Der Sturm
Die Tage vergingen im gleichen Rhythmus. Sobald Mara und Kuronirokiani in ihrer Zelle aufwachten, blieben sie still nebeneinander liegen, zu schwach nach der seelischen Qual, sich zu bewegen. Anschließend kam Kiran, um ihre Handgelenke zu behandeln. Tauchte Kiran auf, um sie zu einer weiteren Foltereinheit abzuholen, nahm er ihr die schützenden Verbände ab. Trotz der Salbe wurden ihre Handgelenke immer blutiger und die Haut löste sich auf. Darunter kam das rosige Fleisch zum Vorschein und brannte wie Feuer.
Mara ertrug die Schmerzen, genau wie sie ihre gereizte Verbindung zu Kuronirokiani ertrug.
Während Kiran ihre Hände das zweite Mal verband, blieb er still. Mara versuchte, mit ihm ein Gespräch aufzubauen, doch schnell stieß sie dabei auf ihre Grenzen. Kiran konzentrierte sich ausschließlich auf ihre Behandlung und verließ kurz darauf wieder die Zelle. Enttäuscht blieb Mara zurück. Sie hatte gehofft, in gewisser Weise das Eis zu brechen. Doch von seiner Seite schien kein Interesse an einem Gespräch zu bestehen.
Nach einer etwas längeren Pause zwischen den Foltermethoden wurde sie erneut zum Meister gerufen. Noch immer verriet er ihr nicht, was er mit seiner Folter bezwecken wollte. Er redete in Rätseln, die für Mara fast genauso unerträglich waren, wie die Qualen an sich. Bei der fünften Folter waren die Schmerzen besonders schlimm. Es schien, dass der Meister mit jedem Male dazulernte. Er reizte die Entfernung aus und ließ Mara und Kuronirokiani nie bewusstlos werden. Somit zog sich die Qualen unerträglich lange hin. Maras Körper bebte und schrie nach Erlösung. Schweiß bedeckte ihren ganzen Körper und die kalte Luft fühlte sich eisig auf ihrer Haut an.
Das Sprechen fiel ihr zunehmend schwerer, bis ihr die Stimme komplett versagte. Kein Schrei drang mehr aus ihrer Kehle und so blieb sie schlaff in ihren Fesseln hängen. Bei dieser Folter waren ihre Qualen so groß, dass Mara bei der Bewusstlosigkeit, in die sie glitt, dachte, dass sie dem Tod nah stand. Dankbar begab sie sich in die dunklen Hände, begleitet von einem frustrierten Schrei vonseiten des Meisters, der durch den Innenhof hallte.
Langsam erwachte Maras aus ihrem traumlosen Schlaf und sie öffnete träge ihre Augen. Sie spürte ihren Körper kaum und als sie nach einer gefühlten Ewigkeit ihren Kopf bewegte, stellte sie überrascht fest, dass sie nicht allein mit Kuronirokiani in der Zelle war. Neben ihrer Pritsche saß Kiran und beobachtete sie aus seinen blauen Augen. Still begegneten sich ihre Blicke, unfähig, dass einer der Menschen etwas sagte. Die Zeit schien in diesem einen Augenblick stillzustehen. Mara versuchte in den Augen des Mannes zu lesen, doch seine Gefühle und Regungen blieben ihr verborgen.
Seufzend drehte sie ihren Kopf und blickte an die steinerne Decke. Sie konnte spüren, wie Kiran sie weiterhin beobachtete.
Ihre Erinnerungen an die Folter kehrten langsam zurück. Die Qualen waren unerträglich gewesen. Ihr Geist schrie nach Erlösung und Mara verlor die Hoffnung, dass die Pein jemals enden würde. Die Schmerzen endeten und sie wurde in einen dunklen Mantel gehüllt. Mit Erschrecken stellte Mara fest, dass sie dachte, sie würde sterben. Anstatt davor Angst zu haben, hatte sie den Tod willkommen geheißen. Jetzt verabscheute sie sich dafür. Tränen rannen aus ihren Augenwinkeln und verfingen sich in ihrem braunen Haar. Die einzige Möglichkeit, die sie in Erwägung gezogen hatte, war das Jenseits. Trotz ihrer immer fröhlichen und hoffnungsvollen Art wurden ihre Gedanken getrübt. Die Hoffnungslosigkeit war ein Gift, das sich durch ihre Adern fraß und sie von innen verzerrte.
Eine kleine Bewegung auf ihrem Bauch signalisierte ihr, dass Kuronirokiani bei ihr lag. Mara dachte an ihren kleinen Freund und das Versprechen, das sie ihm gab. Egal, welche Gefahren sie trotzen, Mara würde Kuro zu seinen Artgenossen bringen. Sie würde der Stadt, dem Meister und den Qualen, standhalten, solange sie konnte, nur um dieses Versprechen einzulösen. Kuronirokiani soll die Freiheit erlangen, die ihm als Geisterschwinge zustand.
