte sie Kiran nicht die ganze Schuld für ihre aktuelle Lage geben. Er hatte nicht allein gehandelt und hinter all dem steckte sein Meister. Das ungute Gefühl beschlich sie, dass Kiran seinem Meister treu ergeben war und sie für ihn nur ein Mittel zum Zweck war. Doch insgeheim hoffte sie auf das Gegenteil.

„Zudem kam Kiran uns zur Hilfe, als der Geist angriff. Ohne ihn hätten wir es nicht lebend aus dieser Situation geschafft." Plötzlich kam Mara ein Gedanke und sie setzte sich auf. Kuro hob seinen Kopf und neigte ihn neugierig zur Seite.

„Als uns der Geist angriff, hast du dich verwandelt. Du warst so groß wie ein Haus und hast mich vor dem Ungetüm verteidigt." Kuro nickte ihr zustimmend zu. Da fuhr sie fort: „Wenn du diese Kräfte erneut einsetzen würdest, bin ich mir sicher, dass du uns aus dieser Zelle befreien könntest." Hoffnung schimmerte in Maras Augen. An diese Möglichkeit der Flucht hatte sie noch nicht gedacht. Kuronirokiani hatte in seiner dunklen Form garantiert keine Schwierigkeiten, ein paar Eisenstäbe zu zerbrechen.

Mara beobachtete die Geisterschwinge. Diese wendete ihren Blick ab und ließ ihren Kopf hängen. Daraufhin schüttelte Kuro leicht den Kopf und Maras Schultern sackten enttäuscht nach unten.

„Du kannst die Form noch nicht kontrollieren?" Mara seufzte. Die Geisterschwinge blickte Mara erneut an und beschrieb mit seinem Kopf einen großen Bogen. Nach kurzem Überlegen wusste Mara, was ihr Freund ihr mitteilen wollte.

„Deine, ich nenne es mal Geisterform, ist zu groß für diesen Raum? Du würdest mich zerquetschen, habe ich recht?" Die Geisterschwinge nickte zur Bestätigung. Traurig wandte nun Mara ihren Blick ab. Kuronirokiani hatte recht. Ihre Gefängniszelle war zu klein für das große Wesen, in das sich Kuro verwandeln konnte, sofern er seine Kräfte beherrschte. Mara musste sich eingestehen, dass sie nicht ohne Weiteres imstande sein werden, aus der Zelle zu fliehen. Versuchten sie oder Kuronirokiani auf dem Weg zum Innenhof zu entkommen, besteht die Gefahr, dass einer von ihnen aufgehalten wurde. Ohne die Chance, dass sie beide gleichzeitig fliehen konnten, waren sie weiterhin hier gefangen.

Mara blieb still und in ihre Augen traten Tränen. In ihr wuchs die Verzweiflung und die Angst der Ungewissheit. Kuro bemerkte ihre Trauer und stupste sie liebevoll mit seinem Kopf an. Daraufhin blickte Mara zu der Geisterschwinge und streichelte sanft über ihren Kopf. Sie spendeten einander Trost in dieser dunklen Zeit.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie erneut das Geräusch vernahmen, das die Tür zum Verlies verursachte. Kiran trat in den Lichtschein der Fackel und sperrte ihre Zellentüre auf. Anschließend trat er zu Mara.

„Streck deine Hände aus", sagte er in einem Befehlston. Mara gehorchte und hielt ihm ihre Hände hin. Mit wenigen Handgriffen löste er ihre Verbände und rollte sie auf. Darunter kamen ihre Schürfwunden zum Vorschein. Dank der Salbe waren ihre Verletzungen geschlossen und bluteten nicht mehr. Kiran verstaute die Verbände in seinem Umgang und holte stattdessen das Netz hervor, mit dem er Kuro eingewickelt hatte.

„Ich muss dich bitten, in das Netz zu springen", sagte er an Kuronirokiani gewandt. Mara war erstaunt, dass er das Wort direkt an die Geisterschwinge richtete. Kuro stand auf und blickte Kiran skeptisch an.

Kiran seufzte genervt. „Ihr wisst, dass ihr keine Wahl habt. Entweder du springst freiwillig hinein, oder ich muss dich dazu zwingen."

„Kannst du uns nicht ohne das Netz mitnehmen?", fragte Mara und sie stand auf, um mit Kiran auf eine Augenhöhe zu kommen. Dennoch überragte er sie um einen halben Kopf.

„Das geht nicht", sagte Kiran. „Mein Meister möchte, dass ich Kuronirokiani im Netz hole."

„Machst du immer das, was dein Meister dir sagt?", erwiderte Mara spöttisch. Kiran funkelte sie böse an. Bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, sprang Kuro von der Pritsche direkt in das Netz. Traurig beobachtete Mara, wie ihr Freund von Kiran zugeschnürt wurde.

„Wenigstens ist dein kleiner Freund vernünftig. Nun komm mit", sagte Kiran und Mara folgte ihm widerwillig ihrer nicht enden wollenden Qual entgegen. 

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