Der Verbündeter

Mara schritt mit großen Schritten auf das Gebäude zu. Das Gebäude bestand aus einem Haupttrakt, der von einer großen Glaskuppel bedeckt wurde. Vom Haupttrakt aus gingen mehrere Nebengebäude ab. Mit der Zeit wurde die Bibliothek mehrmals vergrößert. Alles Wissen der Stadt ist hier versammelt.

Was ist eine Bibliothek?", wollte Kuro von ihr wissen.

„Eine Bibliothek ist ein Gebäude, in dem alles an Wissen gesammelt wird", erklärte Mara, als sie an mehreren Studenten vorbeiging. Zum Glück waren diese zu vertieft in ihren Unterhaltungen, als dass sie Maras Monolog mitbekommen hätten. „Viele Menschen kommen hierher, um das Wissen zu erforschen und zu erlernen. Ich selbst war einige Male hier für mein Studium."

Ich verstehe. Die Mönche und die älteren Geisterschwingen haben auch viel gelernt."

Mara ging durch eine große Eingangstür und betrat einen Flur. Der Boden war mit hellem Marmor versehen und spiegelte das Licht, das durch die Glaskuppel geworfen wurde, auf die Wände zurück. Der Anblick erstaunte sie immer wieder, obwohl sie bereits mehrere Male durch die Halle geschritten war.

„Kann ich dir helfen?", riss Mara eine fremde Stimme aus ihren Träumereien. Mara blickte zu der Stimme, die direkt vor ihr erklungen war. Sie gehörte einer Frau, die hinter einer langen Theke stand. Aus ihren vorherigen Besuchen wusste Mara, dass die Menschen hinter der Theke die Angestellten der Bibliothek waren. Die Frau, die sie angesprochen hatte, lächelte sie sanft an.

„Vielen Dank. Das können Sie tatsächlich", erwiderte Mara. „Mein Name ist Mara und ich bin auf der Suche nach einem Professor namens Matheo."

Die Dame hinter dem Tresen nickte. „Professor Lichtenfels erwartet dich bereits. Wenn du möchtest, zeige ich dir den Weg zu seinen Räumlichkeiten?"

Mara nahm das Angebot dankend an. Die nette Dame verschwand durch eine Tür an der hinteren Wand. Kurze Zeit später ging neben Mara eine weitere Tür auf. Die Dame trat aus der Tür und hob ihren Arm. Sie deutete auf die linke Seite des Gebäudes. „Dann folge mir bitte."

Die Frau drehte sich um und schritt durch die große Halle. Mara folgte ihr und passte sich ihren schnellen Schritten an. Beide Frauen traten durch eine Türe in ein Nebengebäude der Bibliothek. Hinter der Tür befanden sich reihenweise Regale mit Büchern. Mara wusste, dass jedes Gebäude einen anderen Bereich beherbergte. Soweit sie wusste, war der Bereich, in dem sie sich soeben befanden, der, der die Themen rund um Biologie beinhaltete.

Die Bibliotheksfrau hielt nicht an und schritt weiter die Bücherreihen entlang. Mit eiligen Schritten folgte Mara ihr und ließ die Buchreihen sehnsüchtig hinter ihr. Sie liebte es, in Büchern zu stöbern und ihr Wissen zu erforschen.

Plötzlich durchfuhr Mara ein eiskalter Schauer. Kuro regte sich überrascht in ihrer Tasche. Maras Blick glitt sich vom Rücken ihrer Führerin ab und wendete sich nach rechts in einen der Büchergänge. Erschrocken blieb sie stehen und blickte in die eisigen Augen eines Fremden, der sie neugierig musterte. Der Fremde hatte schwarze Klamotten und gleichfarbige Haare. Die Mundwinkel des Fremden zogen sich zu einem Lächeln nach oben. Erneut durchfuhr Mara einen Schauer. Das Lächeln war alles andere als einladend und freundlich.

Mara?", erklang Kuros besorgte Stimme in ihrem Kopf und die Geisterschwinge bewegte sich in ihrer Tasche. Aus Angst, dass Kuro aus ihrer Jacke flog, löste sie den Blick von dem Fremden und blickte auf die kleine Beule. Mara konnte nicht mit Kuro offen sprechen, doch sie versuchte ihm aufmunterte Gedanken zu schicken. Als es funktionierte und Mara ihren Kopf wieder anhob, um ihren Blick erneut auf den Fremden zu richten, musste sie feststellen, dass dieser verschwunden war.

Verwunderung und Überraschen durchfuhr sie. Zudem ein Gefühl, dass sie dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte.

„Wir sind gleich da", ertönte die Stimme der Bibliotheksdame und riss Mara aus ihrer Starre. Mit einem letzten Blick in den schmalen Gang setzte sie ihren Weg fort und folgte der Frau.

Die Angestellte der Bibliothek führte Mara in den hinteren Teil des Gebäudes. Der Gang wurde schmaler und an jeder Seite gingen Türen in hintere Räume über. Mara war bewusst, dass diese Räumlichkeiten den Professoren gehörten. Vor einer dieser Türen blieb die Dame stehen.