Maras Tränen versiegten und sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie musste stark sein und diese Folter überstehen.
„In dir wütet ein Sturm", durchbrach Kirans Stimme die Stille. Mara öffnete ihre Augen und wendete ihren Kopf nach links, um den Mann anzublicken. „Die Zeit wird zeigen, ob dich der Sturm nach vorne tragen oder vernichten wird."
Mara schluckte. So hart seine Worte auch klangen, sie entsprachen der Wahrheit. Die Frau hatte einen Entschluss gefasst und würde sich nicht so einfach unterkriegen lassen.
„Was machst du hier?", fragte Mara mit schmerzender Stimme, um das Thema zu ändern. Ihre Kehle war von den Schreien rau und leicht geschwollen. Kiran bewegte sich und ihr kam es so vor, als wäre ihm die Situation unangenehm. Überrascht stellte sie fest, dass Kiran, nachdem er sie in die Zelle zurückgebracht hatte, bei ihr blieb.
„Ich habe auf dein Erwachen gewartet", entgegnete er ihr. „Zudem habe ich deine Wunden verbunden."
„Ich danke dir." Kiran nickte ihr daraufhin zu. „Könntest du mir helfen, mich aufzurichten?"
Mara wartete keine Antwort ab und stemmte ihre Hände auf die Pritsche. Durch die Anstrengung sammelte sich der Schweiß auf ihrer Stirn. Kurz bevor sie dachte, dass ihr die Kraft ausging, packten sie zwei starke Hände an den Schultern und zogen sie sanft nach oben. Kiran stand über sie gebeugt und drehte sie vorsichtig zu sich um, damit sie ihren Rücken an die Wand anlehnen konnte. Kuronirokiani rutschte auf ihre Beine. Die Geisterschwinge war noch nicht erwacht und Mara legte schützend eine Hand auf Kuros kleinen Körper.
„Du solltest vorsichtiger mit dir umgehen", sagte Kiran und setzte sich auf seinen selbst gemachten Stuhl aus Erde.
„Das mag sein. Ich möchte meinem Gegenüber aber gern in die Augen blicken, wenn ich mich mit ihm unterhalte." Mara war sich sicher, dass es einen Grund gab, wieso der schwarzhaarige Mann, nachdem er ihre Verletzungen verbunden hatte, in ihrer Zelle geblieben war. Aus einem inneren Instinkt heraus behielt sie die offensichtliche Frage für sich. „Seit wann weißt du, dass du die Erde bändigen kannst?", fragte sie stattdessen.
Aus Kirans Blick konnte sie für einen kurzen Augenblick das Gefühl der Überraschung erkennen. Mit dieser Fragestellung hatte er nicht gerechnet. Seine rechte Hand hob sich und fuhr durch sein pechschwarzes Haar. Mara bemerkte, dass Kiran passend zu seiner Haarfarbe schwarze Klamotten und einen schwarzen Umgang trug. Aufgrund des Kontrastes stachen seine eisblauen Augen umso mehr hervor.
Kiran ließ sich mit der Antwort Zeit. Ganz so als müsste er sich überlegen, was er ihr antwortete.
„Es fing im Alter von sechs Jahren an", sagte er zu Maras Überraschung. „Zunächst war es nur ein Gefühl von Verbundenheit. Ich konnte die Erde um mich herum wahrnehmen, spürte die Menschen um mich herum und nahm jeden noch so kleinen Stein wahr. In dem Alter denkt man noch, dass die Welt in Ordnung sei. Ich habe es meinen Eltern erzählt, die mein Können mir ausreden wollten. Sie dachten, es sei ein Hirngespinst und hat mit einer ausgeprägten Fantasie zu tun. Doch ein Jahr später konnte ich Kieselsteine anheben. Stolz, wie ich war, demonstrierte ich meinen Eltern meine Kräfte. Wie du dir sicher vorstellen kannst, waren sie alles andere als begeistert."
Mara hörte ihm aufmerksam zu. Sie war erstaunt, dass er ihr eine ausführliche Antwort auf ihre Frage gab. Sie ließ sich ihre Gefühlsregung nicht anmerken und war dankbar für die Unterhaltung, die sie mit Kiran führen konnte.
„Wie geht es weiter? Deine Eltern wollten sicher nicht, dass du diese Kräfte in der Öffentlichkeit zeigst."
Kirans Blick bohrte sich in ihre Augen. Ein Schauer fuhr Maras Rücken hinunter. Doch es war kein unangenehmes Gefühl. In seinem Blick lag etwas Vertrautes. Ein Ausdruck, der signalisierte, verstanden zu werden.
