Der Schwur
Mara verlor in der Zelle jegliches Zeitgefühl. Aufgrund des Fehlens eines Fensters oder eines Lichtspalts konnte sie nie sagen, ob es Tag oder Nacht war. Minuten verstrichen für sie wie Stunden und die Zeit floss dahin wie Honig auf einem Löffel.
Irgendwann war sich Mara bewusst, dass die Spanne zur nächsten Folter weit über den bisherigen Turnus hinausging. Sie war froh um diesen Umstand, doch die nagende Ungewissheit wuchs mit jedem weiteren verstrichenen Moment. Jeden Augenblick rechnete Mara mit dem Erscheinen von Kiran und dass er sie zurück in den Innenhof brachte.
Der junge Mann kam regelmäßig bei ihr vorbei, um Kuro und ihr etwas zum Essen zu bringen. Jedes Mal unterhielten sie sich mit wenigen Sätzen, bis Kiran sich verabschiedete. Sie vermutete, er wollte die Besuche so kurz wie möglich halten, damit sein Fehlen nicht auffiel.
Nach dem fünften Mal, dass Kiran ihnen ein paar Lebensmittel vorbeibrachte, ließ er aus dem Boden einen Stuhl entstehen. Er setzte sich darauf und blickte Mara mit einem Blick an, den sie nicht deuten konnte. Er strahlte eine Ruhe aus, dennoch konnte sie an seinen Augen erkennen, dass er müde war. Kurz überlegte sie. „Es war spät am Abend, oder?", fragte sie ihn.
Kiran seufzte. „Um genau zu sein, ist es kurz nach Mitternacht."
Maras Vermutung, dass Kirans Besuche in diesem Umfang nicht geplant waren, bestätigte sich für sie soeben. Er musste sich um sie kümmern, doch der Meister wusste nicht, dass Kiran sich mit den Gefangenen unterhielt. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Kiran bemerkte ihren Gesichtsausdruck und blickte sie mit gerunzelter Stirn an.
„Was ist daran so amüsant?"
Mara schnaubte. „Du bist für mich ein Rätsel, das ich versuche, zu entschlüsseln. Soeben bekam ich einen Hinweis. Genauer kann ich es dir nicht erklären."
Kiran dachte über ihre Worte nach und fuhr sich mit seiner rechten Hand durch sein schwarzes Haar. „Ich verstehe, denke ich, was du meinst. Es klingt für dich seltsam, warum ich mitten in der Nacht hier auftauche und ich mich mit dir unterhalten möchte."
Mara nickte ihm zustimmend zu. Diese Frage schwebte seit dem ersten Moment, in dem Kiran zu ihr in die Zelle getreten war, in dem Raum. „Am Anfang habe ich mich nicht richtig euch gegenüber verhalten." Sein Blick wanderte zu Kuro, der eingerollt neben Mara lag. Seine gespitzten Ohren verrieten Mara, dass Kuronirokiani zwar so tat, als würde er schlafen, aber dem Gespräch aufmerksam folgte. „Doch als mein Meister euch diese Dinge angetan hat, habe ich begriffen, dass dies nicht der richtige Weg ist. Ihr seid in etwas Größerem verstrickt worden, ohne dass euch bewusst war, wie es um euch geschah." Seine eisblauen Augen blickten Mara an. „Ich bin meinem Meister ergeben und froh um die Chance, die ich erhalten habe. Doch ich habe begriffen, dass ich nicht jede Tat meines Meisters gutheißen muss."