„Hier wären wir. Den Weg zurück findest du allein?", fragte sie und ohne Maras Antwort abzuwarten, drehte sich die Frau um und ging den Weg zurück zur Haupthalle.

Mara wunderte sich über den schnellen Abgang und hob die Hand. Mit mehreren kleinen Bewegungen aus dem Handgelenk klopfte Mara gegen die Tür. Von drinnen war kein Geräusch zu hören. Als Mara schon dachte, dass der Professor nicht in seinen Räumlichkeiten war, kam von drinnen ein „Herein".

Mara öffnete die Tür und trat in einen hellen Raum. Der Raum war mit vielen Büchern versehen und in der Mitte stand ein großer Tisch. Auf dem Tisch befanden sich mehrere Reagenzgläser, über die sich ein Mann in einem weißen Umhang beugte.

„Du musst Mara sein?", sagte der Mann, ohne sich zu ihr umzudrehen. Mara schloss hinter sich die Tür.

„Das bin ich. Sie sind Matheo Lichtenfels?"

Ohne auf ihre Frage zu antworten, richtete sich der Mann auf und drehte sich zu ihr um. Matheo hatte kurze weiße Haare, die ein sanftes Gesicht umrahmten. Seine Augen wirkten neugierig und hatten die Farbe von Smaragden. Über seinen Augen trug Matheo eine runde Brille. Unter seinem weißen Umhang hatte der Professor ein blaues Hemd und eine schwarze Hose an.

„Du kannst mich gern Matheo nennen. Freunde von Markus Rid sind auch meine Freunde. Komm her und setzt dich. Es ist zwar alles voller Bücher und Forschungsmaterial, aber du kannst dich auf einen dieser Stühle setzen."

Matheo deutete auf zwei Stühle, die vor einem kleinen Tisch standen. Mara trat an einen der Sitzgelegenheiten und setzte sich hin. Der Professor nahm im anderen Stuhl Platz.

„Markus Rid hat dich bereits angekündigt. Du würdest gern mehr über die Wesen namens Geisterschwinge erfahren?" Verwirrt blickte Mara ihn an. „Oh, keine Angst. Markus und ich sind alte Freunde."

Matheo kommt gleich auf das Thema zu sprechen", meldete sich Kuro in ihren Gedanken.

„Das stimmt. Ich würde gern mehr über die Geisterschwingen erfahren. Wo kommen sie her und was macht sie so besonders?", erklärte Mara dem Professor und ignorierte Kuros Feststellung.

„Das Wissen auf diesem Gebiet ist, wie soll ich sagen, sehr beschränkt. Erzähl mir doch zuerst, wieso du etwas über Geisterschwingen erfahren möchtest", sagte Matheo und blickte Mara neugierig an.

Ich denke, wir können ihm vertrauen", erklang Kuros Stimme. „Herr Rid tut es schließlich auch."

Mara gab ihm recht. Matheo schien vertrauenswürdig. „Sie müssen wissen, dass ich nicht allein hergekommen bin", erklärte Mara und öffnete ihre Jacke. Kuronirokiani sprang mit einem Satz auf den kleinen Tisch und legte seine blau schillernden Flügel an seine Seite. Anschließend setzte er sich und blickte den Mann neugierig an.

Matheos Augen weiteten sich vor Erstaunen. „Du hast eine Geisterschwinge bei dir?" Der Mann beugte sich zu Kuro nach unten. „Das ist ein fast ausgewachsenes Exemplar. Wie bist du in seinen Besitz gekommen?"

Kuro schnaubte missbilligend. „Exemplar? Du kannst ihm ruhig erzählen, wie ich heiße und, dass ich ihn verstehen kann."

Mara lächelte. „Das ist Kuronirokiani und er kann verstehen, was Sie sagen." Da weiteten sich die Augen des Professors erneut.

„Du kannst ihn in deinen Gedanken hören?" Mara nickte Matheo zustimmend zu. „Du musst mir alles erzählen. Dass ein Mensch mit einer Geisterschwinge kommunizieren kann, ist nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich."

Mara begann die Geschichte zu erzählen, wie sie Kuro gefunden und wie sie ihre besondere Verbindung geschlossen hatten. Zudem erzählte sie ihm die Geschehnisse der letzten Tage. Kuro ergänzte ihre Erzählungen an ein paar Stellen, die sie miteinfließen ließ. Als Mara mit ihrer Erzählung geendet hatte, blieb Matheo still. Er schien über ihre Worte nachzudenken.

„Weißt du, wie der Mann hieß, der unter deiner Wohnung gelebt hatte?", brach Matheo das Schweigen.

„Er hieß Christian Karera", erklärte ihm Mara. Ihr war nicht bewusst, wieso ihr Nachbar bei der ganzen Sache eine Rolle spielen sollte.

„Ich dachte mir fast, dass Karera dahintersteckte. Wusstest du, dass er für die Regierung arbeitet? Nach deinem überraschten Gesichtsausdruck zu urteilen, wusstest du es nicht. Karera war einer meiner früheren Kollegen gewesen. Wir erforschten beide die Gebiete außerhalb der Stadt. Er spezialisierte sich auf die Lebewesen und ich auf die Mächte außerhalb unserer Wahrnehmung. Wir ergänzten unsere Arbeiten und haben viele Jahre zusammengearbeitet", erklärte Matheo und fuhr mit seiner rechten Hand durch seine Haare.