„Meine Eltern befahlen mir, meine Kräfte zu ignorieren."
„Und du konntest dieser Bitte nicht nachkommen."
Kiran schüttelte daraufhin den Kopf. „Wenn man einmal die Elementkräfte in sich spürt, ist es schwierig, sie zu ignorieren. Sie mischen sich in deinen Alltag und verfolgen dich ein Leben lang. Zu Beginn habe ich versucht, diese Kräfte zu unterdrücken, doch je mehr ich sie ignorierte, desto deutlicher zeigten sie sich in meinem Leben."
Der Blick des Mannes wendete sich ab und richtete sich auf einen Punkt in der Ferne, den Mara nicht verfolgen konnte. „So geschah es, dass ich mit elf Jahren bei einem Wutanfall eine ganze Häuserwand fast zum Einsturz gebracht habe. Daraufhin haben mich die Wächter gefunden und mitgenommen."
Stille kehrte zwischen ihnen ein. Mara war diese Art von Geschichten nicht unbekannt. Sie wusste, dass es üblich war, dass die Wächter Menschen mit Elementkräften mitnahmen. Doch bisher war ihr nicht bewusst gewesen, dass diese Personen in gewisser Weise frei leben durften. Sofern Kirans Leben als frei galt.
Kiran richtete seinen Blick wieder auf Mara. „Verschone mich bitte mit deinem Mitleid", sagte er und eine gewisse Kühle schwang in seiner Stimme mit.
Ein Lächeln stahl sich auf Maras Gesicht. „Mitleid war nicht das, woran ich gedacht habe. Ich bin verwundert, dass sie dich nicht weggesperrt haben. Ich dachte immer, dass die Menschen mit Elementkräften aus dem Weg geräumt werden."
„Das stimmt zum Teil. Die älteren Menschen werden an einen geheimen Ort gebracht, doch die jüngeren, so wie ich, bekommen die Chance, in die Lehre zu gehen und ihre Fähigkeiten zu verbessern. Ich ging in die Schule mit anderen gleichgesinnten Kindern. Jeder hatte mindestens ein Element, das sie beherrschen konnten. Ich war der Klassenbeste und bekam anschließend die Chance, beim Meister in die Lehre zu gehen."
Bei der Erwähnung des Meisters verschwand Maras Lächeln. Kiran bemerkte ihre Gefühlsregung und räusperte sich. Stille kehrte zwischen ihnen ein.
„Kannst du ein Element beherrschen?", fragte Kiran sie nun seinerseits.
Energisch schüttelte Mara ihren Kopf. „Die Kraft der Elemente blieb mir verwehrt. Ich bin nur eine normale Frau, die gehofft hatte nach ihrem Biologiestudium etwas Gutes bewirken können. Die Verbindung mit Kuronirokiani war zufällig."
„Was meinst du damit?"
Mara blickte Kiran verwundert an. Sie hatte gedacht, dass er diese Information aufgrund seiner Spionage, die er betrieben hatte, bereits wusste. Vorsichtig wählte sie ihre nächsten Worte mit Bedacht.
„Kuronirokiani und ich haben im selben Haus gelebt. Bei einem Unfall trafen wir uns und sind seitdem miteinander verbunden."
Kiran nickte. Sie wusste, dass sie seine Frage nur ober flächig beantwortet hatte. Der Mann war ihr gegenüber aufgeschlossener als die letzten Begegnungen, dennoch war er der Schüler seines Meisters. Mara musste davon ausgehen, dass jede Information, die sie ihm gab, auch dem Meister offenbart wird.
Dennoch ist Mara der Meinung, dass Kiran nicht auf Anweisung des Meisters bei ihr war. Nachdem sie keine Antwort auf ihre Frage erhalten hatte, ob sein Meister über seine Anwesenheit in ihrer Zelle Bescheid wüsste, war sich Mara sicher, dass Kiran aus eigenem Interesse sie besuchte.
Eine leichte Regung ließ Maras Blick auf ihre Beine wandern. Kuronirokiani erwachte und bewegte sich.
„Wie ich sehe, erwacht Kuronirokiani. Ich werde euch nun allein lassen", erwiderte Kiran und stand auf. Der Stuhl verschwand in der Erde und er drehte sich zum Ausgang um.
„Wirst du wiederkommen?", fragte Mara und war erstaunt über ihren dringlichen Tonfall. Kiran blieb stehen und blickte über seine Schulter. Auf seinem Gesicht zeigte sich ein kleines Lächeln und Mara blickte ihn erschrocken an. Sie hatte mit jeder Reaktion gerechnet, nur nicht mit dieser.
„Ich danke dir für die Unterhaltung", erwiderte er und verschwand aus dem Zellentrakt.
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