Der Käfig
Mara erwachte aus einem traumlosen Schlaf. Sie spürte, dass Kuronirokiani noch immer auf ihrem Oberkörper lag. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen. Die Sonne war bereits aufgegangen und ließ den Baum in der Mitte des Raumes in allen möglichen Brauntönen erstrahlen. Kuro war bereits erwacht und blickte sie aus seinen blauen Augen an.
„Guten Morgen", murmelte Mara verschlafen und rieb sich mit ihrer gesunden Hand über die Augen.
„Sagt man das bei euch, wenn man nach dem Schlafen aufgewacht ist?"
Ein Lächeln stahl sich auf Maras Lippen. „So in etwa ja."
„Ihr habt seltsame Bräuche, ihr Menschen", stellte Kuro fest. Mara ging nicht näher auf diese seltsamen Bräuche ein und blickte aus dem Fenster. Der Tag versprach viel Sonnenschein und einen regenlosen Himmel.
„Wollen wir nach dem Frühstück an die frische Luft?", fragte sie Kuro anschließend.
„Du meinst richtig nach draußen? Die Welt hinter den Wänden besuchen?" Mara konnte die Anspannung in Kuros Worten hören.
„Du musst keine Angst haben, Kuro. Ich bin bei dir", versuchte sie ihren kleinen Freund zu beruhigen.
Es entstand ein längeres Schweigen. Kuro blickte sie weiterhin an und Mara vermutete, dass in seinem Kopf die Gedanken herumschwirrten, wie er mit dieser Situation umgehen sollte.
„Du warst sehr lange eingesperrt, oder?", fragte Mara vorsichtig. Zuerst schien es, dass Kuronirokiani über dieses Thema nicht reden wollte, doch dann senkte sich sein Blick und er sagte: „Das stimmt. An meine Zeit in der Freiheit kann ich mich kaum erinnern. Ich kannte nur unseren Wald, bis die Menschen kamen und mich gefangen nahmen."
Mara konnte erneut die Traurigkeit in seiner Stimme hören. Mit ihrer gesunden Hand fuhr sie über den kleinen Körper und versuchte ihm Mut zu spenden.
Die Geste schien Kuro zuversichtlicher zu stimmen. „Dann möchte ich dir glauben. Erzähle mir mehr von deiner Welt. Habt ihr auch so eine starke Verbindung zu der Natur, wie es die Menschen in meinem Heimatland haben? Könnt ihr euch den Elementen bedienen wie sie?"
Der Frau wurde erneut bewusst, dass sie beide in unterschiedlichen Welten lebten. Vorsichtig versuchte sie der Geisterschwinge, ihre Gedanken mitzuteilen. „Diese Art von Menschen wirst du hier leider nicht finden. Die Menschen haben sich vor langer Zeit verändert. Dir ist sicher bekannt, dass es vor über 500 Jahren eine Verschiebung der Welten gab und somit die Geisterwelt, die der Menschen überlappte. Überall auf der Welt haben sich Tore geöffnet, woraufhin die Geister zu uns gekommen sind. Sowohl die guten als auch die bösen Geister."
„Darüber weiß ich Bescheid. Das haben mir meine Artgenossen beigebracht", erklärte Kuro und setzte sich auf ihren Brustkorb auf. Seine Flügel ließ er an seinem Körper angelegt.
„Nach dieser Zeit schwanden die Menschen, die die Kraft der Elemente besaßen. Sie wurden immer weniger. Früher hatte jeder Mensch eine Verbindung zu der Natur, doch diese ging mit den neuen Problemen, die die Verschiebung der Welten mit sich brachte, unter. Immer weniger Menschen wandten sich an die Natur und erfanden dafür andere Mittel, um sich gegen die bösen Geister zur Wehr zu setzen.
Die Stadt, in der ich wohne, ist eine geisterfreie Stadt. Die Menschen haben eine Technologie entwickelt, die Geister abschirmt. Natürlich gibt es Mittel und Wege, diese Barrieren zu überwinden und somit kommt es auch vor, dass sich in dieser Stadt dennoch ein Geist herumtreibt. Die Menschen, die hier wohnen, haben kaum mehr etwas Natürliches in sich. Sie leben von der Technologie, die sie mit ihren eigenen Händen geschaffen haben", versuchte Mara zu erklären.
„Das ist bedauerlich. Deine Welt klingt traurig und trist."
Mara nickte der Geisterschwinge zustimmend zu. „Wir Menschen in dieser Stadt wissen gar nicht, wie das Leben vor den Mauern aussieht."
„Dann lebst auch du in einer Art Käfig?", fragte Kuro und Mara blickte ihn überrascht an. Sie dachte kurz über seine Worte nach. Ihr wurde bewusst, dass sich ihre aktuelle Situation kaum von seiner unterschied. Ihr Käfig war nur etwas größer.
„Ich gebe dir recht. In gewisser Weise sind die Mauern ein Käfig. Du musst wissen, dass nur bestimmte Personen die Stadt verlassen dürfen. Uns Stadtbewohnern wird vermittelt, dass die Welt außerhalb der Mauern wild und gefährlich sei. Natürlich gibt es mehrere Städte wie diese, aber nur Händler und Stadtangestellte dürfen die Mauern verlassen. Als Kind habe ich immer davon geträumt, die Stadt zu verlassen und die Welt zu bereisen."
„Dann lass uns das doch machen." Die Freude in Kuros Worten war nicht zu überhören.