„Eines Tages erklärte mir Christian, dass er einen neuen Job hatte und verschwand. Ich ging davon aus, dass er in einer anderen Stadt an einer anderen Universität angestellt war, doch nach ein paar Jahren erblickte ich ihn auf einer Expedition. Dort erkannte ich, dass er mit Personen aus der Regierung unterwegs war. Zum Glück bemerkten sie mich nicht. Meine Expedition war nicht verboten, aber ich wollte dennoch nicht von der Regierung entdeckt und befragt werden. Christian war ein zu netter Mensch und bemerkt wahrscheinlich nicht, dass er von der Regierung ausgenutzt wird." Mara nickte verständlich. Schon oft hatte sie gehört, dass es besser sei, wenn man nicht die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich zog.

Ich gebe Matheo recht. Christian war ein netter Mensch", ergänzte Kuro die Erzählungen vom Professor.

„Darf ich wissen, wie du in die Stadt gekommen bist, Kuro?", fragte Matheo an die Geisterschwinge gewandt. Mara erzählte ihm, dass Kuro vor vielen Jahren von seinen Artgenossen und den Menschen, bei denen sie lebten, getrennt wurden.

„Auf dieser Welt gibt es nicht mehr viele Orte, an denen Geisterschwingen leben. Die Menschen, bei denen du gelebt hast, waren Mönche?", fragte Matheo und Kuro nickte ihm zustimmend zu. „Dann habe ich eine grobe Ahnung, woher du stammen könntest. Geisterschwingen leben für gewöhnlich nur unter sich, außer an einem bestimmten Ort. Dort haben sie sich mit den Menschen zusammengetan."

Kann er uns sagen, wo dieser Ort ist?", fragte Kuro und Mara wiederholte seine Worte.

Matheo brummte etwas Unverständliches. „Dieses Wissen ist sehr gefährlich und nicht einfach zu erhalten. Ich würde euch beide gern etwas näher kennenlernen, bevor ich euch mein Wissen anvertraue. Ich verstehe, dass Kuro so schnell wie möglich zu seinen Artgenossen zurückkehren will, doch ich möchte euch auch schützen. Zuerst müsst ihr euch anderes Wissen aneignen."

Frustriert seufzte Mara. Dennoch klangen die Worte des Professors in ihren Ohren logisch. Mara und Kuro waren Fremde für Matheo. Das Wissen war gefährlich und so war es verständlich, dass Matheo nicht jedem dieses anvertraute.

Matheo schien die Zurückhaltung von Mara zu spüren. „Keine Angst. Ich versichere euch, dass ihr in mir einen Verbündeten gefunden habt. Ich behalte euer kleines Geheimnis und würde mich freuen, wenn wir von jetzt an zusammenarbeiten. Wie wäre es, wenn wir uns jeden Tag am späten Nachmittag hier in meinen Räumlichkeiten treffen? Ich teile euch mein Wissen und ihr hilft mir. Insbesondere du, Kuro. Wäre es für dich in Ordnung, wenn ich dich untersuche? Zudem habe ich viele Fragen an dich."

Sag ihm, dass es in Ordnung ist, solange er keine Experimente mit mir anstellt."

Als Mara ihm die Worte weitervermittele, lachte Matheo kurz auf. „Keine Angst, Kuronirokiani. Du bist für mich nicht irgendein Experiment. Du bist ein Lebewesen wie wir Menschen auch."

Die Worte stimmen Kuro zufrieden. Nach der Unterhaltung stand Matheo auf und klopfte sich auf die Beine. „Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet. Ich habe noch ein paar Reagenzgläser zu untersuchen. Wir sehen uns dann morgen um die gleiche Zeit wieder."

Mara und Kuro verabschiedeten sich von Matheo. Die Geisterschwinge verschwand erneut in Maras Jackentasche und beide verließen den Raum.

Das lief besser als gedacht", sagte Kuro in Maras Gedanken.

„Ich bin gespannt, was wir alles über dich erfahren werden", erklärte Mara. Die Frau ging durch das Gebäude, bis sie zum Haupttrakt kamen. Dort verabschiedete sie sich von den Angestellten und trat nach draußen in die Nachmittagssonne.

Thomas erwartete sie bereits am Automobil. Sobald Mara eingestiegen war, überkam sie eine Müdigkeit und sie schloss für kurze Zeit ihre Augen. Sofort kam die Erinnerung an den Fremden und sie sah die eisblauen Augen aufblitzen. Kuro kletterte aus der Tasche und legte sich in ihren Schoß. Mit geschlossenen Augen hob sie ihre verletzte Hand und legte diese behutsam auf die Geisterschwinge. Unter dem Verband konnte sie spüren, wie sich Kuros Brustkorb langsam bewegte. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht und ihre Gedanken beruhigten sich. Mara freute sich, dem Geheimnis von Kuro ein Schritt näher gekommen zu sein. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top