Die Bibliothek
Als Mara ihre Augen öffnete, wurde sie mit Kopfschmerzen bestraft. Benommen blinzelte sie, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Langsam hob sie ihren Kopf an und blickte sich um. Die Braunhaarige bemerkte, dass Kuro mit geschlossenen Augen neben ihr lag. Neben ihrem Bett saß Herr Rid und blickte sie besorgt an und fragte, wie es ginge.
„Mein Kopf schmerzt. Was ist passiert?", wollte sie sogleich wissen.
„Du bist auf dem Weg in die Bibliothek ohnmächtig geworden. Thomas hat am Straßenrand angehalten und versucht dich zu wecken. Doch ohne Erfolg. Daraufhin ist Thomas umgekehrt."
Langsam kehrte die Erinnerung in Maras Gedächtnis zurück. Benommen fragte Mara nach, wie lange sie bewusstlos war.
„Du warst etwa eine Stunde bewusstlos. Als Thomas und ich dich ins Zimmer getragen haben, fanden wir Kuro ebenfalls bewusstlos in deinem Bett liegen." Sein Blick fiel auf die Geisterschwinge.
Mara hob ihre gesunde Hand und legte sie behutsam auf den kleinen Körper. Sie konnte spüren, wie die Geisterschwinge langsam atmete und ihre Sorgen verblassten. Zweifel überkamen sie, dass dies kein Zufall sein konnte. Herr Rid fragte nach, was passiert sei und Mara erklärte ihm die Vorkommnisse. Der Mann hörte ihr aufmerksam zu. Nach ihrer Erzählung blickte er nachdenklich auf Kuro.
„Ich vermute, dass eure besondere Verbindung im Zusammenhang mit eurer Ohnmacht steht. Wir müssen warten, bis Kuro erwacht. Ruhe dich gut aus."
Mit diesen Worten stand Herr Rid auf und verließ das Zimmer. Mara richtete ihren Oberkörper auf und legte Kuro vorsichtig in ihren Schoss. Liebevoll streichelte sie über die blau schillernde Membran seiner Flügel. Das kleine Wesen wirkte zerbrechlich und hilflos. Der Wunsch kam in ihr auf, ihm zu helfen. In ihren Gedanken keimte eine Idee auf. Mara schloss ihre Augen und konzentrierte sich auf ihre Atmung. Ihre Kopfschmerzen versuchte sie zu ignorieren und nach wenigen Atemzügen spürte sie, wie sich ihr Körper entspannte. Anschließend bündelte sie ihre Gedanken und legte das positive Gefühl der Freude hinein. Ihre Gedanken erfüllten sie mit einer Zufriedenheit, die sie selten erlebt hatte. Weiterhin konzentrierte sich Mara auf ihr Inneres und tastete in ihren Gedanken nach Kuro. Sie wollte ihre Suche fast aufgeben, als sie in ihrem hintersten Bewusstsein eine kleine Flamme entdeckte. Langsam näherte sie sich dieser. Mara verstand, dass die kleine Flamme Kuros Verbindung zu ihr war. Sie konzentrierte sich auf die Flamme und schickte ihre Gedanken zu ihr. Die Flamme erzitterte unter ihrer Berührung und die Frau konnte spüren, wie ein Schauer durch ihren Körper fuhr. Wie eine Ertrunkene hielt sie sich an ihrem Gedanken und der kleinen Flamme fest. Immer tiefer drang sie in die Flamme ein, bis diese sie vollständig umhüllte.
Daraufhin ließ Mara ihre Gedanken zu einer festen Form manifestieren. „Kuro, bitte wach auf." Ihr innerer Ruf war leise und brüchig. Frustration durchdrang ihre Gedanken und drohten die Verbindung zu durchbrechen. Mara atmete einmal tief durch und konzentrierte sich erneut auf Kuros Präsenz. Sie legte mehr Kraft in ihre Gedanken. „Kuronirokiani. Ich brauche dich. Bitte wach auf", erschallte ihr Ruf deutlich lauter. Mara spürte, wie Kuros Flamme unter ihrem Ruf erzitterte und begann größer zu werden.
„Mara? Bist du da?", erklang Kuros müde Stimme. Ihre Verbindung brach ab, als Mara ein freudiges Keuchen ausstieß. Auf ihrer Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Sie öffnete ihre Augen und blickte Kuro an. Die Geisterschwinge öffnete ihrerseits schläfrig ihre Augen und schüttelte sich benommen.
„Was ist passiert? Du warst mit deinen Gedanken bei mir und hast mit mir gesprochen."
In wenigen Worten erzählte Mara ihrem kleinen Freund von den Ergebnissen. Kuro blickte sie nachdenklich an.
„Ich spürte ebenfalls einen starken Schmerz in meinem Kopf. Anschließend fielen mir die Augen zu und ich wurde bewusstlos. Du hast recht. Es ist kein Zufall, dass wir beide gleichzeitig ohnmächtig wurden", erklärte Kuronirokiani. „Wir Geisterschwingen können uns in unserem Leben nur ein Mal an einen Menschen binden und diese Verbindung ist nicht mehr rückgängig zu machen. Sobald Mensch und Geisterschwinge eine Verbindung eingegangen sind, bleiben sie für immer zusammen. Selten trennen sie sich voneinander und vermeiden es, zu große Distanzen zwischen sich zu bringen. Ich habe früher nicht verstanden, aus welchem Grund diese Vorsichtsmaßnahme galt. Doch seit heute bin ich mir sicher. Wir sind gedanklich miteinander verbunden und diese Verbindung lässt es nicht zu, dass wir uns weiter voneinander trennen. Leider mussten wir dies auf eine sehr schmerzhafte Weise lernen."
