Die Mauer
Mara war über Matheos Wissen immer aufs Neue erstaunt. Der Professor war des Öfteren in der Welt außerhalb der Stadt. Das war ihr bewusst, vor allem da Matheo ein früherer Kollege von ihrem ehemaligen Nachbarn war.
Dass der Wissenschaftler einen Weg nach draußen kannte, erleichterte die Flucht von ihnen immens.
„Ich danke dir für deine Unterstützung", sagte Mara. „Ich denke, dass wir uns sofort auf den Weg begeben."
„Du hast Recht. Je eher wir der Stadt den Rücken kehren, desto sicherer sind wir." Kiran drehte sich daraufhin um und schulterte die Taschen. Matheo schritt zu einem Kleiderständer und holte seine Jacke. Mit einer schwungvollen Bewegung schlüpfte er in die Ärmel seines grauen Mantels und verdeckte sein weißes Hemd. Mara keuchte erleichtert auf. So würde der Professor in der Nacht nicht auffallen.
Mara positionierte sich an den Schreibtisch und hielt Kuronirokiani den Rucksack auf. Die Geisterschwinge sprang in die Tasche und sie erhielt von ihm in ihren Gedanken ein schwaches Gefühl, das sie als Zustimmung interpretierte. Daraufhin schritt Mara an das Fenster, durch das sie die Forschungsräume betreten hatten. Sie betätigte den Hebel und öffnete den Durchgang.
Kiran trat neben sie und zog sich seine Kapuze tief ins Gesicht.
„Ihr läuft schon einmal vor. Kiran du kennst den Brunnen auf dem nördlichen Marktplatz?", fragte Matheo den jungen Mann. Dieser nickte zur Bestätigung. „Wir treffen uns dort. Wir müssen durch die Brunnenöffnung in die Tiefe steigen. Von dort aus ist es nicht mehr weit zur Mauer."
„Du kommst nicht mit?" Mara war bestürzt über den Einfall, sich zu trennen.
„Ich muss noch etwas erledigen. Vertrau mir. Wir treffen uns in einer Stunde an dem Brunnen."
Matheos Worte hinterließen in Mara eine Unruhe. Doch sie vertraute ihm und nickte zur Bestätigung.
„Dann treffen wir uns am Brunnen."
Mit einem Lächeln auf den Lippen schloss Matheo, nachdem sie wieder in die Nacht geschlüpft waren, das Fenster hinter ihnen. Dieses Mal übernahm Kiran die Führung und umrundete das Gebäude auf der gleichen Seite, die sie zu den Räumlichkeiten des Wissenschaftlers genommen hatten.
Kurz bevor sie auf die Straße traten, blieb Kiran stehen.
„Vertraust du Matheo? Dein Freund scheint ein komischer Kauz zu sein."
Mara lachte bei seinen Worten. „Mehr, als du dir vorstellen vermagst. Ihm verlasse ich mein Leben. Er wird uns in keine Falle führen, da bin ich mir sicher. Außerdem hast du selbst von mir verlangt, dass ich dir vertraue. Kuronirokiani und meine Existenz liegen in euren Händen. Diese Situation gefällt mir zwar nicht, aber sie ist notwendig."
„Ich verstehe. Dein Vertrauen bedeutet mir sehr viel."
Bevor Mara etwas erwidern konnte, huschte Kiran die Straße entlang. Sie folgte ihm im kurzen Abstand. Ihr Kopf war tief unter der dunklen Kapuze versunken. Die Schatten der Häuser boten ihnen ausreichend Schutz vor möglichen Beobachtern.
Die kühle Luft kitzelte Mara in der Nase und ließ ihre Wangen rötlich schimmern. Ihre Augen hatte sie auf den Rücken von Kiran fixiert. Aufgrund der Taschen war er etwas langsam als sie und so hatte Mara keine Probleme, ihm zu folgen. Sie kannte sich in dem Stadtviertel nicht aus, doch sie ist sich sicher, dass Kiran sie in Richtung Norden führte. Nach einer gefühlten Ewigkeit blieb der Mann an einer Häuserecke stehen. Mara positionierte sich dicht an seinem Rücken und hielt gespannt den Atem an.
„Wir sind da", sagte Kiran mit gedämpfter Stimme. „Der Brunnen befindet sich in der Mitte des Platzes, direkt vor uns. Die Wasserquelle wird von Laternen beleuchtet. Wir warten im Schatten auf Matheo."