Mara beobachtete, wie Kiran seine Kiefer aufeinander drückte, sodass sein Gesichtsausdruck grimmig und ernst wirkte. Dieses Geständnis muss ihm viel Kraft abverlangt haben. Ihre Meinung über den sonst so kühl wirkenden Mann, der sich vor ihr verschloss, wurde weicher. Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Danke für deine ehrlichen Worte. Damals, als du Kuro und mich vor dem bösen Geist gerettet hast, wusste ich, dass dein Wesen an sich nicht böse war. Ich bin dankbar dafür, dass du uns jeden Tag hier unten besuchst. Das muss sicher nicht einfach für dich sein. Ich kann dir das nicht übelnehmen, dass du für unsere Gefangennahme verantwortlich bist. Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich für das alles hier nicht verantwortlich mache."
Kiran beugte sich zu ihr vor und Mara erkannte in seinem Blick eine gewisse Erleichterung. Der Ausdruck in seinen Augen verschwand schnell wieder und sein erster Blick kehrte zurück.
„Ich danke dir", sagte er und deutete auf ihre Handgelenke. „Wie geht es deinen Händen?"
Mara zuckte mit ihren Schultern. Sie war froh um den Themenwechsel. „Es juckt. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen und bedeutet, dass die Wunde heilt."
„Das ist ungewöhnlich. Die Wunden sind erst ein paar Tage alt. Deine Regenerationsfähigkeit ist viel schneller als bei einem gewöhnlichen Menschen."
Mara nickte. „Deine Auffassung ist korrekt. Vor drei Wochen bin ich aus dem ersten Stockwerk meiner Wohnung aus dem Fenster geflogen. Ich vermute, die Verbindung zu Kuronirokiani lässt meine Wunden schneller heilen."
Kiran lehnte sich in seinem Sitz zurück und blickte sie nachdenklich an. „Das ist eine sehr nützliche Fähigkeit." Eine kleine Pause entstand zwischen ihnen. „Hast du Kuronirokiani bei dem Unfall kennengelernt?"
Maras Blick wanderte nach unten und betrachtete ihren kleinen, pelzigen Freund. Kiran schien das Gespräch mit ihr zu suchen, um mehr über sie und Kuro herauszufinden. Trotz seines Geständnisses von vorhin blieb sie vorsichtig. Ein schwaches Gefühl der Bestätigung ging von Kuronirokiani aus. Ihre geistige Verbindung begann langsam zu heilen und Mara spürte die Geisterschwinge schwach in ihren Gedanken. Die Kommunikation beschränkte sich auf Gefühle und sanfte Farben.
„Ich fand Kuronirokiani bewusstlos neben einem Trümmerhaufen. Ohne darüber nachzudenken, was er für ein Wesen war, hob ich ihn auf und bin zu Freunden gelaufen. Ich wartete nicht, bis Hilfe kam. Die Menschen um mich herum nahmen mich kaum wahr, da sie von der Explosion, die uns aus dem Haus geschleudert hatte, schockiert waren", erklärte Mara.
„Ich habe davon gehört. Es war ein Haus im südlichen Teil der Stadt. Es wird vermutet, dass eine Gasleitung undicht war und somit explodiert sei."
Mara behielt den Teil für sich, dass sie im Garten des Hauses Fremde entdeckt hatte. Diese Fremden waren sicherlich für das Feuer verantwortlich, das die Explosion hervorgerufen hatte.
„Weißt du, wo Kuronirokiani eigentlich herkommt? So ein Wesen habe ich noch nie gesehen", fragte Kiran und blickte Mara mit seinen blauen Augen an. Die Frau überlegte kurz, ob sie ihm diese Information preisgeben sollte und entschied sich dafür, die halbe Wahrheit auszusprechen.
„Kuronirokiani behauptet, dass er aus einem Wald außerhalb der Mauern stammt. Er lebte dort mit seinen Artgenossen, bis ihn Menschen einfingen und in die Stadt verschleppten." Eine Traurigkeit legte sich auf ihre Stimme und sie wendete ihren Blick ab.
„Das muss hart für ihn sein, so weit weg von seinen Artgenossen zu leben", sagte Kiran und zu ihrer Überraschung legte er, zuerst zögerlich, eine Hand auf ihren Unterarm. Mara nickte ihm dankbar zu.