Kuro setzte sich langsam auf und blickte Mara an. Die Frau überlegte kurz. „Das macht das Ganze etwas komplizierter. Ich war höchstens 500 Meter vom Haus entfernt."
„Ich finde nicht, dass das kompliziert ist. Ich bleibe immer bei dir, egal, wohin du gehst."
Kuros Worte stimmten Mara nachdenklich. Aufgrund seiner geringen Größe könnte die Geisterschwinge tatsächlich immer bei ihr bleiben. Kuro müsste sich an ihr verstecken, sodass ihn kein Mensch zu Gesicht bekam. Was die Frau nicht gebrauchen kann, sind neugierige Blicke und Meldungen an das hohe Amt, weil sie mit einem sonderbaren Wesen herumläuft. Die Beschützer dieser Stadt behandelten Absonderlichkeiten mit roher Gewalt.
Mara nickte Kuro zu. „Ich denke, wir kriegen das hin. Ein Vorteil hat es, wenn du mit mir mitkommst. Du erfährst bei Matheo alles über deine Herkunft, ohne dass ich es dir im Nachgang erklären muss."
Sichtlich zufrieden wackelte Kuro mit seinen Ohren. Mara erkundete sich nach seinem Gesundheitszustand. Darauf antwortete Kuro, dass sein Kopf sich anfühle wie in Watte gepackt, aber ansonsten schien sein körperlicher Zustand unversehrt. Voller Tatendrang setzte sich Mara in ihrem Bett auf. Ein leichter Schmerz in ihrem Kopf erinnerte sie an die Ohnmacht.
Mit einem vorsichtigen Schritt trat Mara vom Bett weg. Sie zog ihre Jacke über ihre Schultern und hielt Kuro ihre offene Hand hin. Die Geisterschwinge sprang hinein und ließ sich von ihr durch das Zimmer zur Türe tragen. Mara trat in den dahinterliegenden Gang und wendete sich zur Haupthalle. In der Haupthalle kam ihr Therese entgegen. Die ältere Köchin grüßte sie freundlich und blickte neugierig auf Kuro in ihrer Hand. Höflich behielt sie ihre Fragen für sich. Mara erkundigte sich bei der Köchin, wo sie Thomas finden konnte. Therese erklärte ihr den Weg und Mara ging zum Eingang des Anwesens.
Die Sonne begrüßte sie mit ihren warmen Sonnenstrahlen. Den Diener fand Mara in einer kleinen Hütte neben dem Gebäude. Thomas war gerade dabei, in einer größeren Kiste zu wühlen, als Mara langsam in die Hütte trat.
„Fräulein Mara. Wie ich sehe, geht es dir wieder besser. Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt", begrüßte sie der Mann. Mara entschuldigte sich bei ihm für die Umstände.
„Das muss nicht sein. Du konntest es nicht beeinflussen." Die Worte stimmten Mara zufrieden. Sie bemerkte, dass Kuronirokiani neugierig auf Thomas blickte. „Darf ich dir Kuro vorstellen."
Thomas verbeugte sich leicht vor ihr. „Es ist mir ein Vergnügen, Kuro."
Mara erklärte Thomas in kurzen Sätzen, aus welchem Grund sie das Bewusstsein verloren hatte. „Aus diesem Grund wird uns Kuro zur Bibliothek begleiten", endete ihre Erklärung.
„Ich verstehe. Wenn ihr wollt, fahre ich euch mit dem Automobil zur Bibliothek."
Mara willigte ein und folgte Thomas aus der Hütte. Der Diener ging um die Hütte herum. Das Automobil stand in einer kleinen Stallung, um vor den Wettereinflüssen geschützt zu sein.
Mara spürte die verwirrten Gedanken von Kuro. „Keine Angst. Das Automobil ist ungefährlich." Da Kuro in ihrer gesunden Hand saß, öffnete Thomas für sie die Autotür. Sobald die Braunhaarige ihren Platz auf dem Beifahrersitz eingenommen hatte, kletterte Kuro aus ihrer Hand in ihren Schoss. Als der Diener auf dem Fahrersitz saß, startete er den Motor. Kuro erschrak sich und drückte seinen kleinen Körper gegen Maras Bauch. Mit ihrer gesunden Hand legte sie eine Hand auf seinen Rücken, um ihm zu symbolisieren, dass er keine Angst haben muss. Nach kurzer Zeit beruhigte sich die Geisterschwinge und blickte neugierig aus dem Fenster.
„Diese Stadt ist düster", stellte Kuro fest. Mara stimmte ihm zu. „Diese Stadt ist wie ein Gefängnis."
Die Autofahrt verlief ohne Komplikationen. Thomas bog in eine viel befahrene Straße ein und hielt vor einem großen Gebäude.
„Wir sind da", verkündete der Diener. Mara bedankte sich bei ihm und blickte auf Kuro.
„Denkst du, du kannst dich in meiner Innentasche meiner Jacke verstecken?" Sie öffnete ihre Jacke und hielt Kuro die kleine Tasche, die im Innenraum ihrer Jacke vernäht war, auf. Die Geisterschwinge begutachtete die Tasche. „Wenn es sein muss."
Mit einem unbeholfenen Sprung verschwand der kleine Körper. Nachdem sich Kuro mehrmals gedreht hatte, kam sein Kopf aus der Tasche. „Ich wäre so weit", verkündete er und Mara schloss vorsichtig den Reisverschluss.
„Ich warte hier auf euch", verkündete Thomas und Mara öffnete die Tür. Mit einem letzten tiefen Atemzug trat sie in das Getümmel.
„Dann mal los", sagte Mara und trat auf das Gebäude zu.
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