Mara stimmte ihm zu. In ihren Gedanken vernahm sie von Kuronirokiani eine nervöse Regung. Ihre Verbindung zueinander heilte langsam aber beständig. Die Intensität der Farben nahm zu, die ihr den Gefühlszustand der Geisterschwinge vermittelten. Sie teilte die Nervosität ihres kleinen Freundes. Dennoch versuchte Mara ihre Bedenken zu sortieren und sich auf die aktuelle Situation zu konzentrieren.
Aus einer Eingebung heraus sah sie über ihre Schulter. Verwirrt hielt sie inne. Über den Häusern bildete sich ein rötlicher Schimmer. Die fast schwarze Nacht ließ die Farbe hell erstrahlen. Sofort verkrampften sich ihre Finger.
Kiran schien ihre Anspannung zu bemerken und drehte sich zu ihr herum. Fragend hob er eine Augenbraue und als Mara in den Himmel deutete, legte sich ein entsetzter Ausdruck auf sein Gesicht.
„Ein Feuer", flüsterte er. „Bald werden die Sirenen losgehen."
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, ertönte das Signal für die Rettungskräfte.
„Wo ist Matheo? Bald wimmelt es von Menschen auf den Straßen", sagte Mara und eine Bewegung am Rand ihres Blickfeldes erregte ihre Aufmerksamkeit.
Eine schwarze Silhouette bewegte sich direkt auf sie zu.
„Ich glaube, du hast deine Antwort erhalten", entgegnete Kiran.
„Mara?", rief die Gestalt und sie erkannte Matheo an seiner Stimme. Sie winkte ihn zu sich und der Professor blieb keuchend vor ihnen stehen.
„Was hast du erledigen müssen?"
Matheo sah in ihre Augen und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.
„Ich habe meine ganzen Schriftstücke verbrannt. Die ganzen Forschungsunterlagen von mir sind Opfer eines Feuers geworden, dass ich selbst gelegt habe."
Entsetzt sah Mara ihn an. „Wieso hast du das getan?"
„Ich möchte meine Forschungen nicht in die Hände der Regierung geben. Das ganze Wissen nehme ich mit ins Grab."
Mara wurde bewusst, dass der Wissenschaftler sein Lebenswerk mit dem Feuer gefüttert hatte. Traurigkeit durchflutete sie. Doch gleichzeitig ehrte sie diese Maßnahme von Matheo umso mehr. Ihr Freund hat alles hinter sich gelassen, um ihr zu helfen.
Sie nahm Matheos Hände und drückte leicht zu. „Ich danke dir."
Matheo lächelte erleichtert. „Du kannst mir später danken. Jetzt müssen wir schleunigst von hier verschwinden. Bei meiner Flucht bin ich vermutlich nicht ungesehen gewesen."
Kaum hatte der Professor die Worte ausgesprochen, ertönten hinter ihnen laute Rufe. Zu den Schreien mischten sich Motorgeräusche und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie verfolgt wurden. Matheo war bei dem Brand aufgeflogen. Die Wächter der Stadt arbeiteten sorgfältiger, als ihr erkennbar war.
Kiran riss sie zu sich herum und suchte nach ihrer Hand. Sie griff danach und gemeinsam rannten sie auf den beleuchteten Platz. Die Helligkeit brannte in ihren Augen und erschwerte das Vorwärtskommen. Zum aktuellen Zeitpunkt galt, dass sie so schnell wie möglich den Brunnen erreichten und Matheo ihnen zur Flucht verhalf. Sie hoffte, dass die Wächter mit ihrem Fahrgerät langsamer waren als sie.
Ein lautes Brummen ließ ihre Hoffnung zerplatzen wie eine Seifenblase. Die Automobile tauchten so plötzlich neben ihnen auf, dass Mara Schwierigkeiten hatten, sich auf ihren Fluchtweg zu konzentrieren. Aufgrund der erhöhten Geschwindigkeit war es für die Fahrzeuge leicht, sie einzuholen.
Kiran überlegte nicht lange und ließ ihre Hand los. Mit einer fließenden Bewegung legte er die Rucksäcke auf die Erde und drehte sich zu den Automobilen um. Ein lauter Schrei drang aus seiner Kehle und er stampfte mit beiden Beinen in den Boden.
Die Erde um ihn herum verformte sich und stieg in die Höhe. Wie eine große Welle bäumte sie sich vor Kiran auf. Der junge Mann hob seine Hände in die Luft und ließ sie im nächsten Moment wieder fallen. Der aufgetürmte Erdwall bewegte sich in rasender Geschwindigkeit auf die Automobile zu und begrub sie unter sich.
Kiran drehte sich daraufhin um, hob die Taschen auf und rannte zu ihnen zurück.
„Das wird sie nicht lange aufhalten."
Mara nickte ihm zu und schritt auf den Brunnen zu. Kurz vor ihrem Ziel hörte sie ein weiteres Geräusch. Ihr Blick glitt in den Himmel. Dank der hellen Laterne sah sie die dunklen Schemen von Flugzeugen. Die Wächter hatten Luftunterstützung. Diese Erkenntnis hinterließ in Mara einen bitteren Beigeschmack.
Matheo schien ihre Gedanken zu lesen und scheuchte sie weiter. „Bald haben wir es geschafft!"
Kurz vor ihrem Ziel erhellte ein Leuchtstrahl die Dunkelheit. Aufgrund der Helligkeit musste Mara ihr Gesicht abwenden. Eine laute Explosion ertönte und riss sie von den Füßen. Sie hob ihren Blick und starrte auf die Überreste des Brunnens. Tränen der Frustration stiegen in ihre Augen.
„Nein!", rief Mara und der Schock durchfuhr ihren Körper. Von Kuro vernahm sie das gleiche Entsetzen, und sie spürte, wie die Geisterschwinge sich in ihrem Rucksack bewegte.
Matheo fluchte. Die Geräusche hinter ihnen wurden lauter. Um eine weitere Häuserecke schossen Automobile, die direkt auf sie zusteuerten. Mara stand auf. Ihr Ziel war unmittelbar vor ihr. Die Mauer ragte etliche Meter über sie auf und demonstrierte ihre Macht. Bereits seit Jahren umschloss der Wall diese Stadt und schnitt sie von der Außenwelt ab.
In wenigen Augenblicken hatten die Kraftwagen sie umzingelt. Aus den Fahrzeugen sprangen die Wächter und versperrten ihnen jegliche Fluchtmöglichkeit.
„Ergibt euch", ertönte eine laute Stimme. „Wenn ihr euch sofort in unsere Obhut begebt, wird euch nichts geschehen."
Mara sah zu Kiran. Der Mann stand mit durchgedrückten Rücken neben ihr. Seine Kapuze verdeckte sein Gesicht. Sie sah die Anspannung in seinem Körper und Mara war sich bewusst, dass sein Kampfwille erwachte.
„Es ist noch nicht vorbei", sagte Kiran. „Seid ihr bereit, zu kämpfen?"
Matheo seufzte. „Ich hatte gehofft, nicht zu solch harten Mitteln greifen zu müssen." Die Stimme des Professors hatte einen wütenden Unterton. Mara hatte ihn noch nie so außer sich erlebt.
„Ihr werdet wohl nie aufgeben!", schrie Matheo den Wächtern entgegen. „Terror und Verdammnis bringt ihr über diese Stadt! Kein Mensch kann in Ruhe leben. Ihr sperrt sie ein wie wilde Bestien. Dabei seid ihr diese Monster, vor denen sich jeder fürchten muss."
In Matheos Worten schwang eine Bedrohlichkeit mit, die seinen Unmut deutlich unterstrich. Der Wind frischte auf und ließ Mara frösteln.
„Die Natur außerhalb der Mauern hat euch Wächter nicht verdient. Die Geister sollen euch holen."
Die Luft um sie herum wurde wilder und riss an ihren Umhängen. Mara erkannte, dass die Winde nicht vom Himmel oder der Mauer herrührten, sondern direkt um Matheo herumwirbelten.
Der Professor drehte sich zu ihnen herum. „Kuronirokiani, ich zähle auf dich. Bringe sie hier fort."
Matheo stürmte auf die überraschten Wächter zu. Sie hatten den Angriff nicht vorausgesehen und wurden frontal von einem Luftzug von den Beinen gerissen. Mit einem Mal traf Mara die Erkenntnis. Der Wind war kein Zufall, sondern ein Erzeugnis von Matheo. Ihr Freund war ein Elementarbändiger, der die Luft beherrschte.
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