Die Flugstunden
Am nächsten Morgen wurde Mara von einer Stimme geweckt, die ihren Namen rief. Müde schlug sie ihre Augen auf und blickte in das Gesicht des Arztes.
„Entschuldige, dass ich dich geweckt habe. Herr Rid bat mich, erneut nach deinen Verletzungen zu sehen. Wie geht es dir?"
Mara hob ihren Oberkörper und setzte sich auf. „Meine Hand schmerzt noch etwas und meine Rippen tun mir weh", erklärte die Frau mit müder Stimme.
Der Arzt streckte Mara seine Hand hin. „Darf ich mir deine Hand anschauen?"
Mara nickte ihm zu und reichte ihm ihre rechte Hand. Mit wenigen Handgriffen entfernte er den Verband. Anschließend prüfte der Arzt mit ein paar Bewegungen die Funktionalität der Hand. Ein leichter Schmerz durchfuhr ihre Handfläche und Mara erkannte, dass ihr Ringfinger unnatürlich gequetscht aussah.
„Ich bin erstaunt. Deine Genesung geht schneller voran, als ich es für möglich gehalten habe. Deine Hand kannst du vorsichtig wieder benutzen. Ich habe noch nie erlebt, dass Knochen so schnell verheilen. Bereits bei meinem letzten Besuch ist mir aufgefallen, dass du eine schnelle Wundheilung hast."
Erfreut bewegte Mara ihre Hand. Alle Finger gehorchten ihrer Bewegung, außer ihr Ringfinger. Dieser blieb steif.
„Den Ringfinger wirst du vorerst nicht bewegen können. Dieser hat am meisten gelitten", erklärte der Arzt und wühlte in seiner Tasche. „Doch dafür habe ich dir etwas mitgebracht, damit du deine Hand benutzen kannst." Der Mann fand, wonach er gesucht hatte. In ihre rechte Hand ließ er drei schwarze Gummiringe fallen. „Bind dir die Ringe um deinen Mittel- und Ringfinger. So kann der Ringfinger die Bewegungen des Mittelfingers mitmachen und stört dich nicht."
Dankend stülpte Mara die Gummiringe über ihre Finger und schloss prüfend ihre Hand. Die Hand bewegte sich zwar etwas ruckartig, doch Mara freute sich, dass ihre Hand wieder zu gebrauchen war.
„Ich danke Ihnen", sagte sie.
Der Arzt untersuchte noch ihren Brustkorb und als dieser mit den Untersuchen fertig war, brummte er zufrieden. „Deine blauen Flecken heilen genauso schnell. Bald wirst du wieder vollständig genesen sein. Wir lassen die Hand ohne Verband, damit sie an der Luft heilen kann."
Mit diesen Worten stand der Arzt auf und verließ den Raum.
„Die Worte hören sich positiv an. Anscheinend profitierst du ebenfalls von unserer Verbindung", erklang Kuros Stimme in ihrem Kopf. Erst jetzt bemerkte Mara, dass sich die Geisterschwinge an ihre Beine gelegt hatte.
Mara stimmte Kuro zu. „Nur kann ich meine rechte Hand nicht so wie früher benutzen."
Kuro schickte ihr ein paar aufmunternde Gedanken. „Vergiss nicht, dass ich mehr von deiner Kraft benutzt habe, als dir bewusst ist. Ich war dem Tod sehr nahe."
„Du hast vermutlich recht. Deine Genesung ging vor."
Kuronirokiani setzte sich auf und legte seinen pelzigen Schwanz um seine Vorderpfoten. Ein Lächeln stahl sich auf Maras Gesicht und Kuro legte verwirrt seinen Kopf schief. „Ist etwas?"
„Du bist wunderschön", entgegnete Mara und Kuros verwirrte Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum.
„Du müsstest meine Artgenossen sehen. Die sind viel größer und schöner als ich. Ihre Flügel schillern und strahlen in allen möglichen Blautönen", entgegnete Kuro und zuckte erfreut mit seinem Schwanz.