„So einfach ist das leider nicht. Dennoch werde ich versuchen, dich zu deinen Artgenossen zu bringen, sofern du das möchtest."
Kuros Schwanz zuckte. „Das würdest du machen?" Mara nickte zur Bestätigung. Dankbar schleckte Kuro über ihre gesunde Hand.
„Beherrschst du die Kraft der Natur?", wollte er nach einer kurzen Stille wissen.
„Nein, ich beherrsche diese Kraft nicht. Niemand in der Stadt tut das, musst du wissen", begann Mara zu erklären. „Meistens wird ab dem sechsten Lebensjahr klar, ob ein Mensch sich dieser Kraft bedienen kann. Damals, in meinem ersten Schuljahr, gab es ein Mädchen, das sich der Kraft der Luft bedienen konnte. Aus Spaß hat sie unsere Röcke nach oben wehen lassen. Eines Tages kam dieses Mädchen nicht mehr zur Schule. Als wir unseren Lehrer gefragt haben, wo das Mädchen sei, bekamen wir nur ausweichende Antworten. Mittlerweile weiß ich, dass diese Menschen eingesammelt und irgendwohin gebracht werden. Was mit ihnen geschieht, weiß keiner. Am besten ist es, dieses Thema nicht anzusprechen."
„Das ist seltsam. Das klingt, als würde jemand die Kräfte der Natur verschleiern", stellte Kuronirokiani fest.
Mara stimmte ihm zu. „Lass uns nicht mehr über dieses Thema reden. Es ist zu gefährlich."
Stille legte sich über die Anwesenden. Mara senkte ihren Blick und betrachtete Kuro. Sein plüschiger Schwanz war um seinen kleinen Körper gelegt. Kuro bemerkte ihren Blick und blickte die Frau aus seinen blauen Augen fragend an.
„Entschuldigung für das Starren. Ich habe noch nie eine Geisterschwinge gesehen. Du siehst wunderschön aus", gab Mara zu und ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.
Kuros Ohren zuckten. „Danke dir. Meine Artgenossen haben viel schöneres Fell als ich."
„Das kann gut sein", erwiderte Mara. „Aber du bist meine erste Geisterschwinge, die ich sehe."
Vorsichtig erhob sich Mara vom Bett. Kuro stand nun seinerseits auf und sprang auf den Boden. Mit kleinen Schritten trat er an die Wasserschüssel und trank.
„Wieso fliegst du nicht, sondern gleitest durch die Luft? Deine Flügel sind sicherlich zum Fliegen da."
„Leider kann ich nicht fliegen. Ich war gerade dabei, es zu lernen, als mich die Menschen mitnahmen."
Mara verfluchte sich in Gedanken, ein sensibles Thema angesprochen zu haben. Die Geisterschwinge schickte ihr einen beruhigenden Gedanken. „Es ist nicht schlimm. Ich kann das Fliegen jetzt erlernen." Sie stimmte ihrem pelzigen Freund zu und bot ihm ihre Hilfe dabei an.
Es klopfte an der Tür und Chrisi trat herein. Sie brachte den beiden Patienten ihr Frühstück und erklärte, an ihrem unterrichtsfreien Tag, in der Praxis aushelfen zu müssen. Mara hätte ihrer Freundin gern geholfen. Doch solange ihre Rippen nicht einigermaßen geheilt waren, war sie keine große Hilfe. Bevor Chrisi ging, teilte sie Mara mit, dass Doktor Archer sie am heutigen Tag besuchen würde.
Nach dem Frühstück klopfte es erneut an der Türe und der Arzt trat ein.
„Wie geht es dir heute?", begrüßte er Mara und stellte seinen Koffer auf den kleinen Tisch. Die braunhaarige Frau teilte dem Arzt ihren Gesundheitszustand mit. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Kuro sich hinter dem Baum versteckte. Fremde Menschen waren ihm nicht geheuer.
Sichtlich zufrieden mit ihrer Ausführung trat der Arzt an ihr Bett. „Gib mir deine rechte Hand. Ich würde mir gern ein Bild von dieser Verletzung machen."
Mara reichte dem Arzt den Arm. Langsam löste Doktor Archer die Verbände. Zum Vorschein kamen ihre Finger, die dick angeschwollen und bläulich verfärbt waren. Das Blut war mittlerweile getrocknet.
„Deine Hand wurde eingequetscht. Kannst du dich noch daran erinnern, was es war?", fragte er Mara, die ihm daraufhin erklärte, dass sie ihre Hand unter einem großen Stein hervorziehen musste.
„Das erklärt, wieso deine Hand so aussieht. Leider kann ich dir die Hand nur schienen. Einen Handchirurgen zu finden, ist in der heutigen Zeit sehr schwierig."
Mara bedankte sich bei dem Arzt und blickte traurig auf ihre Hand. Doktor Archer verband die Hand frisch und gab ihr ein paar Kräuter. „Die Kräuter helfen dir gegen den Schmerz. Ich werde Ende der Woche nochmal bei dir vorbeischauen."
Der Arzt verabschiedete sich und trat wieder aus dem Zimmer. Kuro kam hinter dem Baum hervor und blickte Mara traurig an. „Keine Angst Kuro. Das wird schon wieder", versuchte sie ihre eigene Betroffenheit herunterzuspielen. „Wie sieht es aus? Wollen wir in den Garten gehen?"
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