„Aus diesem Grund habe ich geschworen, ihn zurückzubringen. Kuronirokiani soll die Chance, bekommen seine Familie und seine Freunde wiederzusehen." Maras Stimme klang entschlossener, als sie beabsichtigt hatte. Die Worte waren aus ihrem Mund gekommen, ohne dass sie dies gewollt hatte. Die Worte entsprachen der Wahrheit und ihr war es egal, ob sie mit ihrem Wunsch die Gesetze dieser Stadt brach. Kiran schien von ihrer Offenbarung, eine Verbrecherin zu werden, wenig beeindruckt.
„Ich verstehe deine Beweggründe, Kuro zu helfen. In einer Stadt wie dieser gefangen zu sein, muss ihn schwer verletzen. Die Natur vor der Stadt soll atemberaubend sein."
Mara war erstaunt über Kirans Feinfühligkeit. Sie hatte den Mann in dieser Sache falsch eingeschätzt. Dankbar schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen.
„Irgendwann werde ich es schaffen, diesem Gefängnis zu entkommen und Kuronirokiani zurück in die Freiheit zu bringen. Das ist mein Wunsch, der mich antreibt und diese Qualen überstehen lässt."
In ihrem Kopf explodierten die unterschiedlichsten Farben, als die Geisterschwinge seine Dankbarkeit ausdrückte. Mara legte eine Hand auf den Rücken ihres Freundes und kraulte das warme Fell.
Kiran fuhr sich mit den Händen über seine Augen. Ein erschöpfter Blick begegnete den ihren. „Ich werde euch nun verlassen und versuchen, noch etwas Schlaf zu bekommen. Ich danke dir für die Unterhaltung und dass ich euch etwas näher kennenlernen durfte." Mit diesen Worten stand er auf und verließ ihre Zelle.
Kuronirokiani hob seinen Kopf und seine kleinen Augen blickten in ihre. Mara legte sich zu der Geisterschwinge und schob einen Arm um seinen kleinen Körper. Der Schlaf ließ nicht lange auf sich warten und führte sie in das Reich der Träume.
Am nächsten Morgen durchquerte Kiran die großen Korridore. Sein nächtlicher Ausflug steckte noch in seinen Gliedmaßen und er fühlte sich erschöpft. Vor einer eisenbeschlagenen Türe blieb er stehen und klopfte höflich an. Von drinnen war eine leise Bestätigung zu hören und er öffnete den Eingang.
„Meister", begrüßte er den Mann, der an einem Schreibtisch saß. Der Angesprochene nickte und blickte weiterhin auf seine Dokumente, die ausgebreitet vor ihm lagen.
„Wie ich sehe, hast du den Botengang erledigt, um den ich dich gebeten hatte."
„Ihre Beauftragung wurde ausgeführt", entgegnete Kiran und blieb vor dem Schreibtisch stehen. „Wie sehen meine weiteren Befehle aus?"
Der Meister ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Nach mehreren Minuten lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und blickte Kiran an. Seine Augen strahlten eine Bosheit aus, die Kiran jedes Mal einen Schauer den Rücken hinunterlaufen ließ.
„Ich bitte dich, die zweite Stufe unserer Untersuchung mit unseren Gefangenen vorzubereiten."
Kiran schluckte schwer bei den Worten. Er wusste, was dies bedeutete. Dennoch nickte er gehorsam.
„Wie Ihr gefehlt", sagte der junge Mann und drehte sich zur Tür.
„Mal sehen, ob wir dieses Mal erfolgreicher sein werden", sagte der Meister und sein schauriges Gelächter begleitete Kiran bis in den Korridor hinaus. Langsam schloss er die Tür und seine Müdigkeit war wie weggespült. Ein Grauen packte ihn und seine schnellen Schritte hallten von den Wänden wider, als Kiran zu seinen Gemächern aufbrach.
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