„Das mag sein. Aber ich kenne nur dich und ich finde dich schön."
Kuro nahm das Kompliment schweigend an. „Für mich ist Schönheit nicht nur äußerlich und du hast einen aufrichtigen Charakter", entgegnete die Geisterschwinge. Mara hob ihren verletzten Arm und strich sanft über Kuros Kopf. Die Geisterschwinge schien die Berührung zu genießen und schloss für kurze Zeit ihre Augen.
„Was meinst du? Wollen wir in den Garten und an deinen Flugfähigkeiten feilen?"
Kuro öffnete wieder seine Augen und blickte Mara an.
„Meine Flugfähigkeiten beschränken sich auf das Gleiten. Dennoch würde ich gern verstehen, wie ich mich mit meinen Flügeln in der Luft halten kann."
Nach Kuros Worten stand Mara vorsichtig auf und hielt der Geisterschwinge ihre Hand hin. Kuro sprang hinein und die Frau hob ihren kleinen Freund an ihre Schulter. Dort setzte sich die Geisterschwinge hin und krallte sich mit ihren Pfoten fest. Anschließend verließen beide den Raum und wendeten sich Richtung Haupthalle. In der Haupthalle liefen sie Chrisi in die Arme. Diese begrüßte sie freudig.
„Ich hole euch später im Garten ab. Dann können wir noch etwas essen, bevor ihr zu Matheo aufbricht."
Mara bedankte sich bei ihrer Freundin und trat in den Garten. Dort wurden sie vom Duft der Frühlingsblumen begrüßt. Die Braunhaarige sog den wunderbaren Geruch ein. Anschließend lief sie über die grüne Wiese und ließ sich in das weiche Gras fallen. Kuro sprang von ihrer Schulter und stellte sich vor sie.
„Öffne deine Flügel", sagte Mara an die Geisterschwinge gewandt. Kuro öffnete daraufhin zögerlich seine Schwingen und ließ die Sonnenstrahlen durch die blaue Flügelmembran fallen. „Beweg deine Flügel auf und ab. Werde dabei immer schneller."
Kuro begann, seine Flügel zu bewegen. Zuerst war die Bewegung ruckartig und verkrampft, doch nach wenigen Wiederholungen wurden sie flüssiger. Er erzeugte einen kleinen Wind, der das Gras um ihn herum aufwirbeln ließ.
„Das ist erst der Anfang. Ich werde dich in meine Hände nehmen und du bewegst kontinuierlich deine Flügel. Du musst spüren, wie die Luft sich in deinen Flügeln verfängt."
Mara stand wieder auf und nahm Kuro in ihre Hände. Von Kuro nahm sie einen Anflug von Angst wahr. „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin bei dir und halte dich fest."
Die Worte beruhigten Kuro und Mara begann langsam im Garten umherzu schreiten. Kuro bewegte seine Flügel und wurde immer schneller. Daraufhin beschleunigte auch sie ihre Schritte und schon bald kam es ihnen so vor, als würde Kuro in der Luft fliegen. Die Frau ließ die Geisterschwinge nicht los, konnte aber spüren, wie sein Körper immer wieder aus ihren Händen abhob. Sobald Kuro merkte, dass er in Sicherheit war, begann ihm die Flugstunde Spaß zu machen. Die freudige Art schwappte auf Mara über und bald rannte sie mit Kuro in der Hand lachend über das Gras.
Sie vergaßen die Zeit und bald schon stand die Sonne über ihnen. Mensch und Geisterschwinge bemerkten nicht, wie Chrisi zu ihnen in den Garten trat und beide beobachtete.
Chrisi sah, wie Kuro immer weniger Maras Unterstützung benötigte und bald schon ein paar Flügelschläge in der Luft verweilen konnte.
„Das funktioniert schon sehr gut", sagte sie mit gedämpfter Stimme, um die anderen nicht zu erschrecken. Keuchend blieb Mara stehen und blickte zu ihrer Freundin.
„Kuro macht Fortschritte! Hast du das gesehen? Er ist geflogen." Chrisi lächelte sie an und trat zu Mara. Kuro lag mit dem Bauch auf Maras Händen und ließ erschöpft seine Flügel hängen. „Das sah wunderbar aus, Kuro. Du bist geflogen", sagte Chrisi an die Geisterschwinge gewandt.
Kuro hob seinen Kopf und zwinkerte Chrisi dankbar zu.
„Bin ich das wirklich?", fragte Kuro in Maras Gedanken.
„Oh ja! Du hast meine Hand drei Flügelschläge lang nicht berührt."
Stolz stand Kuro auf und Mara hob ihn auf ihre Schulter.
„Habt ihr Hunger?", fragte Chrisi ihre Freunde. Diese nickten ihr zu und zu dritt verließen sie den Garten und traten in den Haupttrakt des Anwesens. Dort angekommen, wendeten sie sich in Richtung Küche.
„Wie lief es gestern mit Matheo?", wollte Chrisi wissen und Mara erzählte von ihrem gestrigen Tag.
„Ich verstehe. Es ist sozusagen ein Tauschgeschäft, das ihr mit Matheo eingegangen seid. Wissen gegen Wissen", sagte Chrisi und hielt Mara die Tür zur Küche auf. „Matheo ist ein aufrichtiger Mensch und er würde euch nicht helfen, wenn er euch nicht vertraut. Ich freue mich zu hören, dass ihr Fortschritte in Bezug auf Kuros Herkunft macht."
In der Küche angekommen, begrüßte sie Therese. Die Köchin stellte mehrere Schalen voll Essen auf den Essenstisch, an den sich die beiden jungen Frauen setzten. Zudem eine Schale mit verschiedenen Früchten für Kuro.
„Ich habe bereits von unserem kleinen Gast gehört. Ich hoffe, es schmeckt dir", sagte Therese an Kuro gewandt. Dieser stürzte sich als Antwort direkt auf die Früchte und begann diese zu verspeisen.
Mara und Chrisi aßen einen köstlichen Eintopf mit selbstgebackenem Brot. Mara bewunderte die Kochkünste von Therese und war froh über die warme Mahlzeit.
Sobald beide Frauen fertig mit dem Essen waren, halfen sie Therese beim Abräumen. Kuro schleckte seine Pfoten sauber, sobald seine Schüssel geleert war. Zufrieden sprang er in Maras Hand.
„Ich muss zurück in die Praxis meines Vaters. Wir haben viele Tiere, die gepflegt werden müssen. Thomas wartet bereits draußen auf euch, um euch zu Matheo zu bringen." Mit diesen Worten verabschiedete sich Chrisi.
„Dann wollen wir mal zu Matheo", sagte Kuro in ihren Gedanken und Mara ging auf die Haupttüre zu. Draußen stand bereits das Automobil. Thomas stieg soeben aus dem Gefährt aus und hielt einen Gegenstand in der Hand. Beim Näherkommen erkannte Mara, dass es sich um einen Rucksack aus Stoff handelte.
„Den Rucksack habe ich in der Werkstatt gefunden und dachte mir, er könnte euch von Nutzen sein."
Dankend nahm Mara den Rucksack entgegen und öffnete diesen. Thomas hatte in den großen Raum eine kleine Decke gelegt.
„Was wollen wir damit?", fragte Kuro.
„Der Rucksack ist dafür da, dass du bequemer reisen kannst. Ich kann dich somit auf meinem Rücken tragen."
Die Idee schien Kuro zu gefallen. Mit einem kleinen Sprung verschwand er im Rucksack und rollte sich zu einem pelzigen Knäuel zusammen. „Er gefällt mir", sagte er und Mara lächelte ihn gütig an.
„Wollen wir aufbrechen?", fragte Thomas und Mara nickte ihm zu